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Full text of "Adolf Harnack: Das Wesen des Christentums. Sechzehn Vorlesungen vor Studierenden aller Facultäten im Wintersemester 1899/1900 an der Universität Berlin gehalten von Adolf Harnack, J. C. Hinrichs'sche Buchhandlung (1. Auflage) 1900"

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X)as 

XPefen bes Christentums 


SecfoefyT Dorlefungen 

por Stubierenben aller 5acultäten im IDinterfemejfer 
\ 899/\900 an ber llniperfität Berlin 
gehalten 


pon 





Ceipjig 

3, £, ^tttridjs’fdje BucfjfyattMuns 












üonpori 


X/ie folgenden Dorlefungen ftn6 im »ergangenen 3 Dinter= 
femefter »or einem Ureife »on etma fedjs^unbert Stu6ieren6en 
aller ^acultäten gehalten mor6en. Die freien Dortrage Ejat bjerr 
stud. theol. IDalttjer Der!er ftenographifdi aufgejeidmet un6 mid) 
mit 6er IXmfdjrift überrafdjt: idj fage ihm öafür and? an 6icfer 
Stelle meinen Danf. Sein ^leif l?at es mir ermöglicht, 6ie Dor= 
lefungen in ihrer urfprünglichen ©eftalt ju »eröffentlid^en. ©nige 
Ausnahmen abgerechnet, habe ich nur forrigiert, wo 6er Stil 6er 
ge6rucften Ke6e es »erlangte. Daf 6as gefprodjene JDort einem 
Be6ürfnis entgegengefommen ift, haben mir 6ie £)örer freun 61 ichft 
bejeugt; fo 6arf ich E?°ffen, 6af auch bas gefchriebene feinen tDeg 
fin6en r»ir6. Das fühne Unternehmen aber, in menigen Stun6en 
6as ©»angelium un6 feinen ©ang 6urch 6ie ©efchichte 5U behan6eln, 
fonnte ich a>i e »or mir felbft fo »or 6en £efern nur rechtfertigen, 
toenn 6er Darftellung 6er ©harafter afa6emifd;er Dorlefungen 
gemährt blieb. 

Die Aufgabe ift als eine rein htftortfdje geftellt un6 behanbelt 
mor6en. Das fchlieft 6ie Derpflichtung ein, 6as JDefentlidje un6 
Sleibenbe in 6en ©fcheinungen auch unter fprc6en formen 51t 
erfennen, es h^rausjulieben un6 »erftän6Iich 5U machen. 3rrtümer 
fin6 6abei un»ermei6lid?; aber als „Archäologie" ift alle ©e* 
fchidjte ftumm. — 




Das enangelifche Cfyriftentum befielt in einer ^üüe fird)Itd?er 
©emeinfdiaften unb Sichtungen. 2Xber fobalb fie ft di ernftbaft 
auf bas befinnen, toas ihnen gefdjertft ift unb rooüon fie leben, 
miiffen fie empfinbeti, baf fie im Ctefften einig finb. DTöge es 
biefer Darftellung bcfdneben fein, bas Bemuftfein um biefe (Einig» 
feit im ©eift 5U beftärfen. Der (Erfenntnis unb bem ^rieben mill 
fie bienen unb nid?t bem Streit. 

3m BTai \ 900. 

2Ibolf f^antacf. 


OrrJiB BarlBjung. 


Der große phüofoph bes pofitioismus, 3 of)n Stuart mill, 
ijat einmal gefagt, bie HTenfchheit fönne nicht oft genug baran 
erinnert werben, baß es einft einen Ulann Hamens Sofrates ge= 
geben hat. <£r bat recht; aber wichtiger ift es, bie HTenfchheit 
immer wieber baran 3U erinnern, baß einft ein Ulann Hamens 
3 efus Chriftus in ihrer mitte geftanben hat Don 3 ugenb auf ift 
uns freilich biefe Dliatfache nahe gebracht worben; aber man fann 
Iciber nicht fagen, baß ber öffentliche Unterricht in unferem 3ett= 
alter geeigtiet ift, uns bas 23 tlb 3 efu (Ehtifti aud; nach ber Schuh 
3eit uttb für bas gatt3e Ceben einbrucfsuoH unb als einen unuer* 
äußerlichen 23 efiß 3U erhalten. Unb wenn aud; fein HTenfch, ber 
einmal einen Strahl t>on Seinem Cichte in fich aufgenommen hat, 
je wieber fo werben fann, als habe er nie etwas uon 3httt gehört, 
wenn auch auf bem (Sruube jeber einmal berührten Seele ein <£in* 
bruid 3urüdbleibt — biefe uerworrene (Erinnerung, oft nur eine 
„superstitio“, genügt nicht, um Kraft unb Ceben aus ihr 3U fdjöpfen. 
U)ächft aber bas Derlangen, mehr unb Sichereres uon ihm 3U 
wiffen, unb begehrt (Einer 3ur>erläfftge Kunbe barüber, wer 3 cfus 
Chriftus gewefen fei unb wie feine Hotfchaft wirflich gelautet 
habe, fo jieht er fich alsbalb, wenn er bie ^ageslitteratur befragt, 
uon wiberfpruchsuollen Stimmen umfehwirrt. (Er hört foldje, bie 
ba behaupten, bas urfprünglid|e (Thriftcntum habe bem Hubbhismus 
fehr nahe geftanben, unb es wirb ihm bemgemäß gefagt, baß ftdj 
in ber JDeltflucht unb bem peffimismus bas (Erhabene biefer Heligion 
unb ihre Ciefe offenbare. Unbere oerfiehern ihm bagegen, baß bas 
(Ehriftentum eine optimiftifche Heligion fei unb lebiglich als eine 

^arnaef, tüefert b. (Etjrtftentums. 1 




höhere Entwidlungsftufc bes 3 ubentums auf gefaxt werben trtüffc; 
aud; fie meinen, bamit etwas fetjr Ciefcs ausgefprochen 3 U haben. 
U)icber anbere behaupten umgefehrt, bas 3 übifd)e fei von bent 
(Evangelium abgetljan worben, biefes felbft aber fei unter geheim» 
nisvoll wirfenben griednfhen (EinfTüffen entffanben unb fei als eine 
23Iüte am Baum bes EjeHenismus ju begreifen. Beligionsphilo» 
fophen treten auf unb erflären, bie UTetaphyfit, bic fich aus bem 
(Evangelium entwidelt habe, fei fein eigentlicher Kern unb bie 
(Enthüllung feines ©eheimniffes; aber anbere antworten ihnen, bas 
(Evangelium habe gar nichts mit ber philofopt)ie ju fchaffen, fon- 
'bern fei ber empfinbenben unb leibenben ZHenfd)heit gebracht; bie 
philofophic fei ihm nur aufgebrängt worben. «Enblidh treten bic 
Ullerneucften auf ben plan unb verfid)crn uns, Ueligions», Sitten», 
Philofophiegefchidjte feien überhaupt nur Efülle unb Uufpug; hinter 
ihnen liege 3 U allen feiten bic Ä>irtfchaftsgefchid)te als bas allein 
Briefliche unb Creibenbe; fo fei auch bas (Ehriftentum urfprünglid) 
nichts anberes als eine fo 3 iale Bewegung unb (Op-iftus ein fojialcr 
(Erlöfer, ber (Erlöfer ber fdimadjtenben unteren Klaffen, gewefen. 

(£5 hat etwas Biihrenbes, 3 U fehen, wie jeher mit feinem 
eigenen Stanbpunft unb 3ntereffenfreife fid) in biefem 3efus Chriftus 
wieberfinben ober bod) einen Anteil an ihm gewinnen will — cs 
wieberljolt fid} hier ftets aufs neue bas Sdjaufpiel, welches fchon 
bas sweite 3 ahrbunbcrt im „©nofticismus" bot, unb welches fid) 
als ein Kampf aller benfbaren Biegungen um ben Befig 3efu 
Chrifti barftellt. Sinb uns bod} jüngft nicht etwa nur tEolftoi’s, 
fonbern fogar Biegfhe’s 3 been in ihrer befonberen Dcrwanbt» 
fchaft mit bem «Evangelium vorgeführt worben, unb vielleicht lägt 
fid? felbft barüber Beachtenswerteres fagen als über ben gufammen» 
hang fo mancher „theologifchen" unb „pbilofophifchen" Spcfulation 
mit ber prebigt Ch^ifti. 

Uber alles in allem genommen, ift bod) ber (Einbrud, ben 
mait aus biefen wibcrfprechenben Urteilen gewinnt, ein nieber* 
fchlagcnber: bie Verwirrung fd)eint hoffnungslos. BTem fann man 
es ba verbenfen, wenn er, nach einigen Verfliegen, fid) 3 U orien» 
tieren, bie Sähe aufgiebt? Unb vielleicht fügt er noch hit^u, bag 
im ©runbe bie .frage bod; eine gleichgültige fei. U?as geht uns 
eine ©efhihte, was geht uns eine perfon an, bie vor vernahm 
hunbert 3ahren gelebt hat? Unfere 3beale unb Kräfte müffen 
präfent fein; es ift baroef, es ift ausfthtslos, fic aus alten UTanu» • 



3 


ffripten nuiljfam 5 u eutmideln! Wer fo fpricfjt, Ijat nidjt unrecht 
aber bodj nidjt redjt. Was wir finb unb Ijaben — im Iberen 
5 mn Ijabcn mir aus bcr (Scfdjidjte unb an ber (Sefdjidjte, 
freilid? nur an bcnt, mas eine 5oIgc in itjr gehabt Ijat unb bis 
licute nadjmirlt. Daron aber eine reine «rfenntnis 3 u geminnen, 
tft mdjt nur Sadjc unb Aufgabe bes fjiftorifers, fonbern eines 
jeben, ber ben Heidjtunt unb bie Kräfte bes (Semonnenen f^Ib-- 
ffänbig in fidj aufneljmen mill. Dag aber bas «uangelium EjierEjer 
gehört, unb burdj nidjts anberes erfegt merben fann, Ijaben bie 
ttefften «elfter immer mieber ausgefprodjen. „Klag bie geiftige 
Kultur nur immer fortfdjreiten, ber menfdjlidje (Seift fidj ermeitern, 
w ! c cr roi[I ; «bcr bie fjoljeit unb fittlidje Kultur bes Cljriftentums; 
mte es in ben'«Soangelien [dämmert unb leuchtet, mirb er nidjt 
Hnausfommcn." 3 n biefen Worten Ijat (SoetBje nadj rieten Per= 
fudjen unb in unermüblidjer Krbcit an fid? fclbft bas (Ergebnis 
1 einer jittlidjen unb gefdjidjtlicfjen ©nfidjt jufammengefagt. Spräche 
aud? ber ^eigene Wunfdj in uns nidjt, fo mirb es fidj bodj fdjori 
um bes deugniffcs biefes HTannes mitten lohnen, bem ein ernftes 
Hadjbenfcn 311 mibmen, mas itjm als fo mcrtuoll aufgegangen ift; 
unb menn im (Bcgenfag 3U feinem Belenntnis Ijeute Stimmen lauter 
unb 3ur>erficf;tlidjer ertönen, meldjc rerfünbigen, bie djriftlidje Heli* 
gion habe fidj überlebt, fo foll uns bas eine Kufforberung fein, 
fie, bereu Cotenfdjein man bereits ausftetlcn 3U fönnen glaubt" 
näher fermen ju lernen. 

3 n Wabrljcit aber ift Ijeute biefe Heligion unb bas Bemühen 
um fie lebenbiger als früher. Wir bürfen es unferer <geit 3U 
£obc nadjfagen, bag fie fidj ernftlidj mit ber 5rage nadj bem 
Wcfen unb Wert bes Cljriftentums befdjäftigt, unb bag Ijeute meljr 
Sudjens unb Fragens ift als cor breigig 'iabren. 21udj in bem 
«Taften unb €rperimentiercn, in ben feltfamcn unb abftrufen 2tnt- 
morten, in ben Karifaturen unb bem cfjaotifdjen Durdjeinanber, 
ja felbft in bem fjaffe ift bodj mirftidjes £eben unb ein ernfttjaftes 
Hingen 3U fpüren. Hur follen mir nidjt glauben, bag biefes Hingen 
eremplarifdj ift unb mir bie <2rften finb, bie fidj nadj Kbfdjüttelung. 
bcr autoritatiucn Heligion um eine maljrljaft befreienbe unb eigen* 
müdjfige bemüljen, mobei benn riet Permorrenes unb £jalbma£jres 
auftaüdjen mug. Por <52 3 aljren fdjrieb Carlyle: „ 3 n biefen 3er» 
faljrenen feiten, mo bas religiöfe p'rirtjip nadj feiner Pertreibung 
aus ben meiften Kirdjen entmeber ungefetjen in ben fjersen guter 

1 * 


4 


Hlenfchen einer neuen ©ffenbarung fid) entgegenfefjnt unb entgegen« 
arbeitet ober aber heimatlos, mie eine Seele oi;nc Körper, iEjrc 
irbifche ©rganifation fucfjt — in einer folchen geit fleibct es ftch 
uerfuchs« unb übergangsmeife Vn manche feEjr feltfame formen bes 
Aberglaubens unb bes Fanatismus. Der bötiere (gnttiufiasmus ber 
menfchlichen Hatur ift für eine ,§eit lang ohne einen (Exponenten, 
unb bod; bleibt er unserftörbar, unermüblid) tEjätig unb arbeitet 
blinb in ber großen djaotifdjen (Liefe. So entfteEft eine SeJte nad] 
ber anbent unb eine Kirdje nach ber anbern unb jergetjt mieber 
in eine neue HTetantorphofe." 

K)er unfre geit fennt, ber mirb urteilen, baß biefe iüorte 
lauten, als mären fie beute niebergefdjrieben. Aber in biefen Dor« 
lefungen motten mir uns nicht um bas „religiöfe prinjip" bemühen 
unb feine <£r>olutionen, fonbcrn bie befcheibenere, aber nicht minber 
bringlidjc Frage motten mir 311 beantmorten fuchen: mas ift cEhriften« 
tum? mas ift es gemefen, mas ift es gemorben? IDir hoffen, baß 
aus ber Beantmortung biefer Frage ungcfudjt and] ein ließt auf 
jene umfaffenbere fallen mirb: mas ift Heligion, unb mas fott fie 
uns fein? hjaben mir cs bod; in ißr fcfjließlich nur mit ber 
’diriftlicben 3U tßun; bie anbcren bemcgen uns im Ciefften nid]t 
mehr. 

lüas ift (Ehriftentum? — lebiglich im hißarifrhen Sinn motten 
mir biefe Frage hier 3U beantmorten uerfud)en, b. h- mit ben 
Alitteln ber gefchid)tlid;en JDiffenfdjaft unb mit ber lebenserfahrung, 
bie aus erlebter (Sefcßichte ermorben ift. Damit ift bie apologctifche 
unb bie religionsphilofophifdje Betrachtung ausgefchloffen. (Sc= 
ftattcn Sie mir hierüber einige IDorte. 

Die Apologetif hat in ber Heligionsmiffenfchaft ihren not« 
menbigen plaß, unb es ift eine mürbige unb große Aufgabe, ben 
Hachmeisjbes Hedifcs ber diriftlidjen Heligion 3U führen unb^ilire 
Bebeutung für bas fittliche unb intetteftuette leben ans licht 31t 
ftetten. Aber -biefe Aufgabe barf man nicht mit ber rein gefdjicht« 
liehen Frage nach bem JDefen biefer Heligion uermengen, fonft 
bringt man bie gefchtd)tlid?e Forfdnmg um jeglichen Krebit. Da3u 
fommt, baß mir für bie Apologetif, mie mir fie heute brauchen, 
noch Jein mahrhaft großes HTufter beftßen. (Einige Anfäße 3um 
Befferen abgerechnet, beftnbet jtdj biefe Dis3iplin in einem traurigen 
jjuftanbe: fie ift ftdj nicht flar barüber, j mas fie uerteibigen fott, 






unö #e ift unfichcr in ihren KTitteln. Dasu wirb fie nicht (eiten 
miirbclos unb aufbtinglid? betrieben. 3n ber Meinung, es recht 
gut 3u machen, preift jle bie Heligion an, als märe fie eine Kamfch* 
marc ober eilt Knmerfalheilmittel für aüe ©ebrechen ber ©efeE* 
(djaft. 2t ud] greift fie immer mieber nach allerlei Canb, um bie 
Religion aufjupufeen, unb mährenb fie fid? bemüht, fie als etmas 
fferrliches unb 2Totmenbiges barjuftellen, bringt fte fie um ihren 
€rnft unb bemeift im heften 5aüe nur, baß fie etmas gans 2^i= 
nehmbares, meil Unfchäblidjes fei. Enbtid; fann fie es nicht laffen, 
irgenb ein firdjliches Programm non geftern unter ber ffanb Ijin» 
3U3uneIfmen unb mit 3U „bemeifen"; benn in bem loderen ©efüge 
itjrer ©ebanfen fommt es auf ein Stüd mehr ober tneniger boch 
nid)t an. KMcher Schabe babureb angerichtet tnorben ift unb noch 
immer um fid; frigt, ift unfäglid;! Zle in, bie chriftliche Heligion 
ift etwas £fo! \es, Einfaches unb auf einen punft Bezogenes: 
€miges leben mitten in ber <§eit, in ber Kraft unb nor ben 2 lugen 
(Sottes. Sie ift fein ethifches ober fo3iates 2 trcanum, um alles 
mögliche 311 fonfernieren ober 3U beffern. Schott ber nermunbet fie, 
ber in erfter linic fragt, toas fie für bie Kultur unb ben 5ort= 
fdjritt ber KTenfd^eit geleiftet liat, unb banad)' ihren lüert bc= 
ftimmen miE. ©oethe bat einmal gefagt: „Die HTenfchheit fdjreitet 
immer fort, unb ber Kienfd) bleibt immer berfelbe." 2Tun, auf 
ben 21X e n f d] e n bc3ictjt fid? bie Beligion, auf ben KTenfdjen, mie 
er mitten in allem lüanbet unb ^ortfdjritt ber Dinge fid; gleich 
bleibt. Darum foll bie chriftliche 2 tpoIogetif miffen, baß fie es mit 
ber Religion 31t tljun Ejat in ihrer einfachen 2 Irt unb Kraft. ©e= 
miß, bie Beligiott lebt nicht nur für fid;, fonbern in einer innigen 
(ßemeinfehaft mit aEen Ehätigfeiteü bcs ©elftes unb ebenfo mit 
ben fittlichen unb mirtfchaftlichen guftänben. 2lber fie ift boch 
nicht nur eine 5 unftion ober ein (Exponent berfelben, fonbern ein 
mächtiges IDefen, bas EjemmenÖ ober förbernb, »ermüftenb ober 
befruchtenb eingreift. Sie gilt es sunädjft fennen 3U lernen unb 
ihre «Eigenart 3U beftimmen — einerlei, mic (ich bas betradjtenbe 
3 nbir>ibuum 3U ihr fteEen mag, unb ob es fie in bem eigenen 
leben für mertooE hält ober nicht. 

2 tbcr auch hie religionsphilofophifche Betrachtung im ftrengen 
Sinne bes XDortes fdjließcn mir non biefen Dorlefungen aus. 
lüiirben mir fie t>or fedjäig 3ahren gehalten fyaben, fo mürben mir 
uns bemüht haben, burch Spefulation einen 2 IEgemeinbegriff oon 


6 


Religion 3U finben, unb nad? il?m bie d?riftlid?e 3U beftimmen per* 
jucken» Allein mir finb mit Red?t ffeptifd? gemorben in Be3ug 
auf biefes Perfal?ren* Latet dolus in generalibus! . XPir miffen 
Bleute, baß Ceben fid? nid?t burd? Allgemein begriffe umfpannen läßt, 
unb baß es feinen Religionsbegriff giebt, 3U meld?em ftd? bie mirf* 
licken Religionen einfad? mie bie Spe3ies p.erljalten* 3<* man fann 
fogar fragen: giebt es überhaupt einen gemeinfamert Begriff 
„Religion"? 3 ft bas <5emeinfante pielleid?t nur eine unbeftimmte 
Einlage? Be3eid?net etma bas XPort nur einen leeren freef in 
unferem 3rmern, ben feber anbers ausfüllt unb mancher gar nid?t 
bemerft? 3d? bin nid?t biefer RTeinung, bin pielmel?r übe^eugt, 
baß es l?ier im Ciefften etmas (Semeinfames giebt, mas fid? aus 
ber <§erfpaltung unb ber Dumpfheit im Caufe ber (Sefd?id?te 3m* 
c£inB?eit unb Klarheit emporgerungen l?at* 3 d? bin ber Über3eu= 
gung, baß 2luguftin red?t l?at, menn er fagt: „Du, £?err, l?aft uns 
auf Did? l?in gefd?affen, unb unfer £?er3 ift unruhig, bis es Rut?c 
finbet in Dir*" 2 lber biefes nad?3umeifen unb auf bem XPege 
pfYd?o,logifd?er unb PÖlferpfvd?ologifd?er Xtnterfud?ung bas XPefen 
unb bas Red?t ber Religion bar3uftellen, foll nid?t unfre Aufgabe 
fein* £s bleibt bei bem rein gefd?id?tlid?en Cl?ema: XPas ift d?rift* 
lid?c Religion? 

XPo l?aben mir ben 5 toff 3U fud?^n? Die Rntmort erfd?eint 
einfad? unb 3ugleid? erfd?öpfenb: 3efus (£l?riftus unb fein 
<£pangelium* 2lHein fo gemiß bies nid?t nur ben 2lusgangs= 
punft, fonbern aud? ben l?auptfäd?lid?en für unfere Unter= 

fud?ung bietet, fo menig bürfen mir uns bamit begnügen, lebiglid? 
bas Bilb 3 ^fu <£B?rifti unb bie <ßrunb3Üge feines (£pangeliums bar= 
3uftellen* XPir bürfen es besl?alb nid?t, meil jebe große, mirffame 
perfönlid?feit einen Ceil il?res XPefens erft in benen offenbart, auf 
bie fie mirft* 3<* man ^ ar f fexgon, je gemaltiger eine perfönlid?= 
feit ift unb je mel?r fie in bas innere Ceben anberer eingreift, um 
fo meniger läßt fid? bie Cotalität il?res XPefens nur an il?ren eigenen 
XPorten unb ®?aten erfennen* XTCan muß ben Reffer unb bie XPir= 
fungen ins Uuge faffen, bie fie in benen gefunben l?at, beren frl?rer 
unb b?err fie gemorben ift* Deshalb ift es unmöglid?, eine polb 
ftänbige Untmort auf bie frage: mas ift d?riftlid?? 3U geminnen, 
menn man fid? lebiglid? auf bie prebigt 3efu <£l?rifti befd?ränft* 
IPir müffen bie erfte (ßeneration feiner 3 ünger — bie, bie mit 







i 


ihm gegeffen unb getrunfen fyaben — hiu3unehmcn unb von ihnen 
hören, was fie an ihm erlebt haken, 

Kber auch bamit ift unfer 5 toff noch nicht erfchöpfi: wenn es 
fich in bem Cfyriftentum um eine (Sröße hanbelt, beren (Seltung 
nicht an eine beftimmte (Epoche gefnüpft mar, wenn in ihm unb 
burch baffelbe nicht e i n mal, fonbern fort unb fjort Kräfte ent* 
bunben morben finb, fo müffen auch aße Späteren X}ervorbring* 
ungen feines (Seiftes mit fyin3ugenommen merben, leicht um eine 
„Cehre" hanbelt es ftdj ja, bie in einförmiger XDieberhoIung über* 
liefert ober mißfürlich entftellt morben ift, fonbern um ein Ceben, 
bas, immer aufs neue ent3Ünbet, nun mit eigener 5Iamme brennt 
KPir bürfen auch hi^ufügen, baß dfyriftus felbft unb bie KpofteB 
bavon über3eugt maren, baß bie Heligion, bie B^ier gepftan3t mar, 
in gufunft noch (Srößercs erleben unb Cieferes flauen merbe als 
in ber <§eit ihrer Stiftung: fic vertrauten bem (Seifte, baß er von 
einer Klarheit 3ur anberen führen unb B^öB^ere Kräfte entmideln 
merbe, Xüie mir eine pftan3e nur bann vollftänbig fennen lernen, 
wenn mir nicht nur ihre Wmc^el unb ihren Stamm, fonbern auch 
ihre Hinbe, . ihre Kfte unb Blüten betrachten, fo fönnen mir auch 
bie chriftliche Heligion nur auf (Srunb einer voIBftänbigen 3 nbuftion, 
bie fich über ihre gefamte (Sefchichte erftreden muß, recht mürbigen, 
(Semiß, fie hat eine flaffifche <Epo die erlebt, unb noch mehr, fic 
hatte einen Stifter, ber bas mar, mas er lehrte — in ihn fich 3U 
vertiefen, bleibt bie Bjauptfache —; aber auf ihn fich 3 U befdjränfen, 
hieße ben Kugenpunft für feine Bebeutung 3U niebrig nehmen, 
Selbftänbiges religiöfes Ceben moßte er ent3Ünben, unb hat cs 
ent3Ünbet; ja bas ift, mie mir fehen merben, feine eigentliche (Sröße, 
baß er bie KTenfchen 3U (Sott geführt hat, auf baß fie nun ihr 
eigenes Ceben mit ihm Beben — mie fönnen mir ba von ber (Sc* 
fchidjte bes (Evangeliums fchmeigen, menn mir fein XDefen fennen 
lernen moBIen? 

Klan fann einmenben, baß bie fo gefteßte Kufgabe 3U fchmierig 
merbe, unb baß ihre Cöfung von vielen Fehlern unb 3 **tümern 
bebroht fei. Das foBB nicht geleugnet merben; aber um ber Schmierig* 
feiten mißen bie Kufgabe felbft einfacher, b. h* in biefem 5aße unrichtig, 
fteßen, märe eine fehr verfehrte Kusfuftft, 5erner aber, mögen auch 
bie Schmierigfeiten machfen, bie größer gefteßte Kufgabc erBeichtert 
anbererfeits bie Krbeit; benn fie hilft uns, bas IDcf entliehe in 
ber (Erfcheinung 3U faffen unb Kern unb Schate 3U unterfcheiben. 


8 


^ 3efus Cfiriftus unb feine erften 3üngcr haben ebenfo in ihrer 
Seit geftauben, mie mir in ber unfrigen ftehen, b. b* fte haben 
gefüfjlt, erfannt, geurteilt unb gefämpft in bem fjorijont unb 
Nahmen ihres Dolfes unb (eines bamaligen <§uftanbes. Sie mären 
nicht ZHenfchen non 5 lei(<h unb Blut, fonbern gefpcnftifdje JPefen 
gemefen, menn es anbers märe, freilich, (iebjchn 3ahrhunbertc 
hiuburch hat man gemeint, unb niete unter uns meinen es noch, 
ber „Zttenfchhcit" 3 ?fu Ch r 'fti, melche auch fte lehren, (ei bereits 
genügt, menn man annehme, er habe einen menfcjh liehen £cib unb 
eine menfdjliche Seele gehabt. ZIls ob es (o etmas obne inbi« 
nibuelle Beftimmtfieit gebe! <£in ZTTenfdi fein h«fjt/erfHich, eine 
fo unb (o bestimmte unb bamit begrenäte unb befch/änfte geiftige 
Anlage befi^en, unb^meitens, mit biefer Einlage in einem micberum 
begrensten unb befcfjränften gefdpchtlichen gufammenhang (tchen. 
darüber hinaus giebt es feine „ZTTenfchen". fjieraus folgt aber 
unmittelbar, baff nichts, fchtechterbings nichts, non einem ZTtenfchen 
gebacht, gefprochen unb gethan merben fann ohne bie. Koef ftsienten 
(einer eigentümlichen Einlage unb §eit. ZtTag auch ein cin3etnes 
ZDort mahrhaft flafftfd) unb für alle feiten gültig erfdjeinen — 
fchon in ber Sprache liegt eine (ehr fühlbare Befchränfung. Hoch 
nicl meniger aber nermag (ich bie Cotalität einer geiftigen perfön« 
liebfeit (o 3ur T>arftcltung 31t bringen, baff man bie Schranfen, unb 
mit ihnen bas 5 rembartige ober bas Konnentionelle, nicht empfinbet, 
unb biefe <£mpfinbung mu§ (ich notmenbig (teigern, je mcitcr ber 
Betradjtcnbc seitlich entfernt fleht. 

5ür ben ffiftorifer, ber bas Züertnotle unb Bleibenbc feftjuftellcn 
hat unb bas ift (eine hach fte Zlufgabe — ergiebt (ich aus biefen 
Derhältniffen bie notmenbige 5orbcrung, (ich nicht an lüorte 3U 
flammern, fonbern bas Züefentliche 3U ermitteln. X>er „gan3e" 
Chriftus, bas „ganje" <£pangelium, menn man unter biefer Deoifc 
bas äußere Bilb in allen (einen «gügen Perfteht unb 3ur Ztach« 
achtung aufftellt, finb ebenfo (djlimme unb täufchenbe Schlagmorte 
mic ber „ganse" Cutter u. a. Schlimm (mb (ie, meil fie fnechten, 
unb täufchenb finb fte, meil (elbft bie, bie fie ausgeben, nicht baran 
benfen, mit ihnen <£rnft 3U machen, unb perfuchten (ie es, fie per« 
möchten es nicht. Sie permögen nicht, meil fie nicht aufhören 
fönnen als Kinbcr ihrer <§eit 3U empfinben, 3U erfennen unb '3U 
urteilen» 

<£s ftnb hier nur 3mei ZTtöglichfciten: entmeber bas €uan« 







9 


geltunt ift in allen Stucfen ibcntifch mit feiner crften 5 ornt: bann 
ift es mit ber <§cit gekommen unb mit ihr gegangen; ober aber 
cs enthält immer (Eültiges in gefchichtlich mechfclnben formen, Das 
Ie^tcre ift bas Hiesige* Die Kirchengefchichtc 3eigt bereits in ihren 
Anfängen, baß bas „Urchriftentum" untergeben mußte, bamit bas 
„Cbriftcntum" bliebe; fo ift auch fpäter nod? eine HTetamorphofe 
auf bie anbere gefolgt* Don Anfang an galt es Formeln ab3u« 
ftreifen, Hoffnungen ju korrigieren unb (Empftnbungsmeifen 3U 
änbern, unb biefer pro3eß kommt niemals 3ur Hube, (Eben babureb 
aber, baß mir, mic ben Einfang, fo ben gan3en Derlauf über« 
febauen, verftärken mir unfereh HTaßftab für bas XDefentlicbe unb 
mabrbaft IDertvollc. 

XDir verftärken ibn — aber mir brauchen ibn nicht erft ber 
(Scfchichte ber 5olge3cit 3U entnehmen. Die Sache felbft giebt ihn 
an bie Hanb. XDir merben feben, baß bas (Evangelium im (Er>an« 
gelium etwas fo (Einfaches unb kraftvoll 3U uns Sprechcnbes ift, 
ba§ man es nicht leicht verfemen kann. (Es finb nicht meitfchich? 
tige, mefhobifche Knmeifungen unb breite (Einleitungen nötia, um 
ben IDeg 3U ihm 3U finben. XDer einen frifchen Blick für bas 
Cebenbige unb mahre <Empfinbung für bas mirklich < 5 roßc beftfet, 
ber muß es feben unb von ben 3eitgefchi<htlichen Hüllen unter« 
feheiben können. Hnb mag es auch an manchen ein3elnen punkten 
nicht gan3 leidet fein, Bleibenbes unb Dcrgängliches, prin3ipielles 
unb bloß Hiftorifches 311 urtterfcheiben — es foll uns nicht fo gehen 
mic jenem Kinbe, melches, nach bent Kerne fuchenb, einen ZDur^el« 
ftock fo lange entblätterte, bis es nichts mehr in ber Hanb hatte 
unb einfehen mußte, baß eben bie Blätter ber Kern felbft maren. 
Kuch Öie (Sefchichtc ber chriftlichen Heligion kennt folche Be« 
mühungen; aber fie verfchminben gegenüber ben anberen, burch 
melche uns eingerebet merben foütc, hier gebe es meber Kern noch 
Schale, meber IDachstum noch Kbfterben, fonbern alles fei gleich 
mcrtvoll unb alles bleibenb. 

XDir merben bemnad? in biefen Dorlefungen erjilich non bem 
(Evangelium 3 cfu Chrifti hanbeln, unb biefe Aufgabe mirb uns am 
längften befchäftigen. IDir merben fobann 3eigen, melchen (Einbruck 
er felbft unb fein (Evangelium auf bie> erfte (Generation feiner 
3üngcr gemacht hat. IDir merben cnblich bie Hauptmanblungen 
bes Chrifttichcn in ber (Gefchid]te verfolgen unb bie großen Cypen 



10 


3u erBemten fuchen. Das (Semeinfame in allen biefen (Erfchei* 
nungen, BontroEiert an bem (Evangelium, unb wieberunt bie ©runb* 
3Üge bes (Evangeliums, BontroEiert an ber ©efd]id]te, werben uns, 
fo bürfen wir hoffen, bem Kerne ber Sache nahe bringen, 3 u 
bem Halmen einer Dorlefung von wenig Sluttben Bann freilich 
überaE nur bas ZDid]tigfte B]ervorgeB]oben werben; aber vieEeid]t 
ift es nicht ohne ©ewinn, einmal nur bie ftarBen <§üge unb bie 
£]öB]epunBte bes Heliefs ins Kuge 3U faffen unb, unter gurücBfteEung 
aEes Sefunbären, ben gewaltigen Stoff in einer Kon3entration 3U 
betrachten, Selbft bavon werben wir abfehen unb abfehen biirfen, 
einleitenb uns über bas 3ubentum unb feine äußere unb innere 
Cage 311 verbreiten unb über bie gried]ifd]*römifd]e XDelt uns aus* 
3ufprecB)en. Selbftverftänblid] werben wir nie unfern BlicB ihnen 
gegenüber verfd]liefen bürfen — fte müffen uns vielmehr immer 
im Sinne fein.—, aber weitsichtige Darlegungen finb hier nicht 
nötig. Die prebigt 3 efu u>ir& uns auf wenigen, aber großen 
Stufen fofort in eine Z}öB]e führen, auf welcher ihr <§ufammen* 
hang mit bem 3 ubentum nur noch als ein locBerer erfcheint, unb 
auf ber überhaupt bie meiften 5 äben, bie in bie „< 5 eitgefd]id]te" 3urücB* 
führen, unbebeutenb werben. Diefe Behauptung mag 3 huen para* 
bo£ erfcheinen; benn gerabe- heute wieber wirb uns mit ber ZHiene, 
als hunble es fid] um eine neue (EntbecBung, einbringlid] verfid]ert, 
man Bönne bie prebigt 3 efu nicht verftehen, ja überhaupt nicht 
richtig wiebergeben, wenn man fie nicht im <§ufammenB]ang ber 
bamaligen jübifdjen CeBjren betrachte unb biefe aEcn 3uvor auf* 
roEe. Kn biefer Behauptung ift feB]r viel ZDaB]res, unb fie ift bod], 
wie fid] 3eigen wirb, unrichtig. DoEenbs falfd] aber wirb fie, 
wenn fie fid] 3U ber blenbenben t£B]efe fteigert, bas (Evangelium fei 
nur als bie Beligion einer ver3weifelten DolBsgruppe begreiflich; 
es fei bie lefete Knftrengung einer becabcnten geit, bie nad] bem 
notgeb^ungenen Bericht auf biefe (Erbe nun ben b]immel 3U ftürmen 
verfud]t unb bort Bürgerrecht forbert — eine Beligion bes ZHifera* 
bilismus! ZTur merBwürbig, baßlbie wirBlid] Bezweifelten fie eben 
nicht aufnaB]men, fonbern beBämpften; merBwürbig, ?baß bie 5 üB] s 
renben, foweit wir fie Bennen, waB]rlid] nicht bie <§üge fd]rväd]Iid]er 
Defperation tragen; am merBwürbigften, ;-baß fie auf biefe (Erbe 
unb ihre ©iiter 3war vernichten, aber in bjeiligBeit unb Ciebe einen 
Bruberbunb grünben, ber bem großen (Elenb ber ZHenfchbeit ben 
Krieg erBlärt. So oft id] bie (Evangelien wieber lefe unb über* 







11 


fchlage, um fo mehr treten mir bic 3eitgefchichtlichen Spannungen, 
in benen bas (Evangelium geftanben B^at unb aus betten es her» 
vorgetreten ift, surücB, 3 <S ^roeifTe nicht, bajj fdjon ber Stifter ben 
Klenfchen ins Kuge gefaxt B^qt, in tvelcher äußeren Cage er fid? 
auch immer befinben mochte^— ben Klenfchen, ber im (ßruttbe 
ftets berfelbe bleibt, mag er ftch auf einer auf» ober abfteigenben 
finie betvegen, mag er im Heichtum fifcen ober in Krmut, mag er 
ftarB ober fchtvach fein im (Seifte* Das ift bie Souveränetät bes 
(Evangeliums, ba§ es textlich alle biefe (Scgenfä^e unter ftch tvei§ 
unb über ihnen fteBft; benn es fucht in jebem ben punBt auf, ber 
von allen biefett Spannungen nicht betroffen tvirb. 23 ei paulus ift 
bas ganj Blar — tvie ein König befyerrfd)t er innerlich bie ir» 
bifchen Dinge unb Derhältniffe unb tvill fie fo beherrfcht fehen, 
3ene CB>efe von bem becabenten Zeitalter unb ber Heligiott ber 
(Elenben mag geeignet fein, in einen äußeren Porfyof einjuführen; 
fie mag auch richtig auf urfprünglich Äormgebenbes htettveifen; 
menn fie fid) aber als Schlüffel für bas Derftänbnis biefer Heli» 
gion fclbft anbietet, ift fie ab3ulehnen. Sie ift übrigens mit biefern 
Knfpruch nur bie Kmvcnbung einer allgemeinen gefchichtlichen 
Klobe, bie freilich länger in ber (Sefdjichtfchreibung B^errfdtcn tvirb 
als anbere Kloben, tveil mit ihren Klitteln in ber Chat manches 
Qnnfle erhellt rverben Bann* Uber an ben Kern ber Sache reichen 
ihre 3ünger nicht heran, im ftillcn mutmaßenb, baß es einen 
folchen Kern überhaupt nicht giebt 

§um Schluß laffen Sie mich uoch einen nichtigen punBt But*3 
berühren: abfolute Urteile vermögen tvir in ber ( 5 efchichte nicht 
3U fällen, 'Dies ift eine (Einficht, bie uns heute — ich fage mit 
Kbficht: h^ute — beutlich unb unumftößlich ift Die ( 5 cfchid)te 
Bann nur 3eigen, tvie es getvefen ift, unb auch, u>o tvir bas ( 5 c» 
fchehenc burchleuchten, 3ufammenfaffen unb beurteilen, bürfen tvir 
uns nicht anmafen, abfolute We rturteile als (Ergebniffe reiner 
.gefSichtlichen Betrachtung abftrahieren 3U Bönnen, Solche fd^afft 
immer nur bie (Empfinbung unb ber XDille; fie finb eine fubjeBtivc 
Chat Die Dertvechslung, als Bönnte bie (ErBenntnis fie er3eugen, 
ftammt aus jener langen, langen (Epoche, in ber man vom XDiffcn 
unb ber IDiffenfchaft alles errvartete, in ber man glaubte, man 
Bönne biefe fo ausbehnen, ba§ fie alle Bebürfniffe bes (Sciftcs unb 
b}er3ens umfpannt unb befriebigt Das vermag fie nicht gentner» 


12 


fcfymer fällt bicfe (Einftdtf in manchen Sturiben Reißer Arbeit auf 
unfere Seele, unb bocf? — tote uersmeifelt ftiinbe es um bie 
ZTicnfcfyfyeit, wenn ber l}öB?ere Triebe, naefj bem fic verlangt, unb 
bie Klgrfycit, Sicfyer^eit unb Kraft, um bie fie ringt, abhängig 
mären t>on bem 2 Ttaße bes XDiffens unb ber firfenntnis! 









BraBtfe BörlEjitttg. 


H)ir hanbeht im erften Bbfd)nitte unferer Darlegung r>oit 5er 
Dertünbigung 3 efu nach ihren (Srunbsügen. <§u biefcn 
(Srunbsügen gehört aud) bie form, rote er bas uerfünbet hat, roas 
er lehrte. JDir roerben fehen, ein roie roefentlicher Ceil [einer (Eigen* 
art fyier 31t Cage getreten ift; benn „er prebigte gcroaltig, nicht 
roie bie Schriftgelehrten unb pharifäer". Dod) beuor id} auf bicfe 
(Srunbjügc eingehe, Ijaltc id} mich für »erpflidjtet, Sie in furjcn 
XDorten über bie Quellen 3U orientieren. 

Unferc QueEen für bie Derfünbigung 3 efn [tnb — einige 
wichtige Bad)rid)ten bei betn Bpoftel paulus abgerechnet — bie 
brei erften (Evangelien. 2lEes übrige, roas roir unabhängig uon 
biefen «Euangelien über bie <ßefd)id)te unb prebigt 3cfu roiffen, 
läßt fid; bequem auf eine Quartfeite fchreiben, fo gering an Um* 
fang ift cs. 3nfonberhcit barf bas inerte (Evangelium, welches 
nicht von bem Upoftel 3ohanttes herrührt unb herrühren roiü, als 
eine gefd)id)tlid)c QueEe im gemeinen Sinn bes tüortes nicht be= 
nu^t roerben. Der Derfaffer hat mit fouveräner 5 reiheit geroaltet, 
Begebenheiten umgefteEt unb in ein frembes £id)t gerücft, bie 
Beben felbftthätig fomponiert unb hohe (ßebanfen burch erbachte 
Situationen iEuftriert. Daher barf fein Wert, obgleich ihm eine 
roirfliche, roenn aud) fdjroer erfennbare Überlieferung nicht gan, 
fehlt, als QueEe für bie <Sefd)id)te 3 efu faunt irgenbroo itt 2 ln= 
fprud) genommen roerben; nur roeuiges ift ihm, unb mit Behüt* 
famfeit, 31t entnehmen. Dagegen ift es eine QueEe erften Banges 
für bie Beantwortung ber 5ragc, welche lebenbige Bnfdjauungen ber 



— 14 


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furjen «gpocfc, btc tot« als bie Paläontologie be 3 eidmen fönnen 
,f V w em L &Cr bcmf<m5roerte fc" Fügungen bcr <Sefd)idL baß mir 
Pieb fx'l e aUS &ie ^ er r ^ eit Mifeen, menn aud] bie Raffung unb 

fk in Öm < te " u « b Bitten «uangelbm nor 

tegt, fefunbar . ftnb. Der ein 3 igartige Cbarafter ber iangelien 
J 5l Ut ® *?" bcr Kr,hf aßgemein anerfannt. Por allem beben 
Lf* ÖUrd? b ' e ^ rt ber €r 3 䥫ng uon aller nacbfolgenben Scbrift- 
telt re, ab D.efe litterarifcbe (Sattung, teils mdi XnZaie Z 
jubien Celjrer.i&sätyungen, teils burd? bas fatecbetifcbe Sc 

»»Ätrr -jsrH 

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ffff Sprafc iMfam „„ „ ie d „ ££Ir 

>VL tVt'V,» «*0 S« 

6 Wra'»e ober ;iim„;,i[cf,c inrikfitterfragen lagt. j> a j 





15 


tt>ir bier in ber bjauptfachc primäre Überlieferung r>or uns haben, 
ift unucrfcnnbar. 

2Die feft ber^orm nach biefe Überlieferung mar, bas bezeugt uns 
bas britte «Eoangclium. <£s ift, mahrfcheinlich in ber <§cit Domitian’s, 
uon einem (Sricchcn gefchrieben, unb in bem 3meiten Ceite feines 
IPerJes, ber Kpoftelgefchichte, — übrigens fdjon in ber Porrebe jum 
erftcn — bemeift er uns, bag ihm bie 23 ücherfpradie feines Dolfes 
ucrtraut mar, unb er ein uortrefflicher 5 tilift gcmefen ift. Kber in 
ber euangelifchen «Stählung hat er nicht gemagt, ben ihm überlieferten 
t^YPns 3 U »crlaffen: er crjählt in ber Spradjc, ber Sagoerbinbuug, 
bem Kolorit, ja in nielcm Detail genau fo mie ÜTarcus unb 
ITTafthäus; nur bie gröbften, bem gebilbcten (Sefchmad anftögigen 
IDenbungcn unb tüorte hat er mit fchonenber bfanb forrigicrt. 
Kber noch etmas ift uns in feinem Euangelium bemerfensmert: er 
rcr)ichert im (Eingang, bag er „allem genau" nachgegangen fei 
unb oiele Darfteltungen eingefehen habe, prüfen mir ihn aber 
auf feine Quellen, fo ftnben mir, baß er fidj hauptfäd)lich an bas 
ÜTarcuseoangelium unb an eine Quelle, bie mir auch im K!atthäus= 
cuangelium mieber ftnben, gehalten hat. Diefe beiben Schriften 
fdjicnen ihm, bem refpeftablen <Sefchid)tfchreiber, als bie uorjitg- 
lichften in ber ÜTenge ber übrigen. Das bietet eine gute (Scmähr 
für fie. Der Kfiftorifer hat biefe Überlieferung burd) feine anbere 
5U erfegen für möglid) ober für nötig befunben. 

Knb noch eines — biefe Überlieferung ift, abgefefjen non ber 
£cibensgefd)ichtc, nabcju ausfchlieglidj galiläifd). JPenn biefer 
gcographifche bjorijont nicht mirflid) ber behcrrfchenbe in ber < 5 e- 
fcbicbte ber öffentlichen IDirffamfeit 3efu gemefen märe, hätte bie 
Überlieferung nicht fo berichten fönnen; benn jebe ftilifierte <Se» 
fdiichtserjählung hätte ihn hauptfächlid) in 3erufalem thätig fein 
taffen. So hat aud] bas oiertc (Euangelium erzählt. Dag unfre 
brei crften «Euangelien oon 3erufa(ent faft gan3 abfehen, ermedt 
ein gutes Dorurteil für fie. 

KHerbings, gemeffen mit bem Ülagftab ber „Übereinftimmung, 
3 nfpiration unb Dollftänbigfeit", laffen biefe Schriften fefjr uiel 3U 
münfchen übrig, unb auch nach einem mcnfchlid)eren Klagftab 
beurteilt, leiben fie an nicht menigen KnpoEfommenheiten. §mar 
grobe «Eintragungen aus einer fpäteren Seit finben fid} nicht — 
cs mirb immer benfmürbig bleiben, bag miebcrum nur bas uierte 
€t>angelium ©riechen nach 3efum fragen lägt —, aber hin unb 





16 


her fpiegcln fict? hoch aucfy in ihnen bie Derbältniffe ber Urgcmehabe 
unb bic Erfahrungen, bie fie in fpäterer <§eit gemacht hat. Dod] 
ift man heute fchneller mit folchen Ausbeutungen bei ber fjanb als 
nötig ift. ferner hat Überjeugung, baß fich in ber (Sefd^ichte 
3efu bie altteftamentlichc U)eisfagung erfüllt habe, trübenb auf bic 
Überlieferung gewirkt. Enblich erfcheint bas wunberbare Element 
in manchen Erjählungen offenbar gefteigert. Dagegen hat tfcfy ^ie 
Behauptung von Strauß, bie Evangelien enthielten fehr viel 
„UTvthifches", nicht bewahrheitet, felbft weijn man ben fehr unbe* 
ftimmten unb fehlerhaften Begriff bes UTythifchcn, ben Strauß in 
Anwcnbung bringt, gelten läßt. 5 a ft nur in ber Kinbheitsgefchid)te, 
unb auch ba nur fpärlich, läßt es fich nachweifen. Alle biefe Crü* 
bungen reichen nicht bis in bas 3^erfte ber Berichte hinein; nicht 
wenige von ihnen korrigieren fich für ben Betrad^tenben leicht, 
teils burch Dergleidjung ber Evangelien üntereinanber, teils burch 
bas gefunbe, an gefchichtlichem Stubium gereifte -Urteil. 

Aber bas XDunberbare, alle biefe XDunberberichte! Bicht nur 
Strauß, fonbern auch viele anbere haben fich burch fie f° abfchrecfen 
laffen, baß fie ihretwegen, bie (Slaubwürbigkeit ber Evangelien runb 
verneint haben. XBieberum ift es ein großer 5ortfchritt, ben bie 
gefchichtlid^e XDiffenfchaft im leßten Ulenfchenalter gemacht hat, baß 
fie jene Er3ählungen verftänbnisvoller unb wohlmoIIenbeV 3U beur* 
teilen gelernt hat unb bah<?r auch Xüunberbericfyte als gefchichtlichc 
Quellen 3U würbigen unb 3U verwerten vermag. 3 d? bin es 3 h n en 
unb ber Sache fchulbig, bie Stellung, welche bie gefchichtliche 
XBiffenfchaft heute 3U jenen Berichten einnimmt, fur3 3U properen. 

Erftlich, wir wiffen, baß bie Evangelien aus einer <§eit 
flammen, in welcher lüunber, man barf jagen, faft etwas Alltäg* 
lid^es waren. Ulan fühlte unb fah fich von lüunbern umgeben — 
keineswegs nur in ber Sphäre ber Beligion. XDir finb hente, ab* 
gefehen von einigen Spiritiften, gewohnt, bie XBunberfrage aus* 
fchließlich mit ber Heligionsfrage in Be3iehung 3U feßen. 3a 
jener «feit war es anbers. Der Quellen, aus benen XDunber 
fprubelten, gab es viele. 3*-'9enb eine (Sottheit würbe allerbings 
wohl bei jebem als wirkfam vermutet — ber (Sott thut bas 
Ulirakel —; aber nicht 3U jebem (Sott ftanb man in einem reli* 
giöfen Derhältnis. Den ftrengen Begriff ferner, ben wir mit bem 
IDorte XDunber verbinben, kannte man bamals noch nicht; erft mit 
ber Erkenntnis von Haturgefeßen unb ihrer (Seltung hat er fich 




eingeftellt. 23is baliin gab es feine ftcfjere «Einfidjt in bas, mas 
möglicf) unb unmöglich, mas Kegel unb mas 31usnaf)tne fei. iüo 
barüber aber Unflarljeit fjerrfdjt, best», mo biefe 5 rage überhaupt 
noef; nid)t fdjarf geftcllt mirb, ba giebt cs feine iüunber im ftrengen 
Sinn bes iüorts. (Eine Durchbrechung bes Katurjufammenbangs 
fatnt non niemanbent empfunben merben, ber noch nicht meiß, mas 
Katursufammenfyang ift. So fonnten bie KTirafel für jene Seit 
gar nid)t bie 23ebcutung fjaben, bie fie für uns Ijätten, menn es 
tr>c(cf)e gäbe. 5ür fie maren alle Iüunber eigentlid) nur außer» 
orbentlicße (Ereigniffe, unb bilbeten fte aud) eine lüelt für fid), fo 
ftanb es eben feft, baß biefe anberc lüelt an un 3 äf;ligen Stellen in 
bie unfrige gebcimnisooll eingreift. Kid)t nur ©ötterboten, fonbern 
audi Klagier unb £f;arlatane beljcrrfcßen einen Ceil ber munber* 
baren Kräfte. iüelcße 23ebeutung „lüunbertbaten" fyaben, mar 
bafjer eine Kontroucrfe, bie nie 3 ur Kufe fam: halb mertetc ntan 
fie feEjr f)od) unb uerfnüpfte fie auch mit bern Kern ber Keligion, 
halb fprad) man geringfdjäßig uon if;nen. 

Streitens, mir miffett jeßt, baß non Iieroorragenben perfoitcn 
Iüunber berichtet morben fmb nid)t erft lange nad) ißrem ©obe, 
aud) nid)t erft nad) mehreren 3 af;ren, fonbern fofort, oft feßon am 
näcßften Cagc. 23crid)tc lebiglid) besljalb als gans unbrauchbar ju 
uermerfen ober in eine fpätere Seit 311 rüden, meil fte aud) iüunber* 
er 3 äf)tungen enthalten, entfpringt einem üorurteil. 

Drittens, mir finb ber uncrfd)üttcrlid)en Übcrscugung, baß, 
mas in Kaum unb Seit gefdjiefjt, bcu allgemeinen ©efeßen ber 
Kcmegung unterliegt, baß es alfo in biefem Sinn, b. f;. als Durd)> 
bredjung bes Katui^ufammenßangs, feine iüunber geben ^fann. 
über mir erfennen aud), baß ber religiöfc Kicnfd) — menn ifjn 
mirflid; bie Kcligion burd)bringt unb er nid)t nur an bie Keligion 
anberer glaubt —, beffen gemiß ift, baß er nid)t eingefd)toffen ift 
in einen blinben unb brutalen Katurlauf, fonbern baß biefer Katur* 
lauf fjöfjeren Sieden bient, be 3 m. baß man if)m burd) eine innere, 
göttliche Kraft fo 5 U begegnen »erntag, baß „alles 3 unt Keften 
bienen muß". Dicfc (Erfahrung — id) möchte fie in bas iüort 
3 ufammenfaffen: mir fonnen frei merben uon ber Kiad)t unb uom 
Dienft bes uergänglidjen lüefens — mirb an ben cin 3 elnen (Erleb* 
niffen immer mieber mie citt iüunber empfunben merben; fie ift 
uon jeber I)öt)eren Keligion unabtrennlid): biefe mürbe jufammen* 
ftürjen, menn fie fte aufgäbe. 3 cnc (Erfahrung gilt aber ebettfo 

ifarncicF, tüefen b. Ctjrijientums. 2 




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für bas £eben bes einäcinen rote für ben großen (Sang her tflenfdj« 
hcitsgefchichte. IDic ftreng unb flar muß aber, bann bas DenJen 
eines religiöfen ZTTenfchen fein, roenn er troßbem an ber (Erfenntnis 
ber Unoerbrüchlichfcit bcs raunt3eitlichen (Sefd]ebcns feftßält! IDer 
fann fich rounbern, baß felbft boße (Seiftet bie (Sebiete nicht rein . 
511 fdjeiben oer mögen? Unb ba roir alle in crfter £inic nicht 
in Begriffen,' fonbern in Knfchauungen leben unb iit einer 3 ilber= 
fpracßc — roie läßt es fich. oermeiben, baß roir bas (Söttlidie unb 
bas, roas 3ur Freiheit führt, auffaffen als eine mächtige Kraft, bie 
in bcn Baturäufammenbang cingreift, ihn burchbricht ober aufbebt? 
Diefe Dorfteilung, obgleich fie nur ber phantafie angebört unb bilb= 
id) ift, roirb, fo fcbeint es, bleiben, folange cs Beligiort giebt. 

Diertens enblid), ber Batur3ufammenhaitg ift unr>crbrüd]ltch; 

/ aber bie Kräfte, bie in ihm tbätig finb unb mit anberen Kräften 
in IDechfelroirfung fteben, fennen roir längft noch nicht alle. IDir 
fennctt noch nicht einmal bie materiellen Kräfte lücfenlos unb ben 
Spielraum ihrer IDir lungert; roir roiffen aber nöd] uicl weniger 
uon ben pfrdiifchen Kräften. IDir fehen, baß ein fefter IDille unb 
ein überzeugter (Staube einroirfen auch auf bas leibliche £ebett unb 
(Erfcheinungett fjeruorrufen, öic uns u>ie IDunber anmuten. IDer 
hat hier bisher bcn Bereich bes Utöglidtcu unb IDirflidjcn ftdjer 
abgemeffen? Biemanb. IDer fantt fagcn, wie, weit bie (£inroir= 
fungen ber Seele auf bie Seele unb ber Seele auf ben Körper 
reichen? Biemanb. IDer barf noch behaupten, baß all bas, roas 
auf biefem (Sebiete an Kuffallenbem 3U Cagc tritt, nur auf £äro 
fdjung unb 3 rrtum beruht? (Seroiß, cs gefdieben feine IDunber, 
aber bes IDunberbaren unb Uncrflärlidjen giebt cs genug. IDcil 
roir bas heute roiffen, finb roir auch »orfichtiger unb im Urteil 
jurücfhuttcnbcr geworben gegenüber IDunberberichten aus bem 
Kltcrtum. Daß bie (Erbe in ihrem £auf je ftillc geftanben, baß 
eine <£felin gefprodjen h<*t, ein Seefturm burch ein IDort gefttllt 
worben ift, glauben roir nicht unb werben cs nie roieber glauben; 
aber baß £ahme gingett, Blinbe fafjen unb £aube hörten, werben 
roir nid)t froher fjanb als 3ßufion abroeifen. 

Kus biefen Knbcutungen mögen Sic felbft bie richtige Steh 
lung 5U ben euangelifchen IDunberberichten entroideltt unb bas 
5acit 3iehen. 3m einzelnen, b. h- bei ber Knroenbung auf bie 
fonfreten IDunberer5ähIungen, roirb immer eine geroiffe Unfidjerheit 
■nachbleiben. Souiel ich feh«, laffen fich hier folgenbe (Sruppen 





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Silben: f. Wunbcrbcrichte, bie aus Steigerungen natürlicher, ein« 
bruefsuotter Vorgänge entftanben finb, 2. Wunberbcrichte, bie aus 
Heben unb (Sleichniffcn ober aus ber projeFtion innerer Vorgänge 
in bie augenweit entftanben finb, 5 . folche, bie bem 3ntereffe, alt« 
teftamentliche Berichte erfüllt 3U fehen, entftammt finb, 4. non ber 
gciftigen Kraft 3 efu gcwirFtc, überrafchenbc Reifungen, 5 . Unburch« 
brmgltches. Sehr beachtenswert ift es aber, ba§ 3efus felbft auf 
feine Wunberthaten nidjt bas entfeheibenbe (Sewicht gelegt bat, 
welches fchon ber «Dangelift HTarcus unb bie anberen alle ihnen 
beilegen, fjat er hoch Flagenb unb anFIagenb ausgerufen: „Wenn 
ihr nicht Reichen unb Wunber feht, fo glaubt ihr nicht!" Wer 
biefe Worte gefprodjen hat, Fann nicht ber HTeinung gewefen fein, 
ber (Slaubc an feine Wunber fei bie rechte ober gar bie einzige 
Brüde 3ur KnerFennung feiner perfon unb feiner HTiffion; er mug 
uielmehr über fie wefentlidj anbers gebacht haben als feine «oan» 
geltften. Unb bie merfwürbige Chatfache, bie eben biefe «pan« 
geliften, ohne ihre Cragweite 3U würbigen, überliefert haben: „ 3 efus 
Fonnte bafelbft Fein Wunber thun; benn fie glaubten ihm nicht" 
3eigt noch non einer anberen Seite h er , wie • porfidjtig wir bie 
Wunberer3ählungen aufsunehmen unb in welche Sphäre wir fie 3U 
riiefen haben. 

«s folgt aus altcbem, bag wir uns nicht hinter bie coan« 
gelifchen Wunbcrberichte perfchansen bürfen, um bem «pangelium 
3 U entfliehen. Crog jener Stählungen, ja sum Ceil auch in ihnen 
tritt uns hier eine WirFlidjFeit entgegen, bie auf unfere Ceilnahme 
Knfpruch erhebt. Stubieren Sie fie unb taffen Sie fid) nicht ab« 
fdirecFen burch biefe ober jene Wunbergefchidjte, bie Sie frentb unb 
froftig berührt. Was 3 h«en hier unuerftänblid? ift, bas fchieben 
Sie ruhig beifcitc. Diclleicht müffen Sie es für immer unbeachtet 
taffen, Dielleicht geht es 3 hncn fpäter in einer ungeahnten Bebeu« 
tung auf. Hoch einmal fei es gefagt: laffen Sie fiel) nicht ab« 
fchrccFen! 3 )ie Wunberfrage ift etwas relatip (Bleichgüttiges gegen» 
über allem anberen, was in ben «Dangelien fteht. Bid]t um 
UtiraFel hanbelt es fidj, fonbern um bie entfeheibenbe 5 rage, ob wir 
hilflos eingefpannt finb in eine unerbittliche HotwenbigFeit, ober ob 
cs einen (Sott giebt, ber im Hegimente figt unb beffen natur« 
beswingenbe Kraft erbeten unb erlebt werben Fann. 

Unfere «Dangelien etählen uns beFanntlich Feine «ntwicFlungs« 

2 * 




20 


gefchichtc 3 efu; fic berichten nur »on feiner öffentlichen Wirffam« 
feit. §we i <£»angetien enthalten allerdings eine Dorgefditdjte (< 5 e* 
burtsgefd}icf;te), aber mir dürfen fie unbeachtet laffen; denn felbft 
mentt fie (ßlaubmürdigeres enthielte als fte mirflich enthält, märe 
fie für unfere ^meefe fo gut mie bedeutungslos. Die <£»angeliftcn 
felbft nämlich meifen niemals auf fte 3urücf oder laffen 3efunt felbft 
fid; auf jene Vorgänge jurüctbejiebcn. jm (Segenteil • fic er« 
3äblcn, dag die Butter und (ßefchmifter 3efu »on feinem Auftreten 
uöllig überrafdjt gemefen feien und fid) nicht in dasfelbe su ftjtdcn 
r>ermod)t - haben. Buch paulus fdjmeigt, fo dag mir gemig fein 
fönnen, dag die ältefte Überlieferung die <6eburtsgefd?ichten nicht 

gefannt hat- . . 

XPir miffen nidjts r>on der (Sefd)id)te 3 e fu in den erften dreißig 
3ahren feines £ebens. 3ft bas nicht eine fd)recfliche llngemigheit? 
IDas bleibt uns, menn mir unfere Aufgabe mit dem Cingeftändnis 
beginnen müffen, dag -mir fein £eben 3efu 3 a fehreiben vermögen? 
XPie fönnen mir aber die <Jx'fcl;icbte eines Dtcmnes febreiben, »on 
deffen Cntmicfelung mir gar nidjts miffen, und »on deffen £eben 
uns nur ein oder 3 t»ei 3al)re befannt find? Hun, fo gemig unfre 
(Quellen für eine „Biographie" nicht ausreichen, fo inhaltsreich find 
fie doch in anderer Beziehung, und auch ihr Schmeigen über die 
erften dreigig 3ahre lehrt uns ctmas. 3nhalfsreidj find fie, meil 
fte uns über drei mid)tige punftc 2luffd)lug geben; denn fic bieten 
uns erftlid) ein anfdjauliches Bild »on der predigt 3 ß fu, 
fomohl in fjinfidjt der (Srund 3 Üge als der 2lnmendung 
im einseinen; fie berichten 3 t»citens den Busgang feines 
£ebens im Dienfte feines Berufs, und fie fchildern uns 
drittens den Cindrucf, den er auf feine 3ünger gemacht 
hat und den fie fortgepflanst haben. 

Das find in der Chat drei bedeutende, ja es find die ent« 
feheidenden punfte. Weil mir hier Har fehen, ift es möglich, ein 
Charafterbild 3 efu ju äeichnen oder — befdieidener gefprochen: der 
Derfuch ift nicht ausftdjtslos, 3 U erfennen, mas er gemollt hat, mte 
er gemefen ift und mas er uns bedeutet. 

Was aber jene dreigig 3aB)re des Schmeigens betrifft, fo ent« 
nehmen mir unferen <£»angelien, dag 3efus nicht für nötig befunden 
hat, feinen 3üngcrn darüber etmas mit 3 uteilen. 2lber negati» »er« 
mögen mir hier doch manches 3 « fagen. Crftlich, es ift fehr un« 
mahrfdieinlich, dag er durch die Schulen der Babbinen gegangen 




21 


ift; nirgenbmo fpricht er tote einer, ber jtd? tec^nifd]'tl|eoIogifd]e 
Gilbung unb bie Kunft gelehrter <£j:egefe angeeignet hat. Wie 
beutlich erfennt man bagegen aus ben Briefen bes Kpoftels pautus, 
baß er 3U ben 5ügen theologifcher Cel>rer gefeffen! Bei 3 efus finben 
mir nichts I^ieruon, es machte bafyer 2luffehe< bag er überhaupt 
in ben Schulen auftrat unb lehrte, 3 u ber heiligen Schrift lebte 
unb wehte er, aber nicht mie ein berufsmägiger Cehrer* 

5erner, 3U ben (Effenern, einem merfmürbigen jübifchen UTönchs* 
orben, fann er feine Be3ichungen gehabt haben* fjätte er j<£ melche 
befeffen, fo märe er einer jener Schüler gemefen, bie bie 2 lbB?ängig* 
feit r>on ihren UTciftern babürch bemähren, bag fie bas (Segenteil 
t>on bem uerfünbigen unb thun, mas fie gelernt haben. Die 
Offener hielten auf gcfegliche Bcinheit bis jum Üugerften unb 
fdjloffen fich ftrenge nicht nur gegen bie Unreinen, fohbern auch 
gegen bie Ca^eren ab* 3 fyre peinliche Kbfonberung, bas Wonnen 
in beftimmten Qrtfchaften, iE^re täglichen 3ahlreichen XVafchungen 
Baffen fich nur r>on l^ier aus oerftehen* Bei 3efus finben mir ben 
sollen (Segenfag 3U bi'cfer Cebcnsmeife: er fud>t bie Sünber auf unb 
igt mit ihnen* Schon biefer funbamentale Unterfchieb macht cs 
fidler, bag er ben Offenem gan3 fern geftanben hat* 3n ben 
Sielen unb Bütteln ift er von ihnen gefchiebcn* Wenn er in 
manchen (£in3elanmcifungen an feine 3ünger mit ihnen 3ufammen* 
jutreffen fcheint, fo finb bas 3ufällige Berührungen; benn bieBTo» 
tiue maren uöllig anberc* 

‘ XBeiter, menn nicht alles trügt, liegen Bunter ber uns offen» 
baren Seit bes Cebens 3 efu feine gcmaltigen Krifen unb Stürme, 
fein Bruch mit feiner Vergangenheit* Birgenbmo in feinen Sprüchen 
unb Beben, mag er brohen unb ftrafen ober freunblich loden unb 
-rufen, mag er son feinem Verhältnis 311m Vater ober 3ur XVelt 
fprechen, bemerft man überftanbene innere Ummäl3ungen ober bie 
Barben eines furchtbaren Kampfes* Wie felbftserftänblid), als 
fönnte es nidit anbers fein, ftrömt alles bei ihm Bjerbor — fo 
bricht ber Quell aus ben Ciefen ber (£rbe, flar unb ungehemmt* 
Bun 3eige man uns ben Btcnfchen, ber mit breigig 3 ahren fo 
fprechen fann, wenn er heige Kämpfe hinter fich hat, Seelenfälfipfe, 
in benen er fchlieglid] bas uerbrannt hot, mas er einft angebetet, 
unb bas angebetet, mas er uerbrannt hot! BTan 3eige uns ben 
UTenfchen, ber mit feiner Vergangenheit gebrochen hot, um bann 
auch *>ie anberen 31m Buge 3U rufen, ber aber babei t>on feiner 



22 


eigenen Buge niemals fpricht! Triefe Beobachtung fchliegt es aus, 
bag fein Ccbert in inneren Kontraften oerlaufen ift, mag es auch an 
tiefen Belegungen, an Verletzungen unb <§rocifcIn nicht gefehlt 
haben* 

<£nblich noch eines — bas Cebcnsbilb unb bie Beben 3 ef u 
5eigen fein Verhältnis 3unt (Eriechentum* $aft mug man ftch barüber 
rounbern; benn (Saliläa u>ar ooll oon (Griechen, unb griechifch tourbc 
bamals in oielcn feiner Stabte gefprochen, etoa u>ie heute infinit* 
lanb fchtoebifch* ( 5 ried|ifd|e Cchrer unb philofophen r gab es bafelbft, 
unb es ift faum benfbar, bag 3 efus ihrer Sprache gan3 unfunbig 
getoefen ift 2lber bag er irgenbane r»on ihnen beeinflugt toorbett, 
bag bie (Eebanfen plato’s ober ber Stoa, fei es auch nur in irgehb 
mclcher populären Umbilbung, an ihn gefommen finb, lägt ftch 
fchlechterbings nicht behaupten* freilich, menn ber religiöfc 3nbi* 
mbualismus, (ßott unb bie Seele, bie Seele unb ihr ( 5 ott, toenrt 
ber Subjeftioismus, wenn bie solle Selbftoerantroortlichfeit bes 
einzelnen, roenn bie £oslöfung bes Beligiöfen oon bem politifchen — 
wenn bas alles nur griechifch ift, bann fteht auch 3efus in bem 
(Sufammenhang ber griechifchen (Entroicflung, bann hat auch er 
reine griechifche Cuft geatmet unb aus ben Quellen ber (Griechen 
getrunfen* 2lber es lägt ftch nicht nachtoeifen, bag nur auf biefer 
Cinie, nur im Volfe ber Seltenen, biefe (Entroicflung ftattgefunben 
hat; bas (Gegenteil lägt ftch vielmehr geigen: äuch anbere Bationen 
finb 3U ähnlichen (Erfenntniffen unb Stimmungen fortgefchritten — 
fortgefchritten allerbings in ber Hegel erft, nachbem 2lle£anber ber 
(Sroge bie Schlagbäume unb <§äune, toelche bie Völfer trennten, 
niebergeriffen hatte* Vas griechifche (Element ift genug in ber 
Vielzahl ber 5älle ber befreienbe unb förbernbe 5aftor auch für 
fie getoefen* 2lber ich glaube nicht, bag ber pfalmift, ber bie 
IVorte gefprochen hat: „bjerr, toenn ich nur Vieh habe, frage id? 
nicht nach fjimmel unb (Erbe" —\e etwas oon Sofrates ober sott 
plato gehört hat* 

(ßenug, aus bem Schweigen über bie breigig erften 3 ah^e 

unb aus bem, roas bie (Eoangelien oon ber geit feiner Be* 
rufstoirff amfeit nicht berichten, lägt ftch XVid|tiges lernen* 

(Er lebte in ber Beligion, unb fie roar ihm 2 ltnten in ber 
5 urd]t ( 5 ottes; fein gatt3es Ceben, all fein 5 ühlen unb Venfen, mar 
in bas Verhältnis 3U (Sott aufgenommen, unb hoch — er hat nicht 




23 


gefprochen wie ein 5 d\wä rmer unb 5 anatifer, ber nur einen rot* 
■glüfjenben punft fieht unb bem bie Welt unb alles, was in iE^r 
ift, bestatt oerfchzinbet, (Er B^at feine Prebigten gefprochen unb 
in bie IHelt geflaut mit bem frifcfyen unb gellen, Kuge für bas 
große unb Heine £eben, bas ihn umgab* (Er uerfürtbigte, baß ber 
(Seminn ber gansen iHelt nichts bebeute, wenn bie Seele Schaben 
nähme, unb er ift hoch belieb unb teilnefynenb geblieben für alles 
Cebenbige, Das ift bas ©ftaunlichfte unb (Srößte! Seine Hebe, 
gezöhnlich in döleichniffe unb Sprüche gefaßt, 3eigt alle (Srabe 
mcrifchlicher Hebe unb bie gan3e Stufenleiter ber Kffefte, Die 
härteften Cöne leibenfchaftlicher Knftage unb 3ornigen (Serichts, ja 
felbft bie 3 ^onie, oerfchmäht er nicht; aber fie. müffen. bod> bie 
Ausnahme gebilbet fyaben. ©ne ftille, gleichmäßige Sammlung, 
alles auf ein <§iet gerichtet, beherrfcht ihn, 3 a ber ©ftafe fpridjt 
er niemals, unb ben Con aufgeregter Prophetenrebe finbet man 
feiten, H(it ber größten HTiffion betraut, bleibt fein 2 tuge unb ®h r 
für jeben ©nbruef bes Cebens um ihn offen — ein Sezeis inten* 
fiuer Hube unb gefefyloffener Sicherheit, „Crauern unb ZHeinen, 
£ad]en unb Hüpfen, Heichtum unb Krmut, junger unb Dürft, ( 5 e* 
fuubBjeit unb Kranfheit, Kinberfpiel unb politif, Sammeln unb <§er* 
ftreuen, Kbreife uont f}aus, Verberge unb bjeimfehr, f^ochjeit unb 
Cotentrauer, ber Cu^usbau ber Cebenben unb bas (ßrabmal bes 
Coten, ber Säemann unb ber Schnitter auf bem 5 elbe, ber WinJet 
in ben Heben, bie müßigen Arbeiter auf ben CTcärften, ber fuchenbe 
B^irt auf bem 5 elbe, ber Perlen Bjanbelnbe Kaufmann auf ber See 
unb zieber baheint bie Sorge bes IHeibes um XHe^enmehl unb 
Sauerteig ober um eine perlorene Drachme, bie Klage ber Witwe 
oor bem mürrifchen Kmtmann, bie irbifdje Speife unb ihr Her* 
gelten, bas geiftige Herhältnis r>on CeBjrer unb Schüler; B)ier Königs* 
gian3 unb bjerrfchfucht ber Machthaber, bort Kinbesunfchulb unb 
Dienerfleiß — all biefe Silber beleben feine Heben unb machen 
)ie anfebaulieb auch für Kinbe.r am < 5 eift, y/ Sie fagen mehr als 
nur bies, baß er in.Silbern unb (ßleicbniffen gefproeben hat, Sie 
setgen eine innere Freiheit unb ^eiterfeit ber Seele inmitten ber 
böcbften Knfpannung, zie fie fein propbet t>or ibm befeffen hat. 
Sein Kuge roeilt freunblicb auf ben Slumen unb Kinbern, auf ber 
£iüe bes gelbes — Salomo in aller feiner praebt ift nicht alfo 
befleibet gerne)ert —, auf ben Högein unter bem bjimmel unb ben 
Sperlingen auf bem Dach, Das Überzeitliche, in bem er lebte, 



24 


3erftörte ihm biefe tüelt nicht; nein, alles in ihr be3og er auf ben 
(Sott, ben er fannte, unb fah es in ihm gefchüßt unb betoaB>rt: 
„<£uer Dater im fjimmel ernährt fie." X>ic (Sleic^nisrebe ift ihm 
bie oertrautefte. Unmerflich aber gehen (Sleic^nis unb ^Teilnahme 
ineinanber über. (£r, ber nicht Blatte, ba er fein ijaupt B^inlcgte/ 
fpricht boch nicht toie einer, ber mit allem gebrochen B^at, nicht toie 
ein B^roifcher Büßer, nicht ftoie ein efftatifcher propB^et, fonbern 
toie ein 2 Ttann, ber Bufye unb Triebe B^at für feine Seele, unb ber 
anbere 3'u erquiefen oermag. <£r fchlägt bie geroaltigften Cönc an; 
er fteBBt ben 2T(enfchen oor eine unerbittliche <£ntfchcibung; er läßt 
ihm feinen 2lusroeg, unb roieberum — bas <£rfchütternbfte ift ihm 
roie felbftoerftänblich, unb er fpricht es toie bas SeIbftoerftänblichc 
aus; er fleibet es in bie Sprache, in ber -eine 2 Tlutter 3U ihrem 
Kinbe fpricht. 






Griffe BnrlEjung. 


IDir hoben in ber porigen Porlefung/pon unferen £r>angelien 
gefprodjen unb^pon ihrem Sd) tueigen über bie <£nttpidlung 3 efu. 
lüir hoben baranjeine furje Chorafteriftif ber prebigttoeife 3cfu 
angefchloffen. Wir fabcn, er bat tpie ein Prophet gefprodjen, unb 
boct) nicht tpie ein prophct. Triebe, freubigfeit unb (ßeatißheit 
atmen feine Worte. £r brängt auf Kampf unb Cntfcheibung — 
„Wo bein Schafe ift, ba ift bein fferj" —, unb boct) erfdjeint afles 
in bem ruhigen (ßleichmaß ber (ßleichniffe: unter ber Sonne (ßottes 
unb bem Cau bes Rimmels foll alles machfen unb rperben bis 
3ur <£rnte. <£r lebte in bem fteten Setpußtfein ber (Sottesnäfie. 
Seine Speife tuar, ben Wißen (ßottes 3U tf;un. Über — unb bas 
fd)ien uns bas (ßrößte unb bas Siegel feiner inneren 5rcibcit — 
er tjat nicht tüic ein I;eroifcber Büßer gefprodjen ober tpie ein 
Ksfet, ber bie Welt pon fich geftoßen bat. Sein Kuge ruhte 
freunblid; auf aßem <£rfd?einenben, unb er faEj es, toie es fich 
giebt, in feinen bunten unb tpechfelnben Farben. <£r abelte cs in 
feinen parabeln; er fchautc Ijinburd; burd) ben Schleier bes 
3rbifd)en unb erfanntc äberaß bie £janb bes lebenbigen (ßottes. 

Kls er auftrat, tuar ein atiberer por ihm bereits am Werfe 
im jübifdjen Dolfe: 3 of;annes ber Cäufer. Kn ben Ufern bes 
3 orban tpar in tuenigen HTonaten eine große Bctpegung entftanben. 
Sie mar ganä ucrfchieben pon jenen meffianifchen Betpegungen, bie 
bereits feit mehreren (ßencrationen ftoßmeife bas Dolf in Ktem 
gehalten batten, gtpar audj biefer Cäufer perfünbigte: „Das Heid; 
(ßottes ift nabe", unb bas hieß nichts anberes als ber Cag bes 






26 


f}errn, bas (Bericht, bas <£nbe fommt nun. Uber 3 ohannes fün* 
bete biefen Cag nicht an als einen (Berichtstag, an tnelchem (Bott 
enblich bie Vergeltung über bie ^eibentrelt bringen unb fein eigenes 
Volf erhöhen rrerbe, fonbern er propB^eite ihn als ben (Berichts* 
tag für eben biefes Volf. „XVer hat euch getriefen, baß ihr bem 
3ufünftigen gorn entrinnen tr erbet? Venfet nur nicht, baß ihr bei 
euch trollt fagen: £Vir haben Abraham 3um Vater. 3 ch fage eud): 
(Bott oermag bem Abraham aus biefen Steinen Kinber 3U ertrecfen. 
(Es ift fdfon bie Uj:t ben Bäumen an bie tVur3eI gelegt. 7 ' Bicht 
bie Ubrahamsfinbfchaft, fonbern rechtfchaffene XVerfc geben ben 
Uusfdjlag im (Bericht. Unb er felbft, . ber prebiger, hat mit ber 
Buße begonnen unb ihr fein £eben getreiht: in einem Kleibe non 
Kamelshaaren fteht er oor ihnen, unb feine Bahrung finb ^eu* 
fdireden unb toilber ^onig. Uber Usfeten 3U ererben, barinnen 
fteht er feine Uufgabe nicht ober minbeftens nicht oornehmlich. 
Un bas gan3e Volf, toie es fich in Beruf, f^anbel unb XVanbel 
betoegt, rietet er fich unb forbert es 3ur Buße auf. (Es fcheinen 
fehr einfache XVahrheiten 3U fein, bie er ihnt 3U fagen hat: fren 
Zöllnern fagt er: „Norbert nicht mehr, als gefegt ift"; ben Königs* 
leuten: „tEhut uiemanb (Bemalt noch Unrecht unb laßt euch begnügen 
an eurem Solbe"; ben IVohlhabenben: „Ceilt oon eurer Spetfc 
mit"; allen: „Vergeffet bie Urrnen nicht". Vas ift bie Betätigung 
ber Buße, 3U toelcher er aufruft, unb fie enthält bie Sinnesänbe* 
rung, toelche er meint. Bicht um einen einmaligen Uft hanbelt 
es fid], bie Bußtaufe, fonbern um ein rechtfehaffenes £eben im Ejin* 
blicF auf (Bottes oergeltenbe (Berechtigfeit. Von Zeremonien, ©pfern 
unb (Befeßesroerfen hat 3 ehanncs nicht gefprochen; augenfcheinlich 
legte er auf fie fein (Betriebt. Die (Befinnung unb bas fittliche 
Chun finb allein entfdjeibenb. Um (Berichtstage richtet ber (Bott 
Ubraham’s nach liefern ZHaßftabe. 

^ Caffen Sie uns hier einen Uugenblid ftille halten. (Es brängen 
^ fich an biefer Stelle fragen auf, bie fchon oft beantrrortet trorben 
finb unb hoch immer toieber aufgetrorfen toerben. Veutlich ift, 
baß ber Cäufer bie Soureränctät (Bottes unb feines heiligen Sitten* 
gefeßes rerfünbigt hat Klar ift auch, fraß er feinen Volfsgenoffen 
3ugerufen hat: bas UTaßgebenbe, bas allein (Entfcßeibenbe ift bas 
Sittliche; ihr bürft feine größere Sorge haben als bie Sorge um 
eure innere Verfaffung unb euer fittliches f£hun. Klar ift enblichy 
baß nichts Raffiniertes ober Künftliches in feinem Begriff vom 




27 


Sittlichen enthalten ift: er meint bie gemeine UToral. Uber hier 
erheben fich nun bie fragen» 

firjHich: Wenn es fich um etmas fo (Einfaches hcmbelte, um 
bas einige Hecht bes ^eiligen, marum biefer gan3e Apparat non 
bcm Kommen bes (Serichtstages, non ber 2%t an ben Wurzeln ber 
Bäume, non bem 5 euer, bas t>er3ehren mirb, unb bgl.? 

gmeitens: 3 ff biefc Bugtaufe in ber XDüfte unb biefe prebigt 
nom Kommen bes (Berichts nicht einfad) HefTe^ ober probuft ber 
politifchcn unb foialen guftänbe, in benen fid) bas Doll bamals 
befanb? 

drittens: Was enthält benn biefe Derfünbigung überhaupt 
Heues, mas nicht im 3 ubentum fdjon früher ausgefprochen morben 
märe? 

'Diefe brei fragen hangen L aufs innigfte unter fich 3ufammen. 

gunächft alfo biefer gan3e bramatifch^eschatologifche Kpparat: 
bas Keich ( 5 ottes lommt, bas (Enbe ift nahe, u. f. m. Hun, jebe 
ernfte, aus ber Ciefe bes Erlebten quiüenbe Iqinmeifung auf (Sott 
unb bas ^eilige — fei es im Sinne ber (Erlöfung, fei es in bem 
bes (ßerid]ts — h a h fomeit mir bie (Sefchichte lernten, ftets bie 
Äorm angenommen, ba§ bas (Enbe nahe fei. XDie ift bas 3U er* 
llären? Die Kntmort ift nicht fchmierig. Die Heligion ift nicht 
nur ein Ceben in unb mit (Sott, fonbern auch, eben meil fie bies 
ift, bie (Enthüllung bes Sinns unb ber Derantmortlichleit bes Cebens. 
XUem fie aufgegangen ift, ber ftnbet, baß ohne fie umfonft nach 
biefem Sinn gefudjt mirb, baß ber einzelne fomohl mie bie (Be* 
famtheit 3iellos manbelt unb ftür3t. „Sie gehen alle in ber 3 ^e; 
ein jeglicher fleht auf feinen IDeg." Der prophet aber, ber (Bottes 
inne gemorben ift, erfennt mit Schreden unb Kngft biefes allgc* 
meine 3 **en unb bie allgemeine Dermahrlofung. (Es geht ihm 
mie einem XDanberer, ber feine (Benoffen blinb einem Kbgrunb 
Sueilen fleht unb fie um jeben preis 3urüdrufen mill* (Es ift bie 
höchfte geit — noch leimt er fie marnen; noch lann er fie be^ 
fchmören: „Kehret um"; aber vielleicht fchon in ber nächften Stunbe 
ift alles verloren. (Es ift bie höchfte §eit, es ift bie leßte Seit — 
in biefen Huf h a l fich öaher bei allen Dölfern unb in allen (Epochen 
bie energifche HTahnung 3ur Umlehr gelleibet, wenn ihnen mieber 
einmal ein prophet gefdjenft mar. Der prophet burchfehaut bie 
(Befchichte, er fieht bas unmiberrufliche (Enbe, unb er ift erfüllt von 
gren3enlofem Staunen barüber, baf bei ber (Bottlofigleit unb Blinb» 







28 


d]eit, bem £eid]tfinn unb ber CrägE]eit nicht fdjon alles längft 3m 
famtnengeftür3t unb uernid]tet ift. Daß überhaupt rtod] eine Spanne 
übrig ift, in ber bie UmfeE]r möglich, ift il]m bas größte tVunber: 
nur ber Cangmut ( 5 ottes ift es 3U oerbanfen. 2Eber gemiß ift, bas 
<£nbe farm nicht lange meE]r ausbleiben. So entfteE]t immer aufs 
'neue im Vufammenhang mit einer großen Bußbemegung bie Vor* 
ftellung uom nahen (Snbe. 3u meld]e formen im einzelnen fie ftd] 
f leibet, bas fyängt von 3eitgefd]id)tlid]en Umftänben ab unb ift r>on 
untergeorbneter Bebeutung. Hur bie als < 5 ebanfengebilbe fon* 
ftruierte Heligion entbehrt ber entfeheibenben «gufpißung auf bas 
<£nbe; bie tE]atfächlid]e Religion ift oE]ne fie nicht 3U benfen, mag 
fie neu entfacht merben, ober mag fie als ftilles 5euer in ber 
Seele glühen, 

Kber nun bas Zweite — bie poIitifd]*fo3ialen Vuftänbe als 
Urfachen ber religiöfen Belegung. 0 rientieren mir uns fur3* Sie 
miffen, bie füllen Seiten ber jübifd]en CE)eofratie maren bamals 
Iängft vorüber. Seit 3mei 3 a^r^unberten mar ein Schlag nad} 
bem anberen erfolgt; uon ben fd]redlid]en Cagen bes Kntiochus 
<£pipfyanes an mar bas Volf nicht meE]r 3ur HuE]e gekommen. Das 
Königreich ber Klaff abäer mar auf gerichtet morben; burch innere 
Vunftigfeiten unb ben äußeren 5 einb mar es halb mieber baE]in* 
gefunfen. Die Hörner maren ins £anb gefallen unb hatten iheiferne 
5 auft auf alle Hoffnungen gelegt * Die {Tyrannei bes ebomitifchen 
paruenus, bes Königs Fietobes, nahm bem Volfe bie Cebensluft 
unb lähmte^ es t an allen (Sliebern. <£s mar nach menfd]lid]cm (£r* 
meffen nicht ab3ufel]en, mie je mieber eine Befferung ber £age ein* 
treten !önne; bie alten iioxxlxdien Verheißungen fd]ienen £ügen 
geftraft — es fchien aEIes aus 3U fein* ZVie nahe lag es, in fold] 
einer <£pod]e an allem 3*£>ifd]en 3U uerjmeifeln unb in biefer Der* 
5meiftung notgebrungen auf bas 3U reichten, mas einft als uort 
ber tEheofratie un3ertrennlich gegolten h a ^e* ZVie nahe Eag es, 
bie irbifche Krone, ben politifchen Befiß, KnfeE]en unb Heid]tum, 
tfjatfräftiges H an ^eln unb Kämpfen nun für unmert 3U erklären, 
bafür aber uom Hiuimel h cr ein gan3 neues Heid] 3U ermarten, 
ein Heid] für bie Krmen, bie Vertretenen, bie KraftEofen unb eine 
Krönung ihrer fanften unb gebulbigen Cugenben! XJnb menn fchon 
feit 3 uh^h un berten ber Volfsgott Israels in einer ZZmmanblung 
begriffen mar, menn er bie ZVaffen ber Starfen 3erbrod]en unb 
beu prünfuollen Dienft feiner priefter uerfpottet, menn er gerechtes 




29 


(Bericht unb Barmhcrsigfeit perlangt B)atte — wie perlocfenb war 
es, ihn als ben (Sott 311 proflamieren, ber fein Volf im (Elenb fehen 
will* um bann ben (Elenben (Erlöfung 311 bringen! 3 ^ ber Chat, 
mafi fann mit ein paar Strichen bie Beligion unb ihre Hoffnungen 
fonftruieren, bie aus ben geüperhältniffen mit Botwenbigfeit 311 
folgen fcheinen — ein BTiferabilismus, ber ficH an bie (Erwartung 
eines wunberbarert (Eingreifens (Bottes Hämmert unb fich oorfyer 
gleichfant in bas (Elenb hineinroüfylt. 

Kber fo gewig bie furchtbaren geitperhältniffe pieles in biefem 
Sinn cntbunben unb entwicfelt höben, fie reichen hoch Iängft nicht aus, 
um bie prebigt bes Cäufers 3U erflären, wäljrenb man bie wilbcn 
Unternehmungen ber falfchen ZTTeffiaffc unb bie politif fanatifchcr 
pharifäer leicht aus ihnen ab3uleitert permag. XVohl erflären fie 
es, bag bie Coslöfung pon weltlid^en Dingen weitere Kreife erfagte 
unb bag man 5U (Sott auffchaute — Bot lehrt beten; aber bie Bot 
an fich bringt feine fittliche Kraft;, biefe aber ift in ber prebigt 
bes Cäufers bas H au Plgüef gewefen.. 3nbem er an fie 
appellierte, inbem er alles auf bie (Srunblage bes Sittlichen unb 
ber Verantwortung fegen h*eg, erhob er fich über bie Sd}wäd]= 0 
lid]feit ber „Krmen" unb fdjöpfte. nicht aus ber <geit, fonbent aus 
bem (Ewigem 

(Es finb noch nicht hebert 3 <*h r e her, ba hext nach ber fehreef* 
lid]en Bieberlage unferes Vaterlanbes Richte hicr in Berlin feine 
berühmten Beben gehalten* XVas that er imi^nen? Bun 3unächft, 
er hielt ber Bation einen Spiegel por unb 3eigte ihr ihre Sünbcn 
unb beren folgen, ben Ceichtfinn, bie (Sottlofigfeit, bie Selbftgefällig- 
feit, bie Verblenbung, bie Schwäche. XVas that er bann? Bief 
er fie einfach 3u ben XVaffen? 2 lber eben bie XVaffen permochten 
fie nicht mehr 3U führen; fie waren ihnen aus ben fraftlofen Hänbcn 
gefdjlagen worben, <§ur Buge unb inneren. Umfehr h a l er fie 
gerufen, 311 (Sott unb beshalb 3ur Knfpannung aller fxttlichen Kräfte, 
3ur XVahrbeit unb 3urit (Seifte, bamit aus bem (Seifte alles neu 
werbe. Unb burch feine fraftpotte perfönlid]feit h^t er im Bunbe 
.mit gleichgeftimmten ^reunben ben mädrtigften (Einbrucf lievvov* 
gerufen. Die perfchütteten Quellen unfercr Kraft permochte er 
wieber auf3ub£cfen, weil er bie Brächte farmte, Port benen H^f c 
fommt, unb weil er felbft pon bem lebenbigert XVaffer getrunfen 
hatte. (Sewig, bie Bot ber <§eit hat ihn gelehrt unb geftählt; aber 
es wäre finnfos unb lächerlich 3U behaupten, 5 icffie r s Beben xpären 






30 


\ 


bas probuft bes allgemeinen <£lenbs» Sie flnb ber (Segenfafc 3U 
ihm» Hiebt anbers ift über bie prebigt 3ohannes’ bes Käufers 
unb — bafl ich es gleich fage — über bie prebigt 3efu fclbft su 
urteilen» Dafl fie fleh an bie manbten, bie ton ber Welt unb ber 
politif nichts entarteten — ton bem Cäufer ift bas übrigens nicht 
bireft berichtet —, bafl fie ton jenen Dolfsleitern nichts miffen 
mollten, bie bas Dolf ins Derberben geführt Ratten, bafl fie ben 
Hlicf überhaupt ton bem 3*&ifd}en ablenften, bas mag man auch 
aus ben «geitterhältniffen ableiten» Kber bas Heilmittel, melches 
fie terfünbigten, mar fein probuft berfelben» Hcuflte es nicht tiel* 
mehr als ein Derfuch mit untauglichen Hcitteln erfcheinen, lebiglidf 
3ur ^gemeinen ZHoral bie Ceute 3U rufen unb ton ihr alles 3U er* 
märten? Unb moher flammte'bie Kraft, bie unbeugfame Kraft, 
melche anbere be3mang? Dies führt uns auf bie le^te ber 5 ragen, 
bie mir aufgemorfen haben» 

Drittens, mas ift benn Heues in biefer galten Hemegung ge* 
mefen? IDar es neu, bie Souteränetät (Sottes, bie Souteränetät 
bes (Suten unb H^igen in ber Heügion gegenüber allem anberen, 
mas fleh eingebrängt hcitte, auf3urichten? ZDas hat alfo 3ohannes, 
mas hat (Efydflus felbft Heues gebraut, mas nicht fchon längft ter* 
fünbigt morben mar? Hleine fyexvcnl Die 5 rage nach bem Heuen 
in ber Heligion ift feine 5rage, bie ton folchen geftellt mirb, bie 
in ihr leben» Was fann „neu" gemefen fein, nachbem bie Htenfch* 
heit fchon fo lange tor ^e\us Chriftus gelebt unb fo tiel (Seift 
unb (Srfenntnis erfahren h a ^ c * Der DTonotheismus mar längft 
aufgerichtet, unb bie menigen möglichen C^pen monotheiftifchcr 
5 römmigfeit maren längft fyiex unb bort, in gan3en Schulen, ja in 
einem Dolfe, in bie <£rfcheinung getreten» Kann ber frafttolle unb 
tiefe religiöfe 3ttktoibualismus jenes pfalmiften noch überboten 
merben, ber ba befannt hat: n £\exx, menn ich nur Dich habe, frage 
ich nicht nach Fimmel unb <£rbe"? Kann bas XDort ZHicha’s über* 
boten merben: „€s ift Dir gefagt, ZHenfch, mas gut ift unb mas 
ber fyexx *>on ®iv forbert, nämlich (Sottes XDort halten unb Ciebe 
üben unb bemütig fein tor Deinem (Sott"? 3 ahrh un ^ r lc maren 
bereits terfloffen, feitbem biefe XDorte gefprochen maren. Klfo, 
„IDas mollt ihr mit eurem <£hriflus?" menben uns namentlich 
jübifche (Selehrtc ein; „er hat nichts Heues gebracht»" 3 d? ant* 
morte hinauf mit XDellhaufen: (Semtfl, bas, mas 3 ^fas terfün* 
bigt, mas 3<>hannes t>or ihm in feiner Hufjprebigt ausgefprochen 



31 


b { at, bas roar auch bei ben Propheten, bas roar fogar in ber 
jiibifchen Überlieferung feiner <§eit 3U finben. Selbft bie pharifäer 
Ratten es; aber fie Ratten leiber noch fcB^r oiel anberes ba= 
neben. (Es roar bei ihnen befchroert, getrübt, oer3errt, unroirffam 
gemalt unb um feinen (Ernft gebracht burch taufenb T>inge, bie 
fie auch für Beligion hatten unb fo mistig nahmen roie bie Barm* 
hc^igfeit unb bas (Sericht. Klles ftanb bei ihnen auf einer 
fläche, alles roar in ein (Seroebe gerooben, bas (Sute unb ^eilige 
nur ein (Einfchlag. in einen breiten irbifchen gettel. Bun fragen 
Sie noch einmal: „XBas roar benn bas Beue?" 3 n ber mono* 
theiftifdjen Beligion ift biefe 5 rage nid]t am plafee. prägen Sie 
vielmehr: „U)ar es rein unb roar es fraftooll, roas B)ier oer* 
fünbet rourbe?" 3 ch antworte: Suchen Sie in ber galten Beli* 
gionsgefchicfyte bes Bolfes 3 ^ael, fuchen Sie in ber (Sefdjichte über* 
haupt, roo eine Botfdjaft oon (Sott unb oom (Suten fo rein unb 
fo ernft — benn Bein^eit unb (Ernft gehören 3ufammen — geroefen 
ift, mie roir fie hier köven unb lefen! Die reine Quelle bes fjei* 
ligen roar 3roar längft erfdjloffen, ahev Sanb unb Sch*ltt>u>ar über 
fie gehäuft roorben unb ihr XDaffer roar oerunreinigt. £)aß nach* 
träglich Babbinen unb Theologen biefes XDaffer beftiüieren, änbert, 
felbft roenn es ihnen gelänge, nichts an ber Sache. Bun aber 
brach ber Quell frifch h^ r ^ or unb brach fich burch Schutt unb 
krümmer einen neuen XDeg, burch jenen Schutt, ben priefter unb 
tLfoologen aufgehäuft hätte™/ um ben (Ernft ber Beligion 3U er* 
fticfen; benn roie oft ift in ber (Sefchichte bie Rheologie nur bas 
BTittel, um bie Beligion 5U befeitigen! Unb bas anbere roar bie 
Kraft, pharifäifche CeBjrer hätten oerBünbigt, im (Sebot ber (Sottes* 
unb Bächftenliebe fei alles befaßt; begliche XDorte hätten fie ge* 
fprochen; fie fönnten aus bem BTunbe 3efu ftammen! Kber roas 
hatten fie bamit ausgerichtet? X>aß bas PolB, baß oor allem ihre 
eigenen Schüler ben oerroarfen, ber mit jenen XUorten (Ernft machte! 
Schroächlid} toar alles geblieben, unb roeil fchroächlich, barum fchäb* 
lieh. B)orte thun es nicht, fonbern bie Kraft ber perfönlichBeit, 
bie hinter ihnen fleht. <£r aber prebigte geroaltig, „nicht roie 
bie Schriftgclehrten unb pharifäer": bas roar ber (EinbrucB, ben 
feine 3 üngcr oon ihm geroannen. Seine XDortc rourben ihnen 3U 
„XDorten bes Cebens", 3U SatnenBörnern, bie aufgingen unb 5n*cht 
trugen — bas roar bas Beue. 

2T(it folch einer prebigt hätte 3°hännes ber Käufer bereits 






32 


begönnert* Uuch er fyatte fich un3meifelhaft fchon in einen (ßegen* 
faß 3U ben Führern bes Dolfs geftellt; benn einer, ber prebigt 
„Kehret um" unb babei ausfchließlich auf ben ffle g ber Buße unb 
bes fittlichen CB^uns vermeift, fommt ftets in einen ( 5 egenfaß 3U 
ben offoiellen Gütern ber Heligion unb Kirdje. Uber über bie 
Cinic ber Bußprebigt ift 3 o^annes nicht fyinausgegangen. 

Da trat 3 efus C^rijtus auf> <Er B^at 3unächft bie Derfünbi* 
gung bes Käufers in vollem Umfange aufgenommen unb bejaht, 
unb er Bjat ihn fetbft anerfannt, ja es B^at niemanben gegeben, über 
ben er in XDorten folcfyer Unerfennung gefprochen B^at mie über 
biefen 3 oB^annes. Ejat er hoch gefagt, baß unter allen, bie von 
U)cibern geboren finb, feiner aufgefontmen ift, ber größer fei benn 
er. ^mmet mieber Bjat er befannt, baß feine Sache von bem 
Käufer begonnen morben unb baß biefer fein Dorläufer gemefen 
fei. 3 a er hat fich felbft von ihm taufen Baffen unb fich bamit 
in bie Belegung hineingeftellt, bie jener entfeffelt hatte. 

Uber er ift nicht bei ihr ftehen geblieben. XDohl verfünbete 
audi er, als er auf trat: ,,®huet Buße, bas Ueich < 5 ottes ift herbei* 
gekommen", aber inbern er fo prebigte, mürbe es eine frohe Bot* 
fcbaft. Bichts ift fidlerer in ber Überlieferung non ihm, als baß 
feine Derfünbigung ein „(Evangelium" mar unb als eine felige unb 
freubenbringenbe Botfchaft empfunben mürbe. UTit gutem Bebacht 
bat barum ber (Evangelift Cucas an bie Spiße feiner (Stählung 
vom öffentlichen Uuftreten 3 ef u bas U)ort bes Propheten 3 efaias 
geftellt: „Der (Seift bes Ejerrn ift bei mir, berhctlben er 
mich gefanbt l\at, unb gefanbt 3U verfünbigen bas<Evan* 
geliunt ben Firmen, 5U heilen bie 3erftoßenen E)er3en, 3U 
prebigen ben befangenen, baß fie tos fein follen, unb 
ben Blinben bas (Seficht, unb ben <§er fchlagenen, baß fie 
frei unb lebig fein follen, unb 3U prebigen bas angenehme 
3 aB)r bes Ejcrrh." 0 ber in 3 efu eigener Sprache:. „Kommet 
ber 3U mir alle, bie ihr mühfelig unb belaben feib; id] 
mill euch erquiefen. Behmet auf euch mein 3och unb 
lernet von mir; benn ich bin fanftmütig unb von Ejer3en 
bemütig, fo merbet ihr Buhe finben für eure Seelen." 
Diefes tüort fyat über ber galten Derfünbigung unb bem XDirfen 
3'efu geftanben; es enthält bas Chema für altes, mas er geprebigt 
unb gehanbelt h a i» Dann aber ift fofort offenbar, baß biefe feine 
prebigt bie Botfchaft bes 3 ohännes meit hi ntcr fich 5urüd* 


33 


gelaffen E}at* 3ene, ob fie fdjott in einem füllen ©egenfaß 
3U ben prieftern unb Sd}riftgeleE}rten geftanben E}at, ift bod} 
nid}t 3U bem entfdjeibenben geid]ert, bem miberfprodjen mürbe, 
gemorben* „fallen unb KuferfteEjen", eine neue ZTTenfd^E^eit miber 
bie alte, ©ottesmenfdjen, fd}uf erft 3 efus <£E}riftus* (Er trat 
fofort ben ofp3ieUen Führern bes Polfes, in iEjnen aber bem ge¬ 
meinen XHenfdjenmefen überhaupt entgegen* Sie backten fid} 
©ott als ben Despoten, ber über bem Zeremoniell feiner b}aus- 
orbnung mad}t, er atmete in ber ©egenmart ©ottes* Sie faEjen 
iE}n nur in feinem ©efeße, bas fie 3U einem CaE^rintE} uon 
Sdpudpen, 3 n:megen unb E}eimlid}en Ausgängen gemalt Ratten, 
er faE} unb füllte iE}n überall* Sie befaßen taufenb ©ebote oon 
iE}m unb glaubten iE}n besEjalb 3U fennen; er Ejatte nur ein ©ebot 
uon iE}m unb bavum fannte er iE}n* Sie Ratten aus ber Heligion 
ein irbifd}es ©etoerbe gemacht — es gab nichts KE>fd}eulid}eres —, 
«er uerfünbete ben lebenbigen ©ott unb ben Kbel ber Seele*' 

Überbauen mir aber bie prebigt 3efu, fo fönnen mtr brei 
Kreife aus iE}r geftalten* ^}ebev Kreis ift fo geartet, baß er bie 
gan3e Perfünbigung enthält; in jebent fann pe-baEjer uollftänbig 
3ur Darftellung gebraut merben: 

(Erftlid}, bas Heid} ©ottes unb fein Kommen, 

Zweitens, ©ott ber Pater unb ber unenblicfye XPert 
ber HTenfdjenfeele, 

Drittens, bie beffere ©ered}tigfeit unb bas ©ebot 
-ber Ciebe* 

Die ©röße unb Kraft ber prebigt 3 efu ift barin befctpoffen, 
baß fie fo einfad} unb mieberum fo reid} ift — fo einfad}, baß 
fie fid} in jebem X^auptgebanfen, ben er angefdpagen, erfd}öpft, 
unb fo reid}, baß jeber biefer ©ebanfen unerfd}öpflid} erfd}eint 
unb mir bie Sprüche unb ©leid}niffe niemals auslernen* Kber 
barüber E}inaus — Epnter jebem Sprud} fteE}t er felbft* Durd} 
bie 3 ciE}rE}unberte Epnburd} reben fie 3U uns mit ber 5nfd}e ber 
©egenmart* £}ier bemal}rE}eitet fid} bas tiefe XPort mirflid}: „Spridj, 
baß id} bid} feE}e*" 

XPir merben in bem ^olgenben fo oerfaEjren, baß mir jene 
brei Kreife fennen 3U lernen fud}en unb bie ©ebanfen, bie 3Ü iE}nen 
geE}ören, 3ufammen orbnen* 3 ^ iE}nen finb bie ©runb3Üge ber 
prebigt 3 efu enttjalten* Dann merben mir uerfudjen, bas <Et>an- 

£?arnacf, lüefen b. Ctjriftentums. B 




34 


gelium in feinen He3iel)ungen 311 einjelncn großen fragen bes 
Cebens 3U verftehen, 

\* Das Heid) (Sottes unb fein Kommen, 

Die prebigt 3 efu. vom Heid)e (Sottes burdjläuft alle Kus* 
fagen unb formen non ber altteftamentlid) gefärbten, prophetifdjen 
Knfünbigung bes <Serid)tstages unb ber 3ufünftigen fid)tbar ein* 
tretenben <Sottesherrfd)aft bis 3U bem (Sebanfcn eines jefet beginnenben, 
mit ber Hotfchaft 34 h anfyebenben innerlichen Kommens bes Keines* 
Seine Derfünbigung umfaßt biefe beiben pole, 3tvifd)en benen 
manche Stufen unb Huancen liegen, Kn bem einen pole er* 
feheint bas 'Kommen bes Heid)s als ein rein 3ufünftiges, unb bas 
Heid) felbft als eine äußere £)errfd)aft (Sottes; an bem anberen 
crfcheint es als etwas 3nnerlid)es unb es ift fd)on vorhanben, heilt 
bereits in ber (Segenmart feinen ©n3ug, Sie fehen alfo: meber 
ber Hegriff „Heid) (Sottes" nod) bie Dorftellung non feinem 
Kommen ift einbeutig, 3 efus hat fie ber religiöfen Überlieferung 
feines Dolfes entnommen, in ber fie bereits im Dorbergrunbe 
geftanben haben, unb er hat verfd)iebene Stufen gelten taffen, in 
benen ber Hegriff lebenbig mar, unb hat neue hü^ugefügt, 
Kbgefchnitten hat er nur bie irbifchen, po!itifd)*eubämoniftifd)en 
Hoffnungen, 

Kud) 3efus ift, mie alle in feinem Dolfe, bie es ernft unb 
tief meinten, burd)brungen gemefen non bem großen (Segenfaß bes 
(ßottesreid)es unb bes XDeltreid)es, in melchem er bas Höfe unb 
ben Höfen regieren fah- Das mar feine blaffe Dorftellung, fein 
bloßer (Sebanfe, fonbern lebenbigfte Knfchauung unb (Smpfinbung. 
Darum mar ihm aud) gemiß, baß biefes Heid) vernichtet merben 
unb untergehen muffe. Dies aber fann nid)t anbers gefd)ef)en als 
burd) einen Kampf, Kampf unb Sieg ftehen in bramatifcher 
Sd)ärfe unb in großen, fieberen gügen vor feiner Seele, in jenen 
<§ügcn, in benen fie bie Propheten gcfchaut hatten. Km Schluffe 
bes Dramas fieht er fid) felbft 3U Hechten feines Daters unb feine 
3tvölf 3 ünger auf ILfyvonen ftßen unb richten bie 3tvölf Stämme 
3 sraels; fo anfd)aulid), fo gan3 in ben Dorfteilungen feiner <§eit 
ftanb bas alles vor ihm, HTan fann nun fo verfahren — unb nicht 
menige unter uns verfahren fo— baß fie biefe bramatifd)en Hilber 
mit ihren harten färben unb Kontraften für bie Hauptfache er* 
flären unb für bie (Srunbform ber Derfünbigung 34 u r &er alle 
übrigen Kusfagen einfad) unter3Uorbnen feien; fie feien mehr ober 


35 


mcniger unerhebliche Varianten — nielleicht auch erft burd? bie 
fpäteren Berichterftatter B^erbeigefü^rt; maßgebenb fei allein bie 
bramatifche gufunftsermartung» 3^h uerrnag mich biefer Betrachtung 
nicht an3ufchließen» <£s gilt bod? auch in ähnlichen 5ällen für t>er* 
fehrt, h^^norragenbe, mahrhaft epochemachenbe perfönlichf eiten in 
erfter £inie banach 3U beurteilen, mas fie mit ihren «geitgenoffen 
geteilt haben, bagegen bas in ben fjintergrunb 311 rüden, mas 
eigentümlich unb groß an ihnen mar» Die Steigung, möglichft 3U 
nivellieren unb bas Befonbere 3U vermifchen, mag bei einigen einem 
anerfennensmerten IDahrheitsfinn entfpringen, aber er ift mißleitet 
Boch häufiger aber maltet hier, bemüht ober unbemußt, bas Be* 
ftreben, bas (ßroße überhaupt nicht gelten 3U Iaffen unb bas <£r* 
habene 3U ftür3en» darüber fann fein gmeifel fein, jene Dor* 
ftellung non ben 3mei Beichen, bem (Sottesreich unb bem Ceufels* 
reich, non ihren Kämpfen unb r>on bem 3ufünftigen lebten Kampf, 
in meinem ber Teufel, nachbem er längft aus bem fjimmel aus* 
gemiefen, nun auch auf ber <£rbe befiegt mirb — biefe Dorftellung 
teilte 3^fus einfach mit feinen geitgenoffen» <£r hat fie nicht 
heraufgeführt, fonbern er ift in ihr groß gemorben unb hat fie bei* 
behalten» Die anbere Knfchauung aber, baß bas Beich ( 5 ottes nicht 
„mit äußerlichen (Sebärben" fommt, baß es fchon ba ift, fie mar 
fein mirfliches Eigentum» 

5ür uns, meine Herren, finb bas heute fchmer 3U vereinigenbe, 
ja faft unüberbrüdbare ( 5 egenfäße, bas Beich (5ottes einerfeits fo 
bramatifch unb 3ufünftig 3U faffen unb bann hoch mieber 3U ver* 
fünbigen: „es ift mitten unter euch", es ift eine ftille, mächtige 
( 5 ottesfraft in ben f}cr3en. Kber mir follen barüber nachbenfen 
unb uns in bie ( 5 efd]ichte verfenfen, um 3U erfennen, marum unter 
anberen gefchichtlichen Überlieferungen unb in anberen Bilbungs* 
formen fyet feine ( 5 egenfäße empfunben mürben, beibes vielmehr 
nebeneinanber beftehen fonnte» 3ch meine, nach einigen hunbert 
3aB>ren mirb man auch in ben (ßebanfengebilben, bie mir 3urüd* 
geiaffen haben, viel XBiberfprud]sr>oIles entbeden unb mirb ftdf 
munbern, baß mir uns babei beruhigt haben» BTan mirb an bem,. 
mas mir für ben Kern ber Dinge haften, noch manche harte unb 
fpröbe Schale finben, man mirb es nicht begreifen, baß mir fo 
fur3fichtig fein fonnten unb bas lüefentliche nicht rein 3U erfaffert 
unb aus3ufcheiben vermochten» Kuch bort, mo mir heute noch uicht 
ben geringften Kntrieb 3ur Sonberung verfpüren, mirb man einft 

3 * 






36 


bas Kleff er anfeßen unb fdjeiben* bjoffen mir, bann billige Hinter 
31t finben, bie unfere (Sebanfen nid]t nad] bem beurteilen, mas mir 
unmiffentlid] aus ber Überlieferung übernommen unb 311 fontroüieren 
nid]t bie Kraft ober ben Beruf befeffen B]aben, fonbern nad] bem, 
mas unferem (Eigenften entftammt ift, mo mir bas Überlieferte unb 
gemeinhin B}errfd]enbe umgebilbet ober uerbeffert Bjaben* 

(Semiß, bie Aufgabe bes bjiftorifers ift fermer unb oerant* 
mortungsoott, 3mifd]en Überliefertem unb Eigenem, Kern unb 
Sdjale in ber prebigt 3 efu r>om Heieße (Sottes 3U fd]eiben* Wie 
meit bürfen mir gefyen? XOix motten biefer prebigt bod] nid]t 
iB]re eingeborene Krt unb 5arbe nehmen, mir motten fie bod] nid]t 
in ein blaffes moralifdjes Schema uermanbeln! Kber anberfeits — 
mir motten ißre (Eigenart unb Kraft aud] nicht verlieren, inbem 
mir benen beitreten, bie fie in bie allgemeinen geitnorftettungen 
auflöfen! Schon bie Krt, mie 34 U5 unter ißnen unterfeßieben 
hat — er hat feine beifeite gelaffen, in ber nicht ein 5unfe 
fittlicßer Kraft lag, unb er hat feine auf genommen, melcße bie 
eigenfücßtigen (Ermattungen feines Dolfes uerftärfie, — feßon biefe 
Unterfcßeibung leßrt, baß er aus einer tieferen (Erfenntnis heraus 
gefproeßen unb geprebigt hat* Kber mir befißen uiel fcßlagenbere 
geugniffe* XDer miffen mitt, mas bas Heid] (Sottes unb bas 
Kommen biefes Heikes in ber Derfünbigung 3 efu bebeuten, ber 
muß feine (Sleicßniffe Iefen unb überbenfen* Da mirb ißm auf* 
gehen, um mas es fid] ßanbelt* Das Heid] (Sottes fommt, inbem 
es 3U ben ein3einen fommt, (Ein3ug in iB]re Seele ßält, unb fie 
es ergreifen* Das Heid] (Sottes ift (Sottes ß er rfcßaft, gemiß — 
aber es ift bie bjerrfcßaft bes B]eiligen (Sottes in ben einzelnen 
I}er3en, es ift (Sott felbft mit feiner Kraft* Kttes Dramaüfcße 
im äußeren, meltgefd]id]tlid]en Sinn ift B]ier uerfeßmunben, 
uerfunfen ift aud] bie gan3e äußerliche gufunftsßoffnung* 
HeB]men Sie meld]es (Sleid]nis Sie motten, oom Säemann, von 
ber föftlid]en perle, r>om Sd]aß im Kcfer — bas XPort (Sottes, 
(Er felbft ift bas Heid], unb nid]t um (Engel unb ^Teufel, nid]t um 
Cßrone unb 5 ürftentümer B]anbelt es fid], fonbern um (Sott unb 
bie Seele, um bie Seele unb iB]ren (Sott* 


% 




ÜBxtxlt BnrlEfung. 


Wir haben 3 ulet$t von ber prebigt 3e[u gefprochett, fofern 
fie Pcrfünbigung bes Heikes (Sottes unb feines Kommens gemefen 
ift. XPir haben gef eben, bajj biefe Perfünbigung alle Kusfagen 
unb formen burdjläuft r>on ber altteftamentlich gefärbten, pro* 
phetifchen Knftinbigung bes (Berichtstags bis 3 U bem (ßebanfen 
eines je^t beginnenben innerlichen Kommens bes Heidjs. XPir 
haben enblich 3 U seigen oerfucht, toarum bie lefetere Porfteßung 
für bie übergeorbnete 3 U halten ift* 3et>or ich auf fie etmas 
näher eingehe, möchte ich aber noch auf 3 tt?ei befonbers nichtige 
Kusfagen ^irmoetfen, bie 3 u>ifchen ben polen „(ßerichtstag" unb 
„3nnerliches Kommen" liegen. 

(Srftlich, bas Kommen bes Keiches (Sottes bebeutet bie ger* 
ftörung bes Heichs bes Ceufels unb bie Überroinbung ber Dämonen. 
Sie h cri: fd)en bisher; fie haben r>on ben KTenfchen, ja non ben 
Pölfcrü 23efi£ genommen unb 3 nnngen fie, ihnen 3 U XPillen 3 U fein. 
3cfus erflärt aber nicht nur, baj$ er gekommen fei, bie XPerfe bes 
Teufels 3 u 3 erftören, fonbern er treibt auch tbatfächlich bie Dämonen 
aus unb befreit bie Plenfchen non ihnen. 

(Beftatten Sie mir hier einen fleinen (Sjdurs. nichts berührt 
uns in ben (Suangelien frember als bie Dämonengefchichten, bie 
fich fo häufig in ihnen finben unb auf roelche bie <£t>angeliften ein 
fo hohes (Sermcht gelegt haben. mancher unter uns lehnt fette 
Schriften fchon beshalb ab, noeil fie folche unuerftänbige Dinge 
berichten. X}ier ift es nun roichtig 3 U roiffen, ba§ fich gan 3 ähn* 
liehe (Stählungen in ttielen Schriften jener geit finben, in grie* 
chifdiett, römifchen' unb jübifchen. Die Porftellung ber „Befeffen* 





38 


heit" mar überall eine geläufige, ja fogar bie bamalige Xüiffen* 
fchaft faßte einen großen Kreis franffyafter ErfMeinungen fo auf. 
(Eben beshalb aber, meil bie Erfdjeinungen fo gebeutet mürben, 
baß eine böfe geiftige XHacht non bem XHenfchcn Beftß ergriffen 
habe, nahmen bie (Semütsfranfheiten 5ormen an, mie tuenn mirf* 
lieh ein frembes XDefen in bie Seele eingebrungen fei. Das ift 
nicht parabo£. (Sefeßt ben 5 all, unfre heutige IDiffenfchaft mürbe 
erüären, baß ein großer Eeil ber Hervenfranfheiten aus Befeffett* 
heit ftamme, unb biefe Erflärung verbreitete fich burch bie <§ei* 
tungen im Dolfe, fo mürben mir halb mieber 3afytreidje 5älle er* 
leben, in benen (Semütsfranfe mie von einem böfen (Seift ergriffen 3U 
fein fcheinen unb glauben. DieCheorie unb ber (Slaube mürben fuggeftiv 
mirfen unb „Dämonifche" genau ebenfo unter ben (Seiftesfranfen 
er3eugen, mie fie fie 3<*hrhunberte, ja 3<*hrtaufenbe fyinburdj er3eugt 
haben. Es ift alfo ungefdjichtlich unb tB)örid)t, bem Evangelium 
unb ben Evangelien eine ihnen eigentümliche Dorftellung ober gar 
„Cehre" von ben Dämonen unb ben Dämonifchen 3U3ufchreiben. 
Sie nehmen nur an ben allgemeinen geitvorftetlungen tleil. freute 
begegnen mir biefen formen ber (Seiftesfranfheiten nur noch feiten; 
ausgeftorben finb fie jeboch noch nicht. Xüo fie aber auftreten, ift 
heute noch rvie bamals bas befte XHittel, ihnen 3U begegnen, bas 
XDort einer kräftigen perfönlichfeit. Sie vermag ben „Teufel" 3U 
bebrohen, 311 be3mingen unb fo ben Kranfen 3U tyeilen. 3 ^ 
paläftina müffen bie „Dämonifchen" befonbers 3ahlreicb gemefen 
fein. 3 efus erfannte in ihnen bie XHacht bes Übels unb bes X 3 öfen, 
unb burch bie munberbare (Semalt über bie Seelen berer, bie ihm 
vertrauten, bannte, er bie Kranfheit. Dies führt uns auf bas 
gmeitc. 

Kls 3 oh<ittnes ber Cäufer im (Sefängnis von gmeifeln bemegt 
mürbe, ob 3efus ber fei, „ber ba fommen foll", fanbte er 3tvei 
feiner 3ü^9^ r 3 U th m / um ih n felbft 3U fragen. Nichts ergreifenber 
als biefe 5rage bes Eäufers, nichts erhebenber als bie Kntmort 
bes bjerrn! Doch mir mollen bie Scene felbft nicht überbenfen. 
XDie lautet bie Kntmort? „(Sehet fyin unb faget bem 3 oh annß5, 
mieber, mas ihr fehet unb höret; bie Blinben fehen unb bie Nahmen 
gehen, bie Kusfäßigen merben rein unb bie Eauben hören, bie 
Coten ftehen auf, unb ben Krmen mirb bas Evangelium geprebigt." 
Das ift „bas Kommen bes Keichs", ober vielmehr, in biefem 
Jpjeilanbsmirfen ift es bereits ba. Kn ber Überminbung unb XDeg* 


räumung bes (Elenbs, bcr Hot, bcr KranfBjeit, dn biefem thatfäch* 
liefert IDirfen foH 3<>hannes fpiiren, baß eine neue <§eit angc* 
brochen ift* Die Teilung ber* 3 efeffenen ift nur ein Ceti biefer 
fjeilanbsthätigfeit; fie fe 1 bft aber fyat 3 cfus als Sinn unb 
Siegel feiner 2 Tciffion bejeic^n.et* Klfo an bie (£1 enben, 
Kranfen unb Hrmen B^at er jtdj gerietet; aber nicht als Hcoralift 
unb ohne eine Spur wehmütiger Sentimentalität (Er teilt bie 
Übel nicht in 5ächer unb ©ruppen ein; er fragt nicht lange, ob 
ber Kranfe bie Teilung „verbient"; er ift auch weit entfernt, mit 
bem Schmede ober* mit bem Cobe 3U [ympatB^ifieren, (Er fagt 
nirgenbwo, baß bie Kranfheit Bjeilfam unb bas Übel geftmb fei* 
Hein — er nennt Kranfheit Kranfheit unb ©efunbheit ©efunbheit* 
Klles Übet, alles <Etenb ift ihm etwas fürchterliches; es gehört 3um 
großen Satansreich; aber er fühlt bie Kraft bes fjeitanbes in ftch* 
(Er weiß, baß ein fortfehritt nur möglich ift, wenn bie Schwache 
überwunben, bie Kranfheit geteilt wirb* 

Kber noch ift nicht bas Ceßte gefagt* Das ©ottesreich fommt, 
inbem er Beeilt; es fommt vor allem, inbem er Sünbe vergiebt* 
fjier erft ift ber oolle Übergang 3unt Begriff bes Heich'es ©ottes 
als ber innerlich wirfenben Kraft gegeben* XOk er bie Kranfen 
unb Krmen 3U ftch ruft, fo ruft er auch bie Sünber; biefer Huf 
ift ber entfdjeibenbe* „Der Hienfchenfohn ift gefommen 3U fuchen 
unb felig 311 machen, ibas verloren ift* 7 ' Hun erft erfcheint alles 
Üußerlicfye unb blos <§ufünftige abgeftreift: bas 3ttkini&uunt wirb 
erlöft, nicht bas Dolf ober ber Staat; neue Htenfchen fotlen 
werben, unb bas ©ottesreich ift Kraft unb <§iel 3ugleich* Sie 
fuchen ben verborgenen Schaß im Hcfer unb finben ihn; fie ver* 
faufen alles unb faufen bie föftliche perle; fie fehren um unb 
werben wie bie Kinber, aber eben baburch finb fie erlöft unb werben 
©ottesfinber, ©otteshelben* 

3 n biefem gufammenhang ha* 3 efus von bem Heiche ©ottes 
gefprodjen, in welches man mit ©ewalt einbringt, unb wieberum 
von bem Heiche ©ottes, welches fo ficher unb fo ftill aufwächft wie 
ein Samenforn unb frucht bringt* (Es hat bie Hatur einer geiftigen 
©röße, einer HTacht, bie in bas 3^mere eingefenft wirb unb nur 
von bem 3 rmern 3U erfaffen ift* So fann er von biefem Heiche, 
obgleich es auch int Fimmel ift, obgleich es mit bem ©erichts* 
tage ©ottes fommen wirb, hoch fugen: „(Es ift nicht hier ober bort; 
es ift inwenbig in euch*" 





— 40 


Die Betrachtung bes Beides, nach bet es im ^eilanbsmirfen 
3cfu bereits gefommen ift unb fommt, ift in ber 5oIge3eit non ben 
3üngern 3 efu nicht feftgehalten morben: man fuhr vielmehr fort, 
non bem Beiche als r>on etwas Iebiglich «gufünftigem 3U fprechen. 
2 Iber bie Sache blieb in Kraft; man ftellte fie nur unter einen 
anberen Citel. <Es ift h^r ähnlich gegangen mie mit bem Begriff 
bes „Uleffias". Kaum (Einer B^at fich, mie mir fpäter noch teh^n 
merben, in ber J^eibenfirche bie Bebeutung 3 efu baburch Har ge* 
macht, bag er ih'n als „UTeffias" fagte. Über bie Sache ift nicht 
untergegangen. 

Dös, was ben Kern in ber prebigt vom Beiche gebilbet heit, 
blieb begehen. <£s hanbelt fich um ein Dreifaches. (Erftlich, bag 
biefes Beich etmas Überzeitliches ift, eine ( 5 abe von Oben, nicht 
ein probuft bes natürlichen Cebens; 3meitens, bag es ein rein/ 
religiöses (Sut ift — ber innere <§ufammenfchlug mit bem leben* 
bigen (ßott; brittens, bag es bas XPidgigge, ja bas (Entfcheibenbe 
ift, mas ber Ucenfeh erleben fann, bag es bie gan3e Sphäre feines 
Dafeins burchbringt unb beherrfdg, meil bie Sünbe vergeben unb 
bas (Elenb gebrochen ift. 

Diefes Beich, melches 3U ben Demütigen fommt unb fte 3U 
neuen, freubigen UTenfchen macht, erfdgiegt erft ben Sinn unb ben 
§wed bes Cebens: fo hat es 3 efus felbft, fo haben es feine 3 ünger 
empfunben. Der Sinn bes Cebens geht immer nur an einem 
Überzeitlichen auf; benn bas (Enbe bes natürlichen Dafeins ift ber 
Cob. (Ein bem Cobe verhaftetes Ceben aber ift finnlos; nur burch 
Sophismen vermag man fich über biefe Chatfache hi^a?eg3utäufchen. 
b^icr aber ift bas Beich (ßottes, bas <Emige, in bie <geit eingetreten. 
„Das cm’ge Cicht geht ba hcrein, giebt ber XPelt einen neuen 
Schein". Das ift 3 efu prebigt vom Beiche (Bottes. Ulan fann 
alles mit ihr in Perbinbung fegen, was er fonft verfünbigt hat; 
man vermag feine gan3e „Cehre" als Beichsprebigt 3U faffen. Über 
noch fixerer erfennen mir fie unb bas (Sut, melches er meint, 
wenn mir uns bem 3tveiten Kreife 3Umenben, ben mir in ber vorigen 
Porlefung be^eidtnet haben, um an ihm bie (Srunb3Üge ber prebigt 
3efu fortfehreitenb fennen 3U lernen. 

2. (Sott ber Pater unb ber nncnbliche VOe rt ber 
BTcnfchenfeele. 

Unmittelbar unb beutlich lägt fich für unfer heutiges Por* 
gellen unb (Empgnben bie prebigt Chrifti in bem Kreife ber (Se= 


41 — 


bonfcn crf affen, ber burch (Sott ben Pater unb burch bie Per« 
fünbigung oom uncnblichen IPert ber KTcnfchcnfeele be3eichnet ift. 
.fjier fomnten bie «Elemente 3um KusbrucF, bie ich als bie ruhenben 
unb bie Hülfe gebenben in ber Perfünbigung 3 ßfu bezeichnen 
möchte, unb bie 3ufammengehalten finb burch ben (Sebanfen ber 
(Sottesfinbfcfjaft. 3 d) nenne fte bie ruljenben im Hnterfdjieb uon 
ben impulfiuen unb jiinbenben «Elementen, obgleich gerabe ihnen eine 
befonbers mächtige Kraft innemohnt. 3 nbem man aber bie gan3e 
Perfünbigung 3 efu auf biefe beiben Stüde jurüdfüfjren fann — 
(Sott als ber Pater, unb bie ntenfcbliche 5 eele fo geabelt, baß fte 
ftd? mit ihm 3ufammen3ufchließen uerntag unb 3ufammenf<hließt —, 
3eigt es ft cf 7, baß bas «Euangelium überhaupt feine pofitire Heligion 
ift tuic bie anberen, baß es nichts Statutarifches unb partifu« 
Iariftifc^es hat, baß es alfo bie Heligion felbft ift. Es ift er« 
haben über allen (Segenfäßen uttb Spannungen uon Piesfeits unb 
3 enfcits, Pernunft unb «Efftafe, Krbeit unb IPeltflucht, 3 übifchem 
unb (Sried^ifdjem. 3 o allen fann es regieren, unb in feinem 
irbifchen «Element ift es eingefchloffen ober nottuenbig mit ihm 
behaftet. IPir wollen uns aber bas IPefen ber (Sottesfinbfchaft 
im Sinne 3 «'[u beutlidjer machen, inbem tuir uier Spruchgruppen 
bc3tu. Sprüche uon ihm fürs betrachten, nämlich {■ bas Pater«Unfer, 
2. jenes fPort: „freuet euch nicht, baß euch bie (Seifter unterthan 
linb, freuet euch aber, baß eure Hamen im bjimmel angefdjrieben 
finb", 5 . ben Spruch: „Kauft man nicht 3toei Sperlinge um einen 
Pfennig, unb bod; fällt berfeiben feiner auf bie Erbe ohne euren 
Pater; alfo finb auch eure bjaare auf bem bjaupte ge3ähtt", 4. bas 
H)ort: „JPas hülfe es bem HTenfchen, fo er bie gan3C IPelt ge« 
toönnc unb nähme bo«h Schaben an feiner Seele". 

d)ucrft bas Pater«Unfer. Es ift in einer befonbers feierlichen 
Stunbc uon 3 efus feinen 3 üngern mitgeteilt worben. Sie hotten 
ihn aufgeforbert, er möge fte beten lehren, u>ie 3of;annes feine 
3 ünger beten gelehrt höbe, hierauf hot er bas Pater«Unfer 
gefprochcn. 5ür bie höheren Heligionen finb bie (Sebete bas Ent« 
feheibenbe. Piefes aber — bas empfinbet 3 eber, ber cs nicht 
gebanfenlos an feiner Seele uorübersiehen läßt — ift gefpro«hen 
uon Einem, ber alle innere Unruhe überwunben hot ober fte in 
bem Kugcnblicfe überwinbet, ba er uor (Sott tritt. Schon’ bie 
Knrebe „Pater" 3eigt bie Sicherheit bcs HTanncs, ber fich in (Sott 
geborgen weiß, unb fpriefft bie (Sewißbeit ber Erhörung aus. Er 







42 


betet nicht, um ftiirntifche tPünfdje gen bjimmel 3U fenben ober 
um biefes ober jenes irbifche (Sut 3U erlangen, fonbern er betet, 
um ficb bie Kraft 3U erhalten, bie er fchon befifet, unb bie (Einheit 
mit (Sott 3U fiebern, in ber er lebt tiefes (Sebet fann bafyer nur 
gefprochen rverben in tieffter Sammlung bes (Semütes unb bei 
voEfommenfter 'Kot^entrierung bes (Seifles auf bas innere Der* 
hältnis, auf bas Perhältnis 3U (Sott. KEe anberen (Sebete finb 
„leidster"; benn fie enthalten particulares ober finb [0 3ufammen* 
gefegt, baß fie bie ftnnliche phantafie irgenbtvie mitbervegen — 
biefes (Sebet führt aus KEern heraus unb auf jene l}ö£)e, auf ber 
bie Seele mit ihrem (Sott allein ift. Unb hoch verfchrvinbet bas 
3 rbifcbe nicht, bie gan3e 3tveite bjälfte bes (Sebets be3iebt ficb auf 
irbifche Perhältniffe. Uber fie ftehen im Cichte bes (Ervigen. J KEes 
Bitten um befonbere (Snabengaben, um befonbere (Süter, auch 
geiftlicbe, fucht man vergebens. „Solches roirb euch UEes 3ufaEen." 
Per Barne, ber XDiEc, bas Beich (Sottes — biefe rubenben unb 
ftetigen (Elemente finb ausgebreitet auch über bie irbifeben Per* 
* hältniffe. Sie fcbmel3en aEes (Eigenfüchtige unb Kleine binmeg unb 
laffen nur vier Stüde befteben, beremvegen es ficb lohnt 3U bitten: 
Pas tägliche Brot, bie tägliche Schulb, bie täglichen Perfuchungen 
unb bas Böfe bes Cebens. (Es giebt nichts in ben (Evangelien, 
tvas uns ficberer fagt, tvas (Evangelium ift, unb rvclcbe (Sefinnung 
unb Stimmung es er3eugt, als bas „Pater Unfer." Kuch foE man 
aEen, bie bas (Evangelium h^mrterfefeen, inbem fie es für ettvas 
Ksfetifches ober (Elftatifcbes ober Sociologifcbes ausgeben, bas 
Pater Unfer Vorhalten. Bach biefem (Sebet ift bas (Evangelium 
c (Sottesfinbfchaft, ausgebetpat über bas gan3e Ceben, ein innerer 
<§ufammenfchluß mit (Sottes XPillen unb (Sottes Heid] unb eine 
freubige (Setvißhoi* im Befife etviger (Süter unb in Be3ug auf ben 
Schüfe vor bem Übel. 

Unb ber 3tveite Spruch — tvenn 3 efus fagt: „freuet euch 
nicht, baß euch bie (Seifter untertban finb, freuet euch aber, baß 
eure Barnen im bjimmel angefebrieben finb," fo ift auch h^ r mit 
befonberer Kräftigfeit ber (Sebanfe bervorgehoben, baß bas 
Betvußtfein, in (Sott geborgen 3U fein, in biefer Beligion bas (Ent* 
febeibenbe ift. Selbft bie größten Cbaten, fogar bie IPerfe, bie in 
Kraft biefer Beligion gethan tverben, reichen nicht h er <m cm bie 
bemütige unb ftol3e «guverficht, für «geit unb (Ervigfeit unter bem 
väterlichen Schufee (Sottes 3U fteB>en. Boch mehr — bie (Echtheit, 




43 


ja bie IDirflicfyfeit bes religiöfen (Erlebniffes ift lieber an ber Über* 
fdjmenglidjfeit bes (8efüE>Is nodj an ficfjtbaren (Brogtljaten 31t 
roeffen, fonbern an ber 5reube unb an bem Uneben, bie über bie 
Seele ausgegoffen finb, tnelcfye 3U [preßen nermag: „UTcin Dater." 

IDeldjen Umfang fyat 3efus biefent (Bebanfen^non ber näter* 
lidjen DorfeEjung (Bottes gegeben? f}ier tritt ber britte Spruch 
ein: „Kauft man nicfyt 3tt>ei Sperlinge um einen Pfennig? Dod? 
fällt berfelben feiner auf bie (Erbe ofyne (Euren Daten Bun aber 
finb aud? eure ffaare auf bem Raupte alle ge3äEjlet" Soiueit 
fid? bie 5urd^t, ja foroeit ficb bas Ceben erftredt — t>as Ceben bis 
in feine lebten fleinen Üußerungen im Baturlauf — foroeit foll 
fid? bie gunerfidjt erftreden: (Bott fit$t im Begimente* Die Sprüche 
non ben Sperlingen unb von ben Blumen bes Selbes E?at (Er feinen 
3üngern 3ugerufen, um ihnen bie 5urd?t t>or bem Übel unb bas 
5urdjtbare bes Cobes 3U benehmen; fie merben es lernen, bie f}anb 
bes lebenbigen (Bottes überall im'Ceben unb aud? im Cobc 311 
erfennen. 

(Enblid) — unb bies XDort mirb uns nun nicfyt nteE>r über* 
rafdjen — er Ejat bas f}öd}fte in Be3ug auf ben IDert bes UTenfcfyen 
gejagt, inbem er gefprocfyen: „IDas b^ülfe es bem IHenfdien, fo er 
bie gan3e IDelt getnönne unb näfyme bod? Schaben an feiner Seele?" 
XDer 3U bem IDefen, bas fjimmel unb (Erbe regiert, mein Dater 
fagen barf, ber ift bamit über fjimmel unb (Erbe erhoben unb bat 
felbft einen IDert, ber EjöEjer ift als bas (Befüge ber IDelt Uber 
biefe herrliche <§ufage ift in ben (Ernft einer (Ermahnung ein* 
gef leibet (Sähe unb Uufgabe in (Einem* XDie anbersUefyrten' 

barüber bie (Sriecfyen. (Betrüg, bas Ejofye Cieb bes (Beiftes E>at 
fd?on plato gefangen, iEjn non ber gefamten IDelt ber (Erfcfyeinung 
unterfchieben unb feinen einigen Urfprung behauptet Uber er 
meinte ben erfennenben (Seift, f teilte iE>n ber ftumpfen unb blinben 
ZHaterie gegenüber, unb feine Botfdjaft galt ben XDiffenben* 3efus 
(£E>riftus ruft jeber armen Seele, (Er ruft Ullen, bie UTenfdjenantlig 
tragen, 3U: 3^' 1 feto Kinber bes lebenbigen, (Bottes unb nidjt nur 
beffer als niele Sperlinge, fonbern roertnoller als bie gan3e IDelt 
3d? Ejabe jüngft bas XDort gelefen, ber IDert bes roafyrEjaft großen 
VTiannes beftefye barin, bag er ben IDert ber gan3en UTenfcfyfyeU l 
fteigere. 3^' ber Chat, bas ift bie fyöcfyfte Bebeutung grof^r 
UTänner, fie fyaben ben IDert ber IHenfd^eit — jener IHenfd^eit; 
bie aus bem bumpfen (ßrunbe ber Hatur aufgeftiegen ift — gefteigert, 




44 


b* B>* fortfcfyreitenb in Kraft gcfeßt* Kber er ft burd] 3 efus CBjriftus 
ift ber XDert jeber cin3clncn Rlenfdjcnfeelc in bic (Erfdjeinung 
getreten, unb bas fann Hicmanb rnefyr ungcfcfyefyen machen, RTan 
mag 5U ifym fclbft fielen, roie man u>iE, bie Knerfennung, baß er 
in ber <Sefd}id?te bie RTenfcfifynt auf biefe fjöfye geftellt fyat, Bann 
ibm Ricmanb uerfagen* 

(Eine Umwertung ber IDerte liegt biefer Bjödiftcn IDertfdjäßung 
5U (Srunbe* Dem, ber fid? feiner (Süter rüfymt, ruft er 3m „Du 
Rarr*" KEen aber fyält er uor: „Hur roer fein Ceben oerlicrt, 
ruirb es gettffnncn*" <Er fann fogar fagen: „Hur raer feine 5 eeBe 
baßt, u>irb fie bemafyren*" Das ift bie Umroertung ber XDerte, bie 
uor ifym manche geahnt, bereu IDaBjrBjeit fie mie burdj einen 
Schleier gefdjaut, bereu erlöfenbe Kraft — ein befeligenbes 
<SeB)cimnis — fie norempfunben fyaben* (Er 3uerft Bjat es rufyig, 
einfach unb fidler ausgefprocfyen, tuie t renn bas eine XDaBjrBjcit 
märe, bie man von ben Sträudjern pflüefen fann* Das ift ja bas 
Siegel feiner (Eigenart, baß er bas (Eieffte unb (Entfdjeibenbe in 
ooEfommener (Einfachheit ausgefprochen B^at, aBs fönne es nicht 
anbers fein, als fage er etmas Selbftoerftänbliches, als rufe er nur 
5urücf, roas aBIe roiffen, roeil es im (Srunbe ihrer SeeBe Bebt* 

3 n bem (Sefügc: (Sott ber Dater, bie DorfeBjung, bie Kinb* 
fchaft, ber unenbliche IDert ber RTenfchenfeele, fpricht fid] bas 
gan3e <Et>angeIium aus* XDir muffen uns aber flar machen, mie 
paraboj: bies alles ift, ja, baß bic parabo^ie ber Religion erft Bjier 
3U ihrem ooEcn Kusbrucf fommt* KEcs Religiöfe — nicht nur 
bie Religionen — ift, gemeffen an ber finnlichen (Erfahrung unb 
bem e^aften IDiffen, paraboj;; es roirb Bjier ein (Element eingeführt 
unb für bas tx>id}tigfte erfBärt, toelches ben Sinnen gar nicht er* 
feheint unb bem Cfyatbeftanbe ber Dinge ins (Sefidjt fdjlägt* Kber 
aEe anbern Religionen finb irgenbmie mit bem XDeltlicfyen fo uer* 
flochten, baß fie ein irbifd? einleuchtenbes RToment in fid? tragen, 
be3m* bem geiftigen guftanb einer beftimmten (Epoche ftofflied? uer* 
roanbt finb* XDas aber fann meniger cinleuchtenb fein als bie 
Rebe: (Eure fjaare auf bem Raupte finb ge3äfylet; iB?r habt einen 
überzeitlichen *ZDcrt, iB?r fönnt euch in bie fjänbe eines XDefens 
befehlen, bas Riemanb geflaut B^at* <Enta>cber ift bas eine finn* 
lofe Rebe, ober bie Religion ift B?ier 3U (Enbe geführt; fie ift nun 
nicht mehr blos eine BegBeiterfcfyeinung bes finnlichen Cebens, ein 
(Eoefficient, eine Derflärung beftimmtcr Ceüc besfelben, fonbern 


1 


— 45 — 

fk tritt hier auf mit bem fotweränen Knfpruch, baß erft fk unb 
fie allein ben Urgrunb unb Sinn bes Cebens enthüllt; fk unter- 
mirft |ich bie gefamte bunte IDelt ber (Erfcheinung unb troßt ihr,, 
ruenn fie [ich als bie allein wirBliche behaupten tx>ill* Sie bringt 
nur eine (Erfahrung, aber läßt in ihr ein neues XDeltbilb ent¬ 
gehen: bas cErx>ige tritt ein, bas Zeitliche tx>irb KTittel 3um gwecB, 
ber Klenfch gehört auf bie Seite bes (Ewigen* Dies ift jebcnfalls 
3efu BTeinung gewefen; ihr irgenb etwas db$iefycn, heißt fie 
bereits 3erftören* 3 nbem er ben Dorfehungs-(SebanBen lijcBcnlos 
über IHenfchheit unb XDelt ausbreitet, inbem er bie IDu^eln jener 
in bie <EwigBeit 3urücBführt, inbem er bie (SottesBinbfchaft als < 5 abc 
unb Aufgabe uerfünbigt, hat er bie taftenben unb ftammelnben 
Derfuche ber Heligion in Kraft gefaßt unb 3um Kbfchluß gebraut 
2Toch einmal fei es gefagt: 2Han mag fich 3U ihm, man ntag ftch 
3U feiner Botfdjaft [teilen wie man will, gewiß ift, baß fid? uon 
nun an ber BDert unferes (ßefchlechts gefteigert hat; KTenfchen- 
leben, mir felbft finb einer bem anbern teurer geworben* IDirBliche 
(Ehrfurcht uor bem KTenfchlicben ift, ob fie’s weiß ober nicht, bic 
praftifdie KnerBennung (ßottes als bes Paters* 

3 * Pie beffere (SerechtigBeit unb bas ( 5 ebot ber 
Ciebe — bies ift ber britte Kreis unb bas gan3e (Evangelium Bann 
in biefen 2 Kng gefaßt werben; man Bann es als eine etfyifdje Bot- 
fdjaft barftellen, ohne es 3U entwerten* 3 n feinem DolBc fanb 
3 efus eine reiche unb tiefe (EthiB vor* (Es ift nicht richtig, bic 
pharifäifche KToral Iebiglich nach Bafuiftifchen unb läppifchen (Er- 
fcheinungen 3U beurteilen, bie fte aufweift* Durch bie DerfTechtung 
mit bem Kultus unb bie Derfteinerung im Hitual war• bie KToral 
ber ^eiligBeit gewiß gerabe3u in ibr (Gegenteil vermanbelt, aber 
noch war nicht alles hart unb tot geworben, nod) war in ber 
Ciefe bes Syftems ztvoas Cebenbiges vorBjanben* Pen ^ragenben 
Bonnte 3 efus antworten: „ 3 hr habt' bas < 5 efefe, haltet es; ihr wißt 
felbft am beften, was ihr 3U tB)un habt, bie ^auptfumme bes 
(ßefeßes ift, wie ihr felbft fagt, bie (8ottes* unb bie 2Tächftenliebe*" 
Dennoch Bann man bas «Evangelium 3 cfu in einem ibm eigen¬ 
tümlichen Kreife ethifcher < 5 ebanBen 3um KusbrucB bringen* VOiv 
wollen uns bas an vier punBten Blar machen* 

I (Erftlich, 3 cfus löfte mit fcharfem Schnitte bie Derbinbung ber 
(EthiB mit bem äußeren Kultus unb ben technifch=religiöfen Übungen* 
f<£r wollte von bem tenben3iöfen unb eigcnfüchtigen Betriebe „guter 





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Werte" in Verflechtung mit bem gottesbieiiftlichcn Hitual fd)techter- 
bings nichts mehr wiffen. Entrüfteten Spott Eiat er für biejenigen, 
■bic ben Hächfien, ja ihre Eltern barben taffen, aber bafür an ben 
Cempet (Sefchenfe fehiefen. bjicr fennt er feinen Kompromiß Die 
£icbe, bie Barmfjerjigfeit hat ihren <§mec! in fich; fie wirb ent¬ 
wertet unb gefebänbet, trenn fie etwas anbercs als Dienft am 
Hächften fein foE. 

Zweitens, er geht überaE in ben fütlidjen fragen auf bie IDursel, 
b. b. auf bie (ßefinnung surücf. Das, was er „beffere (ßeredjtigfeit" 
nennt, ift lebiglich von f^icr aus 3 U verftehen. Die „beffere" (Serech- 
tigfeit ift bie (Serecbtigfeit, weld]e befteben bleibt, auch wenn man ben 
ZTIaßftab in bie Ciefe bes ^erjens fenft. JDieber fdjeinbar etwas 
fet;r Einfaches, Selbftuerftänbliches. Dennoch Ejat er biefc IVahr- 
I?eit in bic fdjarfe form gef leibet: „§u ben Ulten ift gejagt wor¬ 
ben .... 3d; aber jage euch." 2EIfo war es hoch ein Heues; 
alfo wußte er, baß es mit foldjcr Konfequcnj unb Souoeränetät 
noch nicht au^gefprodjen worben war. (Einen großen Ceit ber 
fogenannten Scrg'prebigt nimmt jene Verfünbigung ein, in welcher 
er bic eitt 3 elnen großen (gebiete mcnfdilichcr Besiegungen unb 
menfd)Iicher Verfehlungen burdjgeht, um überaE bie (ßefinnung 
aufsubeefen, bic JVerfe nach ihr 3 U beurteilen unb bjimmel unb 
fföfle an fie ju fnüpfen. 

Drittens, er führt UEes, was er aus ber Verflechtung mit 
bem ©genfüchtigen unb BitueEen befreit unb als bas Sittliche 
erfannt hat, auf eine IVursel unb auf ein ZtTotir» surücf, — bie 
Ciebe. Ein anbercs fennt er nicht, unb bie Ciebe ift felbft nur 
eine, mag ftc als Bächften-, Samariter- ober feinbesliebc cr- 
fd)cinen. Sic foE bie Seele gan 3 ausfüEcn; fie ift bas, was bleibt, 
wenn bie Seele fich felber ftirbt. Jn biefem Sinne ift bie Ciebe 
bereits bas neue Ceben. 3mmer aber ift cs bie Ciebe, bie ba 
bient; nur in biefer funftion ift ftc oorhanben unb lebenbig. 

Viertens, wir haben gefehen, 3efus hat bas Sittliche heraus¬ 
geführt aus aEen ihm fremben Verbinbungen, felbft aus ber Ver- 
fnüpfung mit ber öffentlichen Religion. Die haben ihn alfo nicht 
mißuerftanben, bie ba erflärten, es hanbete fich int Evangelium um 
bic gemeine ZTloral. Unb bod) — einen entfeheibenben punft 
giebt es, an welchem er bie Beligion unb bie ZlToral 3 ufammen= 
binbet. Diefer punft wiE entpfunben fein; er läßt fich nicht leicht 
faffen. 3 m fjinblicf auf bie Seligpreifungcn barf man ihn viel- 





47 


leidet am beftcn als bic Demut beseidjncn: Demut unb Ciebe tjat 
3 efus in (Eins gefegt, Demut ift feine einseine Cugenb, fonbern 
fie ift reine (Empfänglidjfeit, Kusbrud innerer Bebürftigfeit, Bitte 
um ©ottes ©nabe unb Dergebung, alfo KufgefdjloffenBjeit gegen* 
über ©ott. Don biefcr Demut, meldic bie ©ottesliebc ift, bie mir 
5u leiften vermögen, meint 3 efus — benfen Sie an bas ©leidjnis 
uont pfjarifäer unb Zöllner —, baj$ .fie bie ftetige Stimmung bes 
tönten ift, unb ba§ aus ifyr alles ©ute quillt unb mädjft. „Dcrgieb 
uns unfcrc Sdjulb, mie mir vergeben unfern Sdjulbigern", bas ift 
bas (Bebet ber Demut unb ber Ciebe 3uglcid}. KIfo fjat aud} bie 
Ciebe 3unt Hädjften fyier ifyren QueEpunft; bic ©eiftlid^Krmen 
unb bie b^ungernben unb Dürftenben finb aud? bie 5 riebfertigen 
unb Barmfycr3igem 

3 n bicfem Sinne ift Hcoral unb Heligion burdj ^e\ns per* 
fnüpft morben; in biefem Sinne fann man bie Heligion bie Seele 
ber HToral unb bie Hcoral ben Körper ber Heligion nennen* Don 
liier aus pcrftefjt man, mie 3 efus ©ottes* unb Bädiftenliebe bis 
5ur 3bentifi3icrung aneinanberrüden fotinte: bie Hädiftenliebe ift 
auf (Erben bie einige Betätigung ber in ber Demut lebenbigen 
©ottcslicbe. 

3nbem 3efus feine prebigt non ber befferen ©eredjtigfeit 
unb bem neuen ©ebot ber Ciebe in. biefen picr bjauptgebanfen 
3unt Kusbrud gebracht B^at, tjat er ben Kreis bes <EtE)ifd}en in 
einer XDeife umftneben, mie if^n nod} Hicmanb por tm um* 
fdjricben fyatte. XDcnn ftd) uns aber 3U perbunfeln brofyt, mas er 
gemeint fjat, fo moEen mir uns immer mieber in bie Seligprei* 
jungen ber Bergprebigt perfenfen. Sic ent alten feine (Etfjif unb 
feine Heligion, in ber XDur3el perbunben unb pon aEem Kujger* 
liefen unb partifularen befreit. 







Sfmffe BorlBfimg. 


2ltn Schluffe ber lebten Dorlefuttg habe id) auf öic Sclig= 
preifungen uerroiefeu unb in Kürjc angebeutet, baß fte in befonbers 
«inbrucfsooEer Weife bie Üeligion 3efu barfteaen. 3d) möchte Sie 
<m eine anbere SteEe erinnern, melchejj! seigt, baß 3efus in ber 
Übung ber Bächftenliebe unb Barmherjigfeit bie eigentlicbe Be-- 
tljätigung ber Üeligion erfannt hat. 3n einer feiner leßten Beben 
I?at er nom (Bericht gefprodjen unb in einem (Sleidjniffe es anfdiam 
tid? gemacht, nämlich in bem (ßleichniffe t>om Wirten, ber bie Schafe 
unb bie Böcfe fdjeibet. Den einzigen Scheibungsgrunb aber bilbet 
Sic frage ber Barmberjigteit. Sie mirb in ber form aufgeworfen, 
ob bie ülcnfdjen 3h» felbft gefpeift, getränft unb befucht haben, 
b. h- fic mirb als religiöfc frage gefteEt; bie paraborie wirb 
Sann aufgehoben in bem Säße: „Was ihr bem (Seringften unter 
meinen Brübern gethan habt, bas habt ihr mir gethan." Deut- 
lieber fann man es nicht oor bie Bugen malen, baß im Sinne 
3efu Barmherjigfeit bas «ntfdjeibenbe ift, unb baß bie (Befinnung, 
tn ber fte geübt wirb, auch Sie richtige religiöfe fjaltung »cr= 
bürgt. 3moiefern? Weil Sie ÜTenfchen in ber Übung biefer 
Cugcnb (Sottes Üadtahmer finb: „Seib barmherzig wie euer Dater 
im Fimmel barmher 3 ig ift.“ Das ÜTajeftätsrecht (Bottes übt, wer 
Barmher 3 igfeit übt; benn (Bottes (Berechtigfeit ooüjieht jtdj nicht 
ttadj ber üegel: „Buge um Buge, gähn um Sahn“, fonbern fteEjt 
unter ber 2T(ad}t feiner 3armBjer3igfeit* 

Caffen Sie uns einen 2lugenbli<f B^ier uermeilen: es mar ein 
ungeheurer Sortfchritt in ber (geeichte ber Heligion, es mar eine 




49 


neue Heligionsftiftung, als einerfeits in <Sried?enlanb burd? Dichter 
unb Denfer, anbererfeits in paläftina burd? bie Propheten bie 3bee 
ber (Sercdjtigfeit unb bes gerechten (Sottes Iebenbig mürbe unb bie 
überlieferte Heligion umbilbete. Die (Sötter mürben auf eine höhere 
Stufe gehoben unb r>erftttlid?t; ber friegerifd?e unb unberedjen« 
bare 3et}onat) mürbe 3 U einem heiligen IDefen, auf beffen (Bericht 
man fid? oerlaffen fonnte, menn aud? in 5urd?t unb gittern. Die 
beiben großen (gebiete, bie Heligion unb bie HToral, bisher ge« 
trennt, rücften naf?e sufammen; benn „bie (Sottf?eit ift Ejeilig unb 
geredet". iDas fid? bamals entmicFelt bat, ift unfre (gefd?id?te; 
benn es gäbe überhaupt feine „H 1 enfd?heit", feine „iDeltgefd?id)te" 
im höheren Sinn ohne jene entfeheibenbe iüanblung. 3hre nächfte 
5 oIge läßt ftd) in bie HTarime sufammenfaffen: „IDas ihr nicht 
mollt, baß euch bie Ceute thun, bas thut ihnen auch nicht." 
Diefe Hegel, fo nüd?tern unb bürftig fte erfefjeint, enthält bod? eine 
ungeheure jtttigenbe Kraft, menn fte auf alle menfehlichen Hejie« 
hungen ausgebehnt unb mit Crnft beobachtet mirb. 

Kber fie enthält bod? nicht bas Ceßte. Der leßte mögliche 
unb notmenbige 5 ortfd?ritt mar erft uol^ogen — mieberum eine 
neue Heligionsftiftung! —, als ftd? bie <ßered?tigfeit ber Harm« 
her 3 igfeit untermerfen mußte, als ber (Sebanfe ber 23rüberlid?feit 
unb ber Aufopferung im Dienfte bes Hächften fouuerän mürbe. 
Die Htajcime fd?eint aud? biesmal nüchtern — „VOas ihr mollt, 
baß eud? bie Ceute thun, bas thut ihnen aud?" —, unb bod? führt 
fie, richtig uerftanben, auf bie £?öf?e unb fchließt eine neue Sinnes« 
meife unb eine neue Heurteilung bes eigenen Cebctts ein. Der 
(Sebanfe: „lüer fein Ceben »ediert, mirb es gemimten", ift un= 
mittelbar mit ihr gefeßt unb bamit eine Kmmertung ber IDerte 
in ber (Semißheit, baß bas mahre Ceben nicht an biefc Spanne 
geit gefnüpft ift unb nicht am finnlicßen Dafein haftet. 

3<h hoff« bamit, menn auch in Kürje, ge 3 eigt 3 U haben, baß 
aud? in bem Kreife ber (gebauten 3efu, ber burd? bie „beffere <Se= 
rcd?tigfeit" unb bas „neue (gebot ber Ciebe" be 3 eid?net ift, bas 
<gan 3 e feiner Cehre enthalten ift. 3n ber Chat, jene brei Kreife, 
meld?e mir unterfd?ieben haben — bas Heid? (gottes, <gott als ber 
Pater unb ber unenblid?e JDert ber Hienfd?enfeele, bie in ber Ciebe 
ftd? barfteUenbe „beffere" (gered?tigfeit — faßen 3 ufammen; benn 
bas Heid? (gottes ift leßtlid? nichts anberes als ber Sd?aß, ben bie 
Seele an bem emigen unb barmher 3 igen (Sott befißt, unb uon hier 

£?arnacf, liefert b. <Et)rijle'ntums. 4 






50 


aus farm in wenigen Strichen alles cntmicfelt merben, was bie 
€BjriftenI]eit als Hoffnung, <51 aube unb Ciebe auf (Srunb ber 
Sprüche 3efu erfarmt B^at unb fcftbalten mill* 

XDir gelten meiter* Halbem mir bic < 5 runb 3 Üge ber Der* 
fünbigung 3 efu feftgeftellt fyaben, verfudjen mir, in bem 3 tveiten 
Kbfcbnitte bie f}auptbe 3 iebungen bes (Evangeliums im 
ein 3 einen 3 U bebanbeln* it)ir lieben feebs punfte be 3 tv* 5 r<*c$en 
bervor, bie, meil fie an ficb bie miebtigften ftnb, auch 3 U allen 
feiten als folcbe empfunben unb beurteilt mürben* Unb mag auch 
im Caufe ber Kircbengefcbicbte bie eine ober bie anbere Stage einige 
^cümefynte btrtburcb in ben f}intergrunb getreten fein, fo febrte fie 
boeb immer mieber, unb 3 mar mit verboppelter Kraft, 3 urüd: 

Das Evangelium unb bie Welt, ober bie 5rage ber Ksfefe, 

2 . Das Evangelium unb bie. Krmut, ober bie fo 3 iale 5rage, 

5* Das Evangelium unb bas Hedjt, ober bie 5rage nach ben 
irbifeben ®rbnungen, 

^* Das Evangelium unb bie Krbeit, ober bie 5rage ber Kultur, 

5* Das Evangelium unb ber (5ottesfobn, ober bie 5rage ber 
Ebriftologie, 

6 * Das Evangelium unb bie Cebre, ober bie 5rage nach bem 
Befenntnis* 

Kn biefen feebs 5 ^cigett — bie vier erften geboren 3 ufammen, 
bie beiben folgenben fteben für ficb — B?offe icb, bie miebtigften 
2 Se 3 iebungen ber Derfünbigung 3cfa, freilich nur in Umriffen, 
barftellen 3 U fönnen* 

\* Das Evangelium unb bic ZDclt, ober bie 5rage ber 

Ksf efe* 

Es ift eine meitverbreitete UTeinung — in ben fatbolifeben Kir* 
eben berrfebt fie, unb viele proteftanten teilen fie beute —, bas Evan* 
gelium fei im lebten (5runbe unb in feinen miebtigften Knmeifungen 
ftreng meltflüd}tig unb asfetifcb* Die einen verfimbigen biefe „Er* 
fenntnis" mit Ceilnabme unb Bemunberung, ja fie fteigern fie bis 
3 u ber Behauptung, eben in bem meltverneinenben Ebarafter liege, 
mie im Bubbbismus, ber gan 3 e Wett unb bie Bebeutung ber ge* 
nuinen cbriftlicben Ueligion befcbloffen* Die anbeten betonen bie 
meltffücbtigen Cebren bes Evangeliums, um babureb feine Unver* 


51 


/ 


einbarfeit mit ben ntobernen fitttichen (Sruhbfäßett bar 3 uthun unb 
bic Hnbrauchbarfeit biefer Hetigion 3 U errveifem (Einen eigentüm* 
lid^en Kustveg, eigentlich ein probuft ber Per 3 tveiflung, haben bie 
fathotifchen Kirchen gefunbem , Sie ernennen, tvie bemerft, ben 
tveltverneinenben (Eharafter bes (Evangeliums an unb lehren bem 
entfpredjenb, baß bas eigentliche chriftliche Ceben nur in ber 5orm 
bes Hlönchtums — bas ift bie „vita religiosa“ — 3 um Kusbrucf 
fomme; aber fte taffen ein „nieberes" Chriftentum ohne Ksfefe als 
, r noch ausreichenb" 3 m Piefe merftvürbige Kon 3 effion mag bixev 
auf ftch beruhen bleiben: baß bie solle Nachfolge Chrifti nur ben 
KTönchen mögtich ift, ift fathotifche Cehre. Heit ihr hat ein großer 
Philofoph unb noch größerer Schriftftetter unferes 3ahrhunberts 
gemeinfame Sache gemalt: Schopenhauer feiert bas (Ehriftentum, 
meit unb fofern es große Ksf eten tvie ben heiligen Kntonius ober 
ben heiligen 5 ranciscus ertveeft hat; tvas barüber hmaustiegt in 
ber chriftlichen Perfünbigung, erfcheint ihm unbrauchbar unb an* 
ftößig* Jn siet tieferer Betrachtung als Schopenhauer unb mit 
einer h™reißenben Kräftigfeit ber (Empftnbung unb H1acht ber 
Sprache hat jE^XÜoi bie asfetifchen unb rvettftüchtigen <?>üge bes 
(Evangeliums ausgehoben unb 3 ur Hochachtung 3 ufammengefaßt 
Htan fann auch nicht verfennen/ baß bas asfetifdje 3 beat, tvelches 
er bem (Evangelium entnimmt, tvarm unb ftarf ift unb ben Pienft 
am Hächften einfehtießt; aber bie XPettftucht erfcheint auch bei ihm 
als bas (Eharafteriftifche* Caufenbe unferer „(Sebitbeten" Iaffen 
fid^ burd) feine (Er 3 ählungen ah* unb aufregen; aber im tiefften 
(5runbe finb fte beruhigt unb erfreut, baß bas (Ehriftentum IPett* 
Verneinung bebeutet; benn nun tviffen fte beftimmt, baß es fte nichts 
angeht VCixt Hecht finb fie nämlich getviß, baß ihnen biefe XPelt 
gegeben ift, um ftch innerhalb ihrer (Süter unb 0rbnungen 3 U 
betvähren; verlangt bas (Ehriftentum ettvas anberes, fo ift feine 
XPibernatiirtichfeit ertviefem ZPeiß es biefem Ceben feinen «gtveef 
3 u feßen, verfchiebt es altes auf ein 3 enfeits, erftärt es bie irbifdjen 
(ßiiter für' umvert unb leitet es ausfehtießtid? 3 ur XPettftucht unb 
3 u einem befchaulichen Ceben an, fo beteibigt es alte tEhatfräftigen, 
ja leßttich alte rvahrhaftigen Haturen; benn biefe finb getviß, baß 
uns unfre ^ähigfeiten gegeben finb, bamit rvir fie gebrauchen, unb 
bie (Erbe uns 3 ugetviefen ift, bamit rvir fie bebauen unb beherrfchen. 

Kber ift bas (Evangelium nicht tvirflich rveltverneinenb? (Es 
finb fef>r befannte Stetten, auf bie man fich beruft unb bie eine 

4* 










52 


anbere Peutung nicht jujulaffen fchehten: „ärgert bich bcin Auge, 
fo reiß es aus urtb mirf cs Dort bir; ärgert bich beirtc fjanb, fo 
ftaue fte ab," ober bie Antmort an ben reichen 3üngling: „(ScE?c 
Ijtn urtb oerfaufe altes, mas bu haft, fo mirft bu einen Schaß 
im Ejimmel haben/' ober bas IPort non benen, bie fich um bes 
£jimmelreid)s mitten felbft nerfchnitten haben, ober ber Spruch: „So 
jernanb 3 U mir fommt unb haftet nicht feinen Pater, ATutter, IPeib, c 
Kinber, Brüher, Schmeftern, auch ba 3 U fein eigenes £eben, ber fann 
nicht mein 3iinger fein." Hach liefen Aborten unb anberen fcfteint 
es ausgemacht, baß bas (goangelium burcftaus meltflüchtig unb 
asfetifch ift» Aber ich [teile biefer (Lhcfe brei Betrachtungen 
gegenüber, bie in eine anbere Aidjtung führen. Pie erfte ift aus 
ber Art bes Auftretens 3cfu unb aus feiner £ebensfüt)rung unb -an- 
tueifung gemonnen; bie scoeite grünbet ftch auf ben €inbrucf, ben 
feine 3 iirtgetr non ihm gehabt unb in ihrem eigenen £eben mieber* 
gegeben haben ; bie britte enbiief) murjelt in bem, mas mir über 
bie „(Srunbjüge" bes ©Dangeliums ausgeführt haben. 

f. 3n unferen ©Dangetien finben mir ein merfmürbiges IPort 
3 «fu; es lautet: „ 3 ohannes ift gefommen, aß nicht unb tranf nicht; 
fo fagen fie: <£r hat ben Ceufet. Pes ATenfchen Sohn ift gefommen, 
iffet unb trinfet; fo fagen fie: Siehe mie ift ber ATenfd? ein Treffer 
unb ein IPehtfäufer." Alfo einen Treffer unb IPeinfäufer hat man 
ihn genannt neben ben anberen Schmähnamen, bie man ihm gab. 
hieraus geht beutlich h^or, baß er in feiner ganzen Ejattung unb 
Cebensmeife einen anberen ©nbruc! gemacht hat als ber große 
Bußprebiger am porban. Unbefangen muß er ben (gebieten, 
auf benen herkömmlich Asfefe getrieben mürbe, gegenüber geftanben 
haben, IPtr fehen ihn in ben ffäufern ber Aeicften unb ber Armen, 
bei ZHahtjeiten, bei grauen unb unter Kinbern, nach ber ftber= 
Iieferung aud) auf einer fjod^eit. <£r läßt ftch bie 5 iiße mafdjen 
unb bas löaupt falben. ADeiter, er fehrt gern bei ATaria unb 
ATartha ein unb ocrlangt nicht, baß fie ihr £faus nerlaffen. Auch 
biejenigen, bei benen er freubig einen ftarfen (glauben finbet, läßt 
er in ihrem Beruf unb Stanb. IPir hören nicht, baß er ihnen 
3 uruft: (gebt alles preis unb folgt mir nach. Aügenfcheinlid) hält 
er es für möglich, ja für angemeffen, baß fte ihres (glaubens an 
ber SteEe leben, an bie fie (gott gcftellt hat. Sein 3üngerfrcis 
erfdjöpft ftch nicht in ben menigen, bie er 3 U birefter Hachfolgc 
auf gerufen hat. (gottesfinber finbet er überall; fte in ber Per- 


53 


borgcnheit 511 entwerfen unb ihnen ein IHort ber Kraft fagen 3a 
bürfen, ift il’in bie böciiftc ^reube. 215 er auch feine 3ünger bat 
er nicht als einen HTöncbsorben organifiert: ir>as fie 3U tbun unb 
3U laffen haben im teben bes Cages, barüber bat er ihnen feine 
Porfchriftcn gegeben. IPer bie ©oangelien unbefangen lieft unb 
nicht Silben fiictjt, ber muff erfennen, bafj man biefen freien unb 
lebenbigen (Seift nicht unter bas 3 od) ber Hsfefe gebeugt finbet, 
unb baff baher bie fPorte, bie in biefe Hichtung meifen, nicht 
nerfteift unb uerallgemeinert merben biirfen, fonbern in einem 
meiteren «gufammenhange unb non einer höheren tüarte ju beur* 
teilen ftnb. 

2. <£s ift gemifj, bafj bie 3ünger 3efu ihren HTeifter nicht 
als meltftiichtigen Hsfeten uerftanben haben.- iPir merben fpäter 
fehen, welche ©pfer fie fiir bas (Euangelium gebracht unb in 
melchem Sinne fie auf bie tPelt üerjichtet haben — aber offenbar 
ift, fie haben nicht asfetifdje Übungen in ben Porbergrunb gefteilt; 
fie haben bie Hegel aufrecht erhalten, bafj ein Arbeiter feines 
Cohnes wert fei; ftc haben ihre 5 rauen nicht fortgefchieft. Hon 
Petrus mirb uns 3ufällig erzählt, bafj ihn fein IPeib auf feinen 
Htiffionsreifen begleitet hat. IPenn mir non bem Berichte über 
ben Perfuch in ber ©etneinbe 3U 3 erufalem abfehen, eine 2lrt uon 
Kommunismus herzuftelten — unb mir bürfen ihn bei Seite laffen, 
ba er un3ur>erläfftg ift unb aujjerbem nicht asfetifchen dliarafter 
getragen hat —, fo ftnben mir im apoftolifchen Zeitalter nichts, 
mas auf eine ©emeinfehaft prin3ipieller Ksfeten hinbeutet, bagegen 
überall bie Überzeugung als bie bcn'fchcnbe, bafj man in feinem 
Beruf unb Stanb, innerhalb ber gegebenen Perhättniffe, ein dhrift 
fein folt. tPic anbers ift bem gegenüber t>on 2lnfcmg an im 
Bubbhismus bie dntmicflung »erlaufen! 

3 . — bas ift bas dntfebeibenbe —ich erinnere Sie an bas, 
mas mir in Be3ug auf bie leitenben ©ebanfen Jcfu ausgeführt 
haben. 3 n ben Hing, ber bureb ©ottoertrauen, Demut, Sünbein 
nergebung unb Hächftenliebe bezeichnet ift, fann feine anbere 
Hiajüme, am menigften eine gefefcliche, cingefchoben merben, unb 
er macht es zugleich offenbar, in melchem Sinne bas ©ottesreich 
bie „IPelt" 3U ihrem ©egenfafce hat. IPer ben IPorten: „Sorget 
nidjt", „Seib barmherzig mie euer Pater im ijinnnel barmherzig 
ift“, 2c. ctmas Ksfetifdjes mit bem 2 lnfprucb auf gleiche IPert* 
fchäfcung zuorbnet, ber »erfleht ben Sinn unb bie Roheit biefer 





— 54 


Sprüche nicht, 5er Iiat bas (Befühl bafiir uerlorcn ober nod} nicht 
gemonnen, baß es einen .gufammenfchluß mit (Sott gicbt, ber alle 
fragen ber JPeltflucht unb Hsfefe hinter ficf) läßt. 

2lus biefen (Sriinben rnüffen mir es ablehnen, bas Euangelium 
als eine Potfchaft ber iPeltuerneinung 311 uerftehen* 

2 lber 3 efus fpridjt uon brei 5 etnben, unb ihnen gegenüber 
giebt er nicht bie Cofung aus, fie 3 U fliehen, fonbern er befiehlt,' 
fie 3 U uernichten. Diefe brei feinbe finb ber Mammon, bie) - 
5orge unb bie Selbftfucht. Peadtfen Sie mohh non flucht ober 1 
Perneinung ift hier nicht bie Hebe, fonbern uon einem Kampfe, 
ber bis 3 m Pernid)tung geführt/ merben foll; jene ftnftern HTädjte 0 
follen niebergerungen merben. Unter UTammon uerfteht er irbifdjes 
(Selb unb (Sut im meiteften Sinn bes JPorts, irbifdjes (Selb unb 
(Sut, melches ftdj junt fjerrn über uns unb uns ’ 3 u Cyrannen über 
anbere machen miE; benn (Selb ift „geronnene (Bemalt". JPie 
uon einer perfon rebet baher 3 efus uon biefem feinbe, mie menn 
es fidj um einen gemappneten Hitter ober um einen König, ja 
mie menn es fich um ben Ceufel felbft hobelte. 3 hm gegenüber 
gilt bas H)ort: „ 3 h r fönnet nicht 3 meien fjerrn bienen." U)o nur 
immer irgenb etmas aus öent (Sebiete biefes HIammons einem 
HTenfdjen fo mertuoE mirb, baß er fein hjer, baran hängt, baß 
er uor bem Perlufte gittert, baß er nicht mehr bereit ift, es miEig 
preis 3 ugeben, ba ift er fdjon in Panben gefchlagen. Deshalb foE 
ber £h r ift/ menn er biefe (Befahr für fid) fühlt, nicht paktieren, 
fonbern fämpfen, unb nicht nur fämpfen, fonbern ben UTammon 
abthun. (Semiß, menn Ehriftus heute unter uns prebigte, er 
mürbe ba nicht aEgemein reben unb allen 3 urufen: „(Bebt 
aEes meg," aber 311 Eaufenben unter uns mürbe er fo fpredjen, 
unb baß faunt (Einer fich finbet, ber jene Sprüche bes Euange* 
liums auf fid) bestehen 3 U müffen meint, foE uns mohl bebenf« 
lieh machen. 

Unb bas 3meitc ift bie Sorge. Es mag uns auf benerften: 
Blid befremblidj erfdjeinen, baß fie uon 3 efus als ein fo furcht* 
barer 5 einb be 3 eichnet mirb. Er rechnet fie 3 um „fjeibentum". 
§mar hat auch er im Paterunfer beten gelehrt: „Unfer Prot für 
ben morgenben Dag gieb uns Cag um Cag"; aber foldje suuer* 
ftchtlidje Pitte nennt er nicht Sorge. Er meint jene Sorge, bie 
uns 3 U furchtfamen Sflauen bes Cages unb ber Dinge macht, jene 
Sorge, burch melche mir ftücfmeife an bie IPelt uerfaEen. Sie ift 


55 


i^rrt ein Attentat (Sott gegenüber, ber bie Sperlinge auf bem Padje 
erhält; fie 3 erftört bie (Srunbbejiefyung 3 utn ^immlifc^en Pater, bas 
f inbliche Pertrauen, unb uernichtet fo unfer inneres IPefen, Und? 
in biefem punfte, mie in Be 3 ug auf ben Hfamnton, muffen mir 
befennen, nicht ernft unb tief genug 3 U empftnben, um ber prebigt 
3efu in uollem Umfang Hecht 3 U geben, Uber es fragt fich, mer 
recht £?at — (Er mit bem unerbittlichen „Sorget nichts ober mir 
mit unferen Ubfchmächungen —, unb etmas bauon fühlen mir 
mohh fraß ein Hlenfch bann erft mirflich frei, fräftig unb unüber* 
minblich ift, menn er alle feine Sorge abgeftreift unb auf (Sott 
gemorfert hat, Was fönnten mir ausrichten unb melche UTacfyt 
mürben mir beftßen, menn mir nicht forgten! 

Unb enblich brittens: bie Selbftfudjt. Selbftoerleugnung, 
nicht Usfefe ift es, mas 3efus h^r oerlangt, Selbstverleugnung 
bis 3 ur Selbftentäußerung, „Ürgert bich bein Uuge, fo reiß es 
aus; ärgert bich beine fjanb, fo haue fie ab/' XPo nur immer 
ein finnlicher Crieb in bir übermächtig mirb, fo baß bu gemein 
mirft ober bir ein neuer fjerr in beiner (Eigenluft entfteht, ba follft 
bu ihn uernichten — nicht, meil bie Perftümmelten gottmohlgefättig 
finb, fonbern meil bu bein befferes Ceil anbers nicht 3 U bemahren 
oermagft, Vas ift ein hartes IPort. (Es mirb auch nicht erfüllt 
burch eine generelle Per 3 ichtleiftung, mie bie HTönche fie üben — 
nach ih r femn alles beim alten bleiben —, fonbern nur burch 
einen Kampf unb bie entfdjloffene (Entäußerung am entfeheibenben 
punfte. 

Ulten biefert 5einben, bem UTammon, ber Sorge unb ber 
Selbftfucht, gegenüber gilt es, Selbstverleugnung 3 U üben, unb 
bamit ift bas Perhältnis 3 ur Usfefe beftimmt, Piefe behauptet 
ben Unmert aller irbifchen (Süter an fich* Pürfte man aus bem 
(Etvangelium eine Theorie entmicfeln, fo mürbe man nicht auf btefe 
Cehre geführt; benn „bie (Erbe ift bes fjerrn, unb mas barinnen 
ift", Uber nach bem (Stvangelium foll man fragen: Können unb 
bürfen mir Beftß unb (Ehre, 5reunbe unb Permanbte (Süter fein, 
ober habe ich fie ab 3 uthun? Wenn einige Sprüche 3efu ans hier 
in genereller Raffung überliefert unb mohl auch fo gefprochen 
finb, fo finb fie nach frem (Sefamtinhalt ber Heben 3 U begren 3 en, 
^eilige Selbftprüfung, ernfte XPachfamfeit unb Pernichtung bes 
(Segners verlangt bas (Etvangelium, Parüber aber fann fein 
gmeifel fein, baß 3efus in xviel größerem Umfange, als mir es 






56 


gern trabt - haben sollen, Selbftoerlcugnung unb (Entäußerung 
»erlangt bat. 

Raffen mir 3 ufammen: Hsfctifd? im prinsipieEen Sinn bes 
iDorts ift bas (Erangelium nidjt; benn es ift eine 23otfdjaft r>on 
bem <ßott»ertrauen, ber Demut, ber Sünbenrergebung unb ber 
Sarml^erjigleit: an biefe iföbe reidjt nichts anberes berait, unb 
in biefen Hing fann ft dt nidtts anberes einbrängen. iPeitcr, bie ° 
irbifdjen (ßüter ftnb nidjt bes Ceufels, fonbern (Sottes — „€uer 
tjimmlifdjer Dater weiß, baß itjr bies aEes bebürft; er fleibet bie 
Cilien unb ernährt bie Dögel unter bem bjimmel." Hsfefe tjat 
überhaupt feine 5teEe im (Erangelium; es »erlangt aber einen 
Kampf, ben Kampf gegen ben HTammon, bie Sorge unb bie 
Selbftfucfjt, unb es »erlangt unb entbinbet bie Siebe, bie ba 
bient unb fid) opfert, 3ener Kampf unb biefe Ciebe ftnb bie 
„Ksfefe" im erangelifdjen Sinn, unb t»er ber Derfünbigung 3efu 
eine anbere aufbiirbet, ber »erfennt es. i£r »erfennt feine fjotjeit 
unb feinen <£rnft; benn es giebt nod) cttr>as «Ernfteres als „feinen 
Seib brennen taffen unb feine £jabe ben Hrnten geben", nämlidj 
Sclbftitcrleugnung unb Siebe. 

2. Das «Eraftgelium unb bie Hrmut, ober bie fojiate 

5rage. 

Dies ift bie streite 23e3iefjung bes <£»angeliums, treldje mir 
ins Kuge faffen moEten, unb fie ift mit ber erften naije »ermanbt. 
Kudj Ijier trieber begegnen uns in ber ©egenrrart rerfdjiebene 
Hnfdjauungen, best». 3 t»ei Knfdjauungen, bie ftd? gegenüber ftefjen. 

Die einen fagen uns, bas €»angelium fei in ber ffauptfadje eine 
große fosialc Hotfdjaft für bie Krmen getrefen, aEes anbere an 
tljm fei ettras Sefunbäres — seitgefdjidjtlidje fjüEen, alte Über» 
lieferungen ober Kmbilbungen burdj bie erften (ßenerationeri. 3efus 
fei ein großer fosialer Heformer getoefen, ber bie in tiefem <£Ienb 
fdjmadjtenben unteren Stänbe fjabe befreien troEen; er ijabe ein 
fosiales Programm aufgefteEt, rreldjes bie (ßleidjfjeit aEer HTenfdjen, 
bie Befreiung aus mirtfdjaftlidjer Hot unb bie «Erlöfung »on Drud 
unb Kbel enthalten fjabe. So aBein, fügen fte f)irt 3 u, fönne man 
ifjtt »erftefjen, unb fo fei er getrefen, ober »ieüeidjt — treil t»ir 
tftn nur fo »erftefjen fönnen, ift er fo getrefen. Seit 3aljren 
merben Hrofdjürcn unb Hüdjer in biefem Sinne über bas <£van- 


57 


gelium gefcbricben, gutgemeinte Barftellungen, bie 3 efus ©hriftus 
auf biefe IBcifc oerteibigen unb empfehlen wollen. Tiber unter 
bcnen, welche bas ©oangelium für eine wefentlid; feciale Botfchaft 
batten, ftnben ficb aud) folche, bie ben umgefebrten Schluß 3 ief)en; 
3 nbcm fte nadtfuweifen fudjen, baß in ber Perfünbigung 3 efu 
alles auf eine wirtfdjaftliche Umgeftaltung hinauslaufe, erflären 
)ie bas ©oangelium für ein gan, utopifches, unbrauchbares pro* 
gramm: 3 efus febaute mit einem fanften, aber blöben BltcF in 
biefe IBelt hinein; aus ben unteren unb gebrüeften Stäuben auf* 
taudjenb, teilte er ben Tlrgwotjn ber fleinen £cute gegen bie ©roßen 
unb Reichen, oerabfeheute alten gewinnbringenben ^anbel unbiBanbet, 
oerfannte bie Botwenbigfeit bes ©ütererwerbs unb fpielte bemge* 
maß fein Programm barauf hinaus, eine allgemeine JIrmut in ber 
;,tBett" — bafür hielt er paläftina — 3 U uerbreiten unb bann im 
©egenfaße' su bem irbifefjen <£lenb fein „Himmelreich" 3 « erbauen, 
ein Programm, an ftd? unburdjführbar unb fräftige Baturen ab* 
ftoßenb. So ungefähr urteilt ein anberer ©eil unter benen, bie 
bas ©oangelium mit einer fokalen Botfchaft ibentifoieren. 

2 tber biefer ©ruppe, bie, in ber Betrachtung einig, in ber 
Beurteilung auseinanber geht, flehen anbere gegenüber, bie einen 
gatt 3 entgegengefeßten ©inbrucf oom ©oangclium. aufgenommen 
haben. Sie erflären, jebe birefte ©eilnahme 3efu an ben wirt* 
fdjaftlichen unb fo 3 ialen <§uftänben feiner §eit, unb noch mehr, 
jebe prinjipiellc ©eilnahme an öfonomifchen fragen überhaupt 
merbe in bas ©oangelium lebiglidj tjineingelefen; biefes habe mit 
nürtfchaftlichen fragen fchledjterbings gar nichts 3 U thun. 3 efus, 
fo jagen fic, hat wot)l Bilber unb parabigmen jenen ©ebieten 
entlehnt unb hat ftch auch perfönlid) ber ©lenben, Firmen unb 
Kranfen beglich angenommen; aber feine rein rcligiöfe prebigt 
unb feine Heüanbswirffamfcit habe bie Berbeffcrung ber irbifdjen 
Sage jener £eute fd}Ied)terbings nicht ins Tluge gefaßt; man oer- 
weltliche baher feine <gwede unb Tlbfichten, wenn man fte auf 
fosialc Bert>ältniffe be 3 iehe. 3 a , es giebt nicht wenige unter uns, 
bie ihn für einen „Konferoatioen", wie fte felbft ftnb, halten: er 
habe als „gottgefeßt" alles refpeftiert, was an fo 3 ialen Unterfchiebcn 
unb ©rbnungen bantals oorhanben war. 

Sie erfennen, hier finb fct)r oerfchiebcne Stimmen laut ge¬ 
worben, unb mit Ifartnäcfigfeit unb ©ifer werben bie oerfd)iebenen 
Stanbpunfte oertreten. iBenn wir nun oerfudten wollen, bie ben 




58 


Chatfachen entfprechenbe Stellung 3 u finben, fo haben mir eine 
fur 3 e 3 citgefd)ichtlichc Dorbemcrfung 3 u machen. 

Die fo 3 ialen Suftänbe, mic fie im Zeitalter 3efu unb fdion 
geraume Seit norber in paläftina Eierrfdjten, finb uns nicht hin» 
reidjenb befannt. 2lber gemiffe fjaupt 3 üge permögen mir feft 3 u= 
ftellen unb fönnen namentlich ein Doppeltes fonftatieren: 

Die tjerrfdjenben Klaffen, 3 u meldjen por adern bie pba» 
rtfäer unb auch bic priefter gehörten — biefe 5, C. uerbunben mit 
bcn irbifdjcn 2Nad)thabern —, befaßen menig fjer 3 für bie Hot 
8es armen Dolfes. <gs mag nicht oiel fchlimmer gemcfen fein, als 
es bet jenen Klaffen 3 u aden Seiten unb bei aden Dölfern 3 ugeljt, 
aber es mar fdjlimm. Unb es fam hier noch h‘n 3 u, baß bas 3n- 
tereffe für ben Kultus unb für bie fultifche „(Seredjtigfeit" bic Sei U 
nahme für ben Krnten unb bie 23armher 3 igfeit 3 urücfbrängtc. Die 
Bebrücfung unb Cyrannei feitens ber Reichen mar längft ein ftehem ' 
bes unb unerfchöpfliches Shema ber pfalmiften unb ader märmer 
€mpfinbenben gemorben. 21 ud) 3efus hätte nicht fo pon ben Heichen , 
fpredjen fönnen, mic er gefprodjen hat, menn fie nicht bamals in 
gröblicher JDeife ihre pflichten pernachläffigt hätten. 

2. 3n ben Kreifen bes gebrüdten unb armen Dolfes, in biefcr 
großen Klaffe non Kot unb Übel, unter jenen 3 ahlreichen Ceuten, 
für bic bas U?ort „<£Ienb" oft nur ein anberer 2lusbrucf für bas 
JDort „Ceben", ja bas Cebcn felbft ift — in biefem Dolfe hat es, 
mic mir ftcher erfennen fönnen, bamals Kreife gegeben, bie mit 
3nbrunft unb unerfchütterlicher Hoffnung an ben Sufagen unb 
Cröftungen ihres (ßottes hingen, in Demut unb <5ebulb martenb 
auf ben Sag, ba ihre «grlöfung fommen merbe. ©ft 3 u arm, um 
auch nur bie bürftigften fultifchen Segnungen unb Dorteile ermerben 
3 u fönnen, gebrücft unb geftoßen, in Ungerechtigfeit inißhanbelt, 
fonnten fie nicht 3 um Ccmpcl auffdjauen; aber fie blicften auf ben 
«ott 3sraels, unb heiße (Sebete ftiegen 3 u ihm empor: „fjüter, 
ift bie Kadjt fdjier hin?" So mären fie aufgefdjloffen unb em= 
pfänglid) für (Sott, unb in manchen pfalmen unb ber ihnen per» 
manbten fpäteren jübifdjen Citteratur ift bas XDort „bie 2lrmcn" 
gerabe 3 u eine 23e 3 eid?nung für bie «empfänglichen, bie auf ben Sroft 
3sraels marteten. Diefen Sprad^gebrauch fanb 3efus por unb hat 
fich ihm angefdjloffen. JDir fönnen baher, menn mir in ben <£pange» 
üen auf bas füort „bie 2lrmen" ftoßen, nicht ohne meiteres nur 
an bie mirtfchaftlich 2lrmen benfcn. Cliatfäd][ich fiel bamals bie 


59 


v 


mirtfchaftlicfye Krmut unb bie religiöfe Demut unb Kufgefchloffem 
heit (im (Segenfafc 3 m: fublimen „tEugenbübung" ber pharifäer unb 
ifyrer Koutine in ber „(Serechtigfeit' 4 ) in meitem Umfange 3 ufammcn. 
War bies aber ber bcrrfcfyenbe «guftanb, bann ift beutlich, ba§ mir 
unfere tätigen Kategorien „arm unb reich" nicht ohne Umftänbe 
auf jene <§eit übertragen bürfen* Doch follen mir nicht uergeffen, 
ba§ in bem U)ort „Krme" in ber Kegel auch bamals bie mirt* 
fchaftliche Kot miteingefchloffen mar* XDir merben baher in ber 
nächften Dorlefung 3 U unterfudhen heiben, in melcher Hichtung 
mir Unterfcheibungen 3 U machen oermögen, be 3 m* ob es möglich ift, 
ben. Sinn ber Xüorte 3efu 3 U treffen trot$ ber eigentümlichen 
Schmierigfeit, bie in bem Begriff ber „Krmut" liegt Doch fönnen 
mir im voraus bie Hoffnung fygm, h^^ nicht im Dunflen bleiben 
3 U muffen; benn bas (Euangelium in feinen ( 5 runb 3 Ügeit mirft auch 
einen halten Schein auf bas (Sebiet biefer 5 rage + 






IBorlBjHng. 


3d? habe am Schluß ber lebten Dorlefung auf bas Problem 
hmgewiefen, welches bie „Firmen" im <£»angclium bieten. Die 
2trmen, bie Jefus in ber Hegel im 2 tuge hat, ftnb auch bie <£mpfäng* 
Iid;en, unb bah er ift bas, was »on ihnen gefagt wirb, nicht ohne 
weiteres auf Hrme überhaupt anjuwenben. Wir miiffen baljer aus 
bem gufammenbang, ber uns Ijier befefjäftigt, alle bie Sprühe 
3 efu ausfdjeiben, bie offenfunbig auf bie „geiftliche" Hrmut ftdj 
bejiehen. Hierher gehört 3. 23. bie erfte Seligpreifung, mag man 
fte nun in ber Raffung bes £ufas ober bes Hlatthäus gelten laffen; 
benn bie iBjr 3 ugeorbneten Seligpreifungcn ftellen es ftdjer, baß 
3 efus an bie innerlich empfänglichen Hrmen gebacht hat. 2 lber 
wir haben nicht bie <§eit, alle einseinen Sprüche burd) 3 ugehen; es 
muß genügen, burch einige Hauptbetrachtungen bie wichtiaften 
punftc feftjuftellen. 

3efus hat ben 23eftß irbifcher (Sütcr als eine fdjwere <Se= 
fahr für bie Seele betrachtet, weil er harzig macht, in irbifche 
Sorgen »erftrieft unb 3 u gemeinem Wohlleben »erführt. (Ein 
Heidjer wirb fdjwerlich ins Himmelreich fomnten. 

2 . Die Behauptung, 3efus habe eine allgemeine Derarmung 
unb Derclenbang fo 51t fagen gewünfdjt, um bann über biefen 
miferablen <§uftanb fein Himmelreich heraufsufüljren — eine 23ebanp= 
tung, ber man in »erfcfjiebenen Wcnbungen begegnet —, ift falfdj. 
Das (Segenteil ift richtig. <£r hat Hot Hot unb Übel Übel genannt.* 
Weit entfernt, fte 3 U begünftigen, hat er bas lebenbigfte unb fräf« 
tigfte 23eftreben gehabt, fte 3 U befämpfen unb 3 U befeitigen. Sein 
ganses Wirten ift auch in liefern Sinne Heilanbswirfen gewefen, 



61 


b* Br. ein Kampf gegen bas ftbet unb gegen bie Hot 3a man 
formte faft meinen, baj$ er bas niebe^mingenbe (Semicfyt bes 
<£Ienbs unb ber Krmut 3 U fyocfy tariert, ba§ er ftd? 3 uniel bamit 
abgegeben Bjabe, unb ba§ er ben Kräften, bie biefetn <§uftanbe 
gegenüber mirffam fein follett — bem Hlitleib unb ber Barmfye^ig* 
feit — eine 3 U große Bebeututtg im (San 3 en ber fittlicfyen Cebens* 
bemegung 3 ugefprod)ett Bjabe. ^reilid? aud) bies märe nietet richtig; 
benn er fennt eine HTacfyt, bie er nodr für fcfylimmer Bjält als Hot 
unb <£Ienb, bas ift bie Sünbe, unb er meiß oon einer Kraft, bie 
noefy befreienber ift als bie Barmfye^igfeit, bas ift bie Vergebung* 
darüber läßt fein Heben unb fein fjanbeln feinen gmeifel. 5eft 
ftefyt alfo: 3 e f U5 fy<*t bk Krmut unb bas filettb nie unb nirgenbs 
fonferuieren mollert, fonbern er fyat fte befämpft unb jn befätttpfett 
feigen* diejenigen CBjriften, bie im Caufe ber Kircfyengefcfyicfyte 
aufgetreten finb, um bie Bettelei 3 U protegieren unb eine allgenteine 
Derartnuttg art 3 uraten, ober bie in fentimentaler IDeife mit ber Hot 
unb bem (Slenb fofettieren, fönnert ftd? nicfyt mit 5 ug auf ifyn 
berufen. IDofyl aber Brat er betten, bie ifyr gatt 3 es Ceben ber Per* 
fünbigung bes (Soangeliums unb bem dienfte am IDort meinen 
mollen — er verlangte bas nidjt von allen, fonbern er fafy baritt 
einen befonberen (Sottesruf unb eine befonbere (Sabe — ifynen fyaf 
er befohlen, fte follen ftd? alles Beftßes, alfo aller irbifcfyen (Süter, 
entäußern. dodr fyat er fte besfyalb nicfyt auf bas Betteln uer* 
miefen. 5ie follen melmeBjr gemiß fein, baß fte ifyr Brot unb iBjre 
Hafyrung finben merben. IDie er bas gemeint Brat, bas erfalrren 
mir aus einem IDort uort ifym, meld]es 3 ufällig in ben (Eoangelien 
nicfyt enthalten ift, meldres uns aber ber Kpoftel paulus überliefert 
Bjat. <£r fdjreibt \. Kor. ty: „der I}err Brat befohlen, baß, bie bas 
(Soangelium trerfünbigen, jtdj and? uom (Snangelium nähren follen." 
Befißlofigfeit Brat er tron ben dienern am IDort, b. Bj. tron ben 
HTiffionaren, verlangt, bamit fte gan 3 ifyrent Berufe leben fömten. 
(£r Bjat aber nidjt gemeint, baß fte betteln follett. das ift eitt 
francisfanifcfyes IHißnerftänbttis, meines oielleicfyt nafye liegt, aber 
bod? uont Sinne 34 u abfüB^rt. 

(Seftatten Sie mir Brier eine fur 3 e Kbfcfymeifung. diejenigen, 
bie in ben cfyrifttidjen Kircfyen profefftonsmäßige (Snangeliften ober 
diener am IDort innerhalb ber (Semeinben gemorben ftnb, Bjaben 
es in ber Hegel nid?t für nötig gehalten, jene Knmeifuttg bes f}emt, 
fid] ber irbifcfyett (Süter 3 U entäußern, 3 U befolgen. Sofern es ftd? 





62 


um prteftcr be 3 w. paftoren itttb nid?t um ATifftonare £?anbelt, fann 
man aud; mit einigem Bed?te einwenben, baß fid? ber Befeljl auf 
fte nicht hejielic; benn er feßt bas Amt ber Ausbreitung bes 
«Euangeltums uoraus. Alan fann ferner fagen,- baß man aus beu 
Anwetfungen bes fferrn über bas (Sebot ber Ciebe hinaus feine 
utwerbrüd?lid?en (Sefeße mad?en bürfe, fonft fd?äbige man bie dtrifb 
hd;e Freiheit unb uerfdjränfe ber d?riftlid?en Religion bas liohe Aed?t 
m ihrer Ausgeftaltung bem (Sange ber (Sefd?id?te unbefangen folgen 
5 U burfen. Aber es läßt ftdj bod; fragen, ob bas £l?riftentum nid?t 
Augerorbentltdjes gewonnen l?ätte, wenn feine berufsmäßigen Wiener, 
bie Altffionare unb bie paftoren, jene Hegel bes fjerrn befolgt 
tjätten. ATinbeftens aber foßte es bei ihnen ftrenger (Srunbfaß fein 
ftd; um Beftß unb irbifd?e (Sitter nur fo weit ju fümmern, baß fie 
felbft md?f anberen 3 ur £aft faßen, barüber hinaus aber ftd? ß?retf 
'SU entäußern. Aber id? 3 weifle aud? nid?t, es wirb bie Seit fommen 
m ber man wol?IIebenbe Seelforger ebenfowenig mehr »ertragen 
wirb, wte man f?errfd?enbe priefter »erträgt; benn wir werben 
m btefer Bestehung feinfühliger, unb bas ift gut. Alan wirb es 
mdtt mef?r für fd?idlid?, im höheren Sinn bes Wortes, galten, baß 
jetnanb beu Armen «Ergebung unb <3ufriebctt[?eit prebigt, ber felbft 
wohßiabenb ift unb um bie Derme£?rung feines Befißes eifrig forgt. 
,€in (Sefunber mag wof?I einen Kranfen tröften; aber wie foll ber 
Beftßenbe ben Befißlofen non bem An wert ber (Süter über 3 eugen? 
Die Anweifung bes fferrn, baß ber Diener am Wort fid? bes 
trbt)d?en Befißes 5 u entäußern £?at, wirb in ber (Sefd?icf?te feiner 
(Senteinbe noefy 511 (£t>ren fommen* » 

3. «Ein fojiales Programm in Be 3 ug auf Aberwinbung unb 
Beseitigung r>on Armut unb Bot — wenn man barunter gan 3 
beftimmtc Anorbnungen unb Dorfd?riften »erfleht — I?at 3efus nid?t 
aufgefteßt. «Er f>at fid; nid?t in wirtfd?aftlid?e unb 3 eitgefd?id?tlid?e 
Derbältniffc »erftrieft. ffätte er es get£?an, I;ätte er (Sefeßc gegeben, 
bie für paläftina nod? fo I?eilfam gewefen wären — was wäre 
bamit erreicht worben? Sie wären I?eute riüßltd? gewefen unb 
morgen »eraltet, unb fie l?ätten bas «Euangelium belaftet unb »er= 
wirrt. Alan muß fid? aud? f?üten, fo!d?en Anweifungen, wie bie: 
„(Steb jebem, ber bid? bittet" unb äl?nlid?en, ib?r ATaß 3 u nehmen. 
Sic roollcn bod? aus ber <§eit unb ber Situation nerftanben fein* 
Sie besiegen fid? auf bie augenblidlid?e Bot bes Bittenben, bie mit 
einem Stücf Brot, einem Drurtf Waffer, einem Kleibungsftüd, um bie 


63 


Hlöge 3 u becfen, gefüllt ift XDir bürfeit nicht vergeffen, mir be* 
ftnben uns mit bcm (Evangelium im Drient unb in mirtfchaftlich 
3 ientlich unentmicfelten Derhältniffen. 34 U5 ift fein fataler Hefornter 
gerne fern (Er formte auch einmal ben Sat$ ausfprechen: „kirnte habt 
i^r alle 3 eit bei eudj", unb bamit, mie es fcheint, anbeuten, bajj fich 
bie Perfyältniffe nicht mef entlieh änbern mürben* <Erbfd]lichter moHte 
er nicht fein, unb taufenb 5 ragen bes mirtfchaftlichen unb Rialen 
Cebens mürbe er ebenfo 3 U entfeheiben abgelehnt haben mie bie 
Zumutung, eine <ErbfchaftsangelegenB>eit in (Bang 3 U bringen. Unb 
hoch hat man je unb je gemagt, aus bent (Evangelium ein fonfretes 
fo 3 iales Programm ab 3 uleiten. Und? evangelifche ^B^eologen haben 
es verfucht unb verfugen es noch* (Ein Unternehmen, an ftdj h°ff ä 
nungslos unb gefährlich, aber vollenbs vermirrenb unb unerträglich, 
menn man bie 3 ahlreichen „Cücfen", bie man im (Evangelium finbet,, 
burch altteftamentliche (Befere unb Programme „ergäbt". 

Hiemals, felbft im Hubbhismus nicht, ift eine Heligion mit 
einer fo thaifräftigen Rialen Hotfehaft aufgetreten unb hat [ich fo- 
ftarf mit ihr ibentiftjiert mie im (Evangelium. 3nmiefern? Weil 
mit bem IDorte: „Ciebe beinen Hächften mie bich felbft 7 ' hier 
mirflich (Ernft gemacht ift, meil 34 us mü biefem Worte hinein* 
geleuchtet h a t in alle fonfreten Derhältniffe bes Cebens, in bie- 
XDelt bes Jüngers, ber Urmut unb bes (Elenbes, enblich meil er 
jene Ulajäme als eine religiöfe, ja als bie religiöfe ausgefprochen 
hat. 3ch erinnere Sie nochmals an bas (Bleichnis vom jiingften 
(Beriet, in melchem bie gan 3 e 5rage nach bem XPerte unb ber 
«gufunft ber XTtenfehen von ber Übung ber Hächftenliebe abhängig, 
gemacht ift; ich erinnere Sie an bas anbere (Bleichnis von bem 
reichen VCiann unb bem armen Ca 3 arus. Unb noch eine (Befchichte 
möchte ich anführen, bie menig befannt ift, meil fie in biefer Raffung, 
nicht in unfern vier (Evangelien, fonbern im Xfebräerevangelium 
fleht. Dort ift bie (E^ählung vom reichen 3nngling alfo überliefert r 
„(Ein Heidjer fprach 3 um fjerrn: Uleifter, mas muß ich (ßutes 
thun, bamit ich bas.Ccben habe. (Er antmortete ihm: HTenfdj, 
halte bas (Befe^ unb bie Propheten. 3ener ermiberte ihm r 
Das habe ich gethan. (Er fprach 3 n ihm: (ßehe hin, ver* 
faufe alles, mas bu befifeeft, unb teile es ben Urmen aus unb 
fomm unb folge mir. Da fing ber Heidje an, fich ben Kopf 3 m 
fragen, unb bie Hebe gefiel ihm nicht. Unb ber fjerr fprach 311 
ihm: IDie fannft Du fagen, „3dj habe kas <^ e f c fe un b bie pro*- 





64 


freien gehalten", ba hoch im <5efefc gefchrieben ftefjt: £iebe beinen 
Jad,ftcn wie bictj felbft? Siehe, Diele beiner trüber, Söhne 
abrabams, hegen in fchmufcigen £umpen unb fterben ffungers, 
unb bem ffaus ift t>otl non nieten (Sütern, unb nichts fommt aus 
thm ju ihnen heraus." — Sie fehen, wie 3efus bie materielle Hot 
ber 2lrmen empfunben unb wie er bie abhülfe folcher Hot aus 
bem (ßebot: „£iebe beinen Hächften u>ie bict? felbft", abgeleitet hat. 

. x<t ^ oH r en ni . ci?t KOn ^tächftenliebe fprechen, bie es ertragen fönnen, 
ba§ neben ihnen HTenfchen im €lenb nerfümmern unb fterben 1 
Vas (Enangetium prebigt nicht nur 5otibarität unb ffütfeteiftung 
es hat an btefer prebigt feinen wefenttichen 3nhalt. 3n biefem 
5innc ift cs tm Ciefften fo 3 ialiftifch, wie es im Ciefften inbmibua= 
Itftifch tft, weil es ben unenblichen unb felbftänbigen XDert ieber 
em3elnen HTenfchenfecte feftftellt. Seine £enben 3 auf gufammew 
fchm§ unb Brüberltchfeit ift nicht fowohl eine jufäßige (Erfcheinung 
m feiner (ßefcfjichte ats metmehr bas wcfentliche (Element feiner 
Jtgenart. Das (Evangelium will eine (Semeinfchaft unter ben 
HTenfchen ftiften, fo umfaffenb wie bas menfchliche £ebcn unb fo 
tte «ne bie menfchliche Hot. <£s will, wie man richtig gefagt 
hat, ben So 3 taltsmus, ber ba auf ber Dorausfefcung wiberftreitew 
ber 3ntereffen ruht, umwanbeln in ben Sozialismus, ber ftch auf 
bem Sewußtfein einer geiftigen (Einheit grünbet. 3n biefem Sinne 
farm feine fojiate Botfdjaft überhaupt nicht überboterv werben. 
TOas ein „menfehenwürbiges Dafein" ift, barüber haben ftch im 
laufe ber gelten, (Sott fei Danf! bie Urteile fehr ueränbert unb 
»erf entert. aber auch 3efus fanntc biefen Kfaßftab. ffat er hoch 
einmal, faft mit Sitterfeit, über feine eigene £age geäußert: „Die 
5ud)fc haben (gruben unb bie Dögel unter bem fjimmel haben 
Hefter; aber ber Htenfchenfobn hat nicht, wo er fein ffaupt hm= 
legt." Die JDohnung, bas jureidjenbe tägliche Brot, bie Heinlich* 
fett — alle biefe Bebürfniffe werben »on ihm geftreift, unb er hat 
ihre Befragung für notwenbig erachtet, für bie Bebingung bes 
trbtfchen Dafetns. Kann einer fte ftch nicht fchaffen, fo follen bie 
anbern für ihn eintreten. Deshalb fann barüber fein gweifel 
[ em '„ baß 3efus heute auf feiten berer flehen würbe, bie ftch fräftig 
bemühen, bie fernere Hotlage bes armen Bottes 3 u finbern unb 
ihm beffere Bebingungen bes Dafeins 3 u fchaffen. Der täufchenbc 
f? ” on öem f rcien Spielraum ber Kräfte, bem „£eben unb leben 
taffen — „£eben unb fterben taffen", hieße es beffer — läuft bem 


65 


(Evangelium ftracfs entgegen. Unb nicht als unferen Knechten fallen 
mir ben Firmen Reifen, fonbern als unferen 3 rübern. (Enblich, 
ltnfer Beichtum gehört nicht uns allein. Das (Evangelium hat feine 
gefeßlichen Vorfchriften barüber gegeben, mie mir ihn gebrauchen 
follen; aber es läßt barüber feinen «gmeifel, baß mir uns nicht als 
Beftßer, fonbern als J^aus^alter im Dienft bes Häuften 3U be¬ 
trachten haben. 3 a, faft fcheint es, als habe 3 efus eine Verbinbung 
unter ben HTenfdjen für möglich gehalten, in ber ber Beichtum als 
privatbefiß im ftrengen Sinn nicht e^iftiert. Doch bamit haben mir 
eine 5rage berührt, bie nicht leicht 3U entfeheiben ift unb bie viel* 
leicht gar nicht aufgemorfen merben barf, meil bie (Eschatologie 
3 efu unb fein befonberer f^or^ont fyxev htneinfpielen. IVir brauchen 
fie auch nicht auf3umerfen; bas (Entfcheibenbe ift bie (Sefinnung, 
bie 3 e f U5 ^t^inut unb Bot gegenüber in feinen 3 üngern ent* 
3Ünbet hat. 

Das (Evangelium ift eine fo3iale Botfchaft von heiligem (Ernft 
unb erfdjütternber Kraft; es ift bie Verfünbigung ber Solibarität 
unb Brüberlichfeit 3U (Eunften ber Krmen. Kber biefe Botfchaft 
ift verbunben mit ber Knerfennung bes unenblidjen IVertes ber 
Hlenfchenfeele, unb fie ift eingebettet in bie prebigt vom Beidje, 
< 5 ottes. HTan fann auch fagen — fie ift ein mefentlicher Ceil bes 
3nhalts biefer prebigt. Kber (ßefeße unb Verorbnungen ober 
Knmeifungen, bie jemeiligen Verhältniffe gemaltfam 3U änbern, 
ftnben fid] in bem (Evangelium nicht. 

5 . Das (Evangelium unb bas Hecht, ober bie 5 rage nach 
ben irbifchen ©rbnungen. 

Das Problem, in meinem Verhältnis bas (Evangelium 3U bem 
Hed^te fteht, umfaßt 3mei Hauptfragen: bas Verhältnis bes <Evan* 
geliums 3ur ©brigfeit, 2. bas Verhältnis bes (Evangeliums 3U ben 
Bedjtsorbnungen überhaupt, foferrr biefe einen meiteren Spielraum 
haben als ber Begriff „©brigfeit". Die Kntmort auf bie erfte 
5rage ift nicht leicht 3U verfehlen; bie zweite 5tage ift vermiefetter 
unb fernerer; auch ejehen bie Urteile über fie meit auseinanber. 

3 efu Verhältnis 3ur ©brigfeit — foH ich noch ausbriicftich 
baran erinnern, baß er fein politifcher Bevolutionär gemefen ift, 
unb baß er auch fein politifches Programm aufgefteHt hat? (Er 
meiß gemiß, baß fein Vater ihm 3tvölf Cegionen (Engel 3ufchiefen 

^arnatf, IVefen b. Ojriflerttums. 5 





66 


t»ürbe, meint er ibn bäte; aber er bat ibn nidit. Als fie ibn gum 
Könige machen molltcn, entrind) er. <§ulcßt freilid), als er es für 
gut t)ielt, ftd) bem gangen Dolfe als ben UTeffias gu offenbaren — 
ber <£ntfd)Iuß unb feine Ausführung ftnb uns bunfel —, ba 50g 
er als König in 3 erufalem ein; aber er mäl)lte aus ber proptjetie 
bie <£rfd)einungsform, bie uon einer politifcfjen ATanifeftation am 
meiteften ablag, unb mie er fein meffianifdjes Ked)t oerftanb, bas 
geigt bie Austreibung ber Krämer aus bem ©empel. 3 " biefer 
Cempclreinigung manbte er ftd) nid)t gegen bie po!itifd)e ®brig= 
feit, fonbern gegen bie, meld)e fid) obrigfeitlid)e Heditc über bie 
Seelen angemaßt Ratten. 3 n jebent Dolfe etabliert fid? neben ber 
befugten CDbrigfeit eine unberufene, ober uielmeljr 3 m ei unberufene. 
3 )as ift bie po!itifd)e Kirche, unb bas finb bie poütifd)en Parteien. 
Die politifdje Kird?e, im meiteften Sinn bes IDorts unb unter fe£?r 
perfd)iebenen ZTTasfen, mill f;errfd)en; fie mill bie Seelen unb bie 
Ceiber, bie (Semiffen unb bie (ßüter. Dasfelbe molten bie poli-- 
tifd)en Parteien, unb inbem il)re Führer ftd) 3U £eitern bes Dolfs 
aufmcrfen, entmideln fte einen ©errorismus, ber oft fdjlimmer ift 
als ber Sd?reden föniglidjer Defpoten. So mar es aud) in pa= 
läftina 3ur §cit 2)efn. Die priefter unb bie pljarifäer hielten bas 
Dolf in tauben unb morbeten ibm bie Seele. (Segen biefe unbe» 
rufenc ©brigfeit geigte 3efus eine maB)rf)aft befreienbe unb erquicf enbe 
pietätslofigfeit. <£r ift nicht mübe gcmorben — ja er fteigerte fid) 
im Kampfe bis 3um fyeiligften 3 orn —, biefe „©brigfeit" 3U be= 
fel)beit, ihre füolfsnatur unb il?re ffeudjclei aufgubecfen unb iE>r 
bas <Serid?t angufünbigen. An ber Stelle, an ber fie befugt mar, 
ließ er fie gelten: „(Sehet I)in unb geiget eud) ben prieftern." So-- 
meit fie mirflid? bas (Sefeß (Sottes perfünbigten, erfannte er fie an: 
„ZDas fie eud) fagen, bas tbut." Aber eben biefen Ceuten f)ieft 
er bie furchtbare Strafprebigt Klattt). 23 : „K)et)e eud), Sdjriftge» 
lehrtet} unb pljarifäer^, iljr £feud)ler, bie it)r gleid) feib mie bie 
übertündjten (Sräber, meld)e ausmenbig Ijübfd) fd)einen, aber in» 
menbig ftnb fie polier Cotenbeine unb alles Unflats." (Segenüber 
biefer geiftlid?en „©brigfeit" I)at er alfo feine 3ünger mit einer 
heiligen pietätslofigfeit erfüllt, unb aud) non bem „Könige" fferobes 
l)at er mit bitterer 3 ronie gefprodjen: „(Sel)et fjin unb faget biefem 
5 ud?s." Dagegen ber mirf liehen ©brigfeit gegenüber, bie bas 
Sd)mert führte, ift feine ffaltung, fomeit mir nad) ben fpärlid)en 
Seugniffen 3U urteilen permögen, eine anbere. <£r erfannte % 


67 


thatfächüches Hecht an unb B;at fich beruf eiben niemals eutjogen. 
2 lud) bas Perbot bes <£ibes ift nicht fo ju uerftehen, bajj er ben 
©b cor ber ©brigfeit mitgemeint Ejat. mit Hecht bat JPellhaufeu 
geurteilt, es gehöre nur ein Körnchen Sal 3 bajn, um ben Sinn bes 
Perbots nicht 3 U rcrfeblen. Hnbererfeits mujjj man ftdj hüten, 3 efu 
Stellung jur ©brigfeit im. pofttmen Sinne 3 U überfdjäfcen. Plan 
beruft jtd; gemöhnlid) auf bas uiel citierte JPort: „(gebet bem Kaifer, 
mas bes Kaifers ift, unb (gott, mas (gottes ift." Hllein bies JPort 
mirb oft mifjrerftanben. Überall ba mirb es unrichtig gebeutet, tr>o 
man ihm ben Sinn geben 3 U bärfen meint, 3efus habe (Sott unb 
ben Kaifer als bie beiben irgenbmie nebeneinanber ftefjenben ober 
gar innerlich »erbunbenen (gemalten anerfannt. Daran bat er nicht 
gebadjt, oietmebr umgefcbrt bie «Trennung unb Sdjeibung ber beiben 
KTäcbte ausgefprochen. (gott unb ber Kaifer finb bie fjerren 3 meier 
gan 3 uerfchiebener (gebiete. Die Streitfrage, um bie es fich han« 
beite, löfte er eben baburd), baff er auf biefe Perfd)iebenbeit htn« 
mies, bie fo gro|j ift, bafj ein Konfltft gar nicht entfteben fann. 
Das Silberftiicf ift etmas 3rbifd)es unb trägt bas Bilb bes Kaifers; 
alfo gebe man cs bem Kaifer; aber — bas ift bod] mobl bie <£r- 
gänsung — bie Seele unb alle ihre Kräfte Safran bamit gar nichts 
5 u tl;un; fie gehören (gott. Die Permengung ber (gebiete hat 
3 efus abmehren mollen: bas ift sunächft bas (Sntfcheibenbe. £jat 
man bies allem 3 u»or betont, bann mag man auch binjufügcn, 
mic bebeutfam es fei, bafj 3 e f us 3 um (gehorfam gegen bie Steuer« 
forberungen bes Kaifers au'fgeforbert hat- (gemifj, bas ift midjtig: 
er felbft refpeftierte bie ©brigfeit unb moltte, bafj fie refpeftiert 
mcrbe; aber in Bc 3 ug auf ihre JPertfchähung ift bas JPort 
minbcftens neutral. 

Dagegen bcftfcen mir noch ein anberes JPort 3efu in Besug 
auf bie ©brigfeit, melches fehr nie! feltener 3 itiert mirb unb hoch 
tiefer in bie (gebanfen bes Jjerrn einführt als bas eben befprodjene. 
JPir mollen es fürs betrachten; es mirb uns auch beshalb midjtig 
fein, meil cs übcrjulcitcn nermag 3 ur Betrachtung ber Stellung, 
bie 3 efus 3 U ben Hechtsorbnungen überhaupt eingenommen hat. 
Bei JlTarfus c. \d, ^2 lefen mir: „3efus rief feine 3ünger unb 
fprad) 3 U ihnen: „ 3 hr miffet, bafj bie, meldje als Jjerrfdjer 
gelten unter ben Pölfern, (gemalt gegen fie brauchen unb bie 
Prächtigen unter ihnen JKadjt gegen fie üben. So aber ift’s nicht 
bei euch; fonbern mer unter euch örofj merben mill, ber mirb euer 

5* 









— 68 — 

Wiener [ein, urtb mer unter eud? ber erfte fein milt, ber mirb 
(foll) ber Knecht aller fern/' £?ier mögen Sie por allem bie 
„ Umwertung ber Werte" bemerfen. 3 efus feB?rt oB?ne DorbeB?alt 
bas übliche Schema um: (ßroß fein unb an ber Spiße fielen, bas 
bebeutet iB?m bienen; feine 3 ünger fallen nid?t B?errfd?en rnollen, 
fonbern ftd? jebermann gegenüber 3U Knechten machen* Sobann 
aber beachten Sie, mie er bie Wad?tB?aber, b* B?* bie ©brigfeit, mie 
fie bamals mar, beurteilt 3^ 5unftionen berufen auf (Bemalt, 
unb eben besfyalb fallen fie für 3efus außerhalb einer fittlicfyen 
Beurteilung, ja fteB?en berfelben-prinzipiell gegenüber: „fo gef?t es 
bei ben Wad?tB?abern 3U." 3 efas fdjreibt feinen 3 üngern por, 
es anbers 3U mad?en* £ed?t unb Bed?tsorbnung, bie nur auf 
(Bemalt, auf faftifcfycr Wad?t unb iB?rer Ausübung berufen, B?aben 
feinen fittlidjen Wert* Croßbem B?at ^z\ns nid?t befohlen, baßN- 
man fid] biefer ©brigfeit ent3ieB?en foll; aber man foll fie nad? 
iBjrem Werte, b* B?. nad? ifyrern Unmerte fcfyäßen, unb man foll fein 
eigenes Ceben nad? anberen (ßrunbfäßen, nämlid? nad? ben ent 
gegengefeßten, einrid?ten: nid?t (Bemalt üben, fonbern bienen* Da¬ 
mit finb mir bereits auf bas allgemeine (Bebiet ber Bedjtsorbnungen 
überhaupt Bjinübergetreten; benn allem Hed?te fd?eint es meferttlid? 

3u fein, baß es ftd? mit (Bemalt burdjfeßt, menn es in ^rage 
geftellt mirb* 

2* f}ier begegnen uns nun mieber 3mei perfeßiebene 2 ln- 
fdjauungen. Die eine — fie ift in neuerer <§eit befonbers non 
SoB?m in Ceip3ig in feinem „Kird?enred?t" behauptet morben, unb 
er fommt ber 2luffaffung Coljioi’s fetjr naB?e — leB>rt, bas 
<£pangelium ferließe bas Bed?t überhaupt aus, es beurteile alle 
Bedjtsorbnungen als unftattB?aft unb perlange iB?re 2 tufB?ebung, 
be3m* manble fte in Woral um* SoB?m ift fo meit gegangen, baß 
er in feinem Überblid über bie ältefte (Entmicflung ber Kirdje 
gerabe3U einen Sünbenfall ber £B?riftenB?eit in bem Womente an* 
nimmt, mo fie Bedjtsorbnungen in iB?rer Witte Baum gemälzt 
B?at. Colftoi leB?rt, baß ber oberfte (ßrunbfaß bes <£pangeliums 
laute, man folle fd?Ied?tB?in niemals auf feinem Bedjte hefteten, unb 
Wemanb, aud? bie ©brigfeit nidjt, folle bem Böfen äußeren Wiber* 
ftanb leiften* ©brigfeit unb Bed?t B?aben einfad? auf3uB?ören* ©ent- 
gegenüber finben mir anbere, meld?e mit größerer ober geringerer 
(£ntfd?iebenB?eit hdiauptm, bas <£pangeliunt fdjüße bas Bed?t unb alle 
Bed?tsperB?ältniffe, ja B?eilige fie unb B?ebe fie bamit in bie göttliche 


o 


— 69 — 

Sphäre. 2 )ies .jtnb, fürs gefaßt, bie beiben bfauptanfcfyauungen, bie 
fid? B}ier gegenüber flehen* 

Was nun bie legiere betrifft, fo bebarf es nidjt nieler XDorte* 
(Es ift ein JFjoBjn auf bas (Enangelium, 3 U fagen, baß es alles, mas 
fict? als Hecfyt unb Hecfytsnerfyältniffe in einem gegebenen HTomente 
barftellt, fcfyüße unb ^eilige* (Bemäfyren laffen unb bulben ift 
etmas anberes als bekräftigen unb fonfernieren. 3 a man muß 
ernftfyaft fragen, ob and? nur non 3)ulbung bie Hebe fein fönne, 
unb ob nicfyt Colftoi b^ier ridjtig geurteilt B?at. Hm ber Schmierig* 
feit ber Sacfye mitten muffen mir etmas ausfyolen: 

_ 3 c *fy* : fyunberte. Bjinburcfy Ratten Hebrücfte unb 2lrtne im Holfe 
3srael nad? ifyrent Hechte gefdjrieen* 3 n bexx H)orten ber Propheten 
unb aus ben (Bebeten ber pfalmiften nerneBpnen mir Bleute nod? 
in ergreifenber XPeife biefen Scfyrei, ber bod? immer mieber über* 
B?ört mürbe* (Es gab feine Hecfytsorbnung, bie nid|t unter ber 
(Bemalt tvrannifdjer (Semaltfyaber ftanb unb non iB>nen nad? (ßut* 
bünfen nerfefyrt unb ausgebeutet mürbe* Wxv bürfen bafyer, menn 
mir non Hechtsorbnungert unb *übung fyier fprecfyen unb 3 c f u Her* 
Bjältnis 3 U ifynen unterfucfyen, nicfyt fofort an unfere Hecfytsner* 
Bjältniffe benfen, bie 3 unt Ceil auf bem Hoben.bes (Efyriftentums er* 
mad]fen finb* 34 U5 ftanb in einer Hation, beren größere f^älfte 
(Benerationen fyinburd? nergebens ifyr Hed?t nerlangt Blatte unb bie 
bas Hecfyt nur als (Bemalt fannte* 3 n hinein folgen Dolfe mußte 
mit Hotmenbigfeit Pe^meiflung an bem Hechte überhaupt plaß 
greifen; Herjmeiflung fomofyl in He 3 ug auf bie Hcöglicfyfeit, auf 
(Erben Hedjt 3 U befommen, als — in untgefebrter Hicfytung — in 
He 3 ug auf bie fittlid]e <§uläffigfeit bes Hecfyts* (Etmas non biefer 
Stimmung fann man audj im (Enangelium mafyrneBimen* 2lber, 
unb bies ift bas <§meite unb forrigiert immer mieber biefe Stimmung: 
3 efus ift mit allen mafyrfyaft 5 ^omnten felfenfeft banon über 3 eugt 
gemefen, baß (Bott fcfyließlid? Hedjt fdjafft. Schafft er es nicfyt B)ier, 
fo fcfyafft er es bort, unb bas ift bie fjauptfacfye* 3 n biefem <§u* 
fammenB^ange ift für 3 e f us bxe 3^ee bes Hechts im Sinne ber 
gerechten Vergeltung nid]t eine nermerflicfye, fonbern eine Bjofye, ja 
befyerrfcfyenbe gemefen. Sie ift bie Hfajeftätsfunftion (Bottes —- 
inmiefern fie burd] feine Harmfye^igfeit mobifi 3 iert mirb, banort 
fann fyier abgefefyen merben* 2llfo, baß 3efus bas Hedjt als folcfyes 
unb bie Hecfytsübung abfcfyäßig beurteilt Bjabe, banon fann feine 
Hebe fein* 3ebem foll nielmeBjr fein Hecfyt merben, ja nod? .meBjr: 






70 


feine 3 ünger merben einft an ber Hedjtfprechung (Bottes teilnehmen 
nnb felbft rieten! Hur bas Hed)t, mie es mit (Bemalt unb balier 
als Unrecht geübt mürbe, bas Hecht, meldjes mie ein tyrannifches 
unb blutiges Derluingnts über bem Dolfe lag, bas hat er beifeitc 
gefdjoben. Hn bas mabre Hecht glaubte er, unb er mar aud) 
gemi§, baß es fxdj bürchfeßen merbe; er mar beffen fo gemifj, baß er 
nid)t meinte, bas Hecht müffe (Bemalt brauchen, um Hecht 3U 
bleiben. 

Das führt uns auf bas Ceßte. U>ir befißen eine Heiße r>on 
Sprüchen 3efu, in beuen er feine 3 ünger angemiefen hat, auf 
aöe Hed)tsforberung 3U ©eichten . unb ftd? fomit ihres Hechtes 311 
begeben. Sie alle, Fennen biefe Sprüche, jd' erinnere nur an bas 
IDort: „ 3 hr foKt nicht miberftreben bem Höfen, fonbern fo bir 
jemanb einen Streich giebt auf beinen rechten Haden, bem biete 
ben anbern auch bar, unb fo jemanb mit bir rechten mit! unb 
beinen Ho cf nehmen, bem tag aud) ben Hlantel." ffier fdjeint 
eine 5 orberung aufgeftellt 3U fein, bie bas Hecht oerurteilt unb bas 
Hechtsleben auflöft. 3 e unb je hat man ftch baßer auf biefe JPorte 
berufen, um fei es bie Unoereinbarfeit bes (Boaugeliums mit bem 
mirflicheii Ceben, fei es ben Tlbfall ber Cßriftenßeit oon ihrem 
HTeifter bar3uthun. Dem gegenüber ift folgenbes 3U bemerfen: 

3 e fus mar, mie mir gefehen haben, oon ber Überseugung burdp 
brungen, baff (Bott bas Hecht fcßafftj^ulefet atfo mirb nicht ber Der« 
gemaltigenbe fiegen, fonöirn ber Hebrücfte mirb fein Hecht erhalten, 
2. irbifcße Hechte finb an fid) eine geringe Sache; fie 3U oerlieren 
bebeutet nicht oiel, 3 . bie Derßältniffe finb fo traurig, bie Un= 
gerechtigfeit hat auf €rben fo überßanb genommen, baß ber He« 
briidte fein Hecht nicht burcßjufeßen oermag, auch menn er es 
oerfuchte, — unb bas ift bie fjauptfacße, — mie (Bott feine 
(Bered;tigfeit mit Harmher3igfeit burcßmaltet unb feine Sonne über 
(Bute unb Höfe fcßeinen läßt, fo foH ber 3 ünger 3 efu feinen (Begneru 
Ciebe bemeifen unb fie burd? Sanftmut entmaffnen. Das finb bie 
(Bebauten, melcße jenen hoben Sprüchen 3U (Sruube liegen unb bie 
ihnen 3ugleid) ihr HTaß geben. Unb ift bie forberung, bie fie ent« 
halten, mirflicß eine fo überirbifcße, unmögliche? iDeifen mir nicht 
and) im Kreife ber 5 amilie unb ber .freunbfcbaft bie Unfrigen an, 
fo 3U ©erfahren unb nicht Hofes mit Höfem unb Scheltmort mit 
Scheltmort 3U 'oergelten? IDekße Familie, melcßer Hunb fann 
beftehen, menn jeber in ihr nur fein Hed)t ©erfolgen moltte, menn 


m 

— 71 — 

er nicht lernte, auf basfelbe, felbft bet einertiAngriff, 3 U reichten? 
3efus fielet feine 3ünger als einen Kreis von ^reunben an, urtb er 
blieft über ihn hinaus auf einen Hruberbunb, ber fich ausgeftalten 
unb erweitern roirb* Aber foll man aud| bem 5einbc gegenüber 
in allen fällen auf bie Verfolgung feines Hechts Berichten, foll man 
ausfchließlich bie IVaffe ber Sanftmut brauchen? Soll, um mit 
Colftoi 3 U reben, bie (Dbrigfeit nicht ftrafen (unb bamit überhaupt 
uerfcfyunnben), follen bie Völ!er nicht für I^aus unb J^of eintreten, 
wenn fie freventlich angegriffen tverben 2 c*? 3 ^? mage 3 U behaupten, 
baf$ 3efus bei jenen IVorten an folcfye 5älte gar nicht gebadet h a h 
unb baß bie Ausbeutung in biefer Hichtung ein plumpes unb 
gefährliches HTißverftänbnis bebeutet: 3 c f U5 h at immer nur ben 
ein 3 elnen int Auge unb bie ftetige (Sefinnung bes ^er 3 ens in ber 
Ciebe* Vaß biefe bei Verfolgung bes eigenen Hechts, bei getuiffen-- 
hafter Hechtfprechung unb bei ernftem Strafr>oÜ 3 ug überhaupt nicht 
beftehen fönne, ift ein Vorurteil, für tvelches man fich vergebens 
auf ben Huchftaben jener Sprüche beruft, bie hoch nicht (Sefefee^ 
alfo Hechtsorbnungen, fein toollen* Vas aber muß hi n 3 u 9 e fÜ9t 
roerben, um ber Roheit ber euangelifchen ^orberung nichts ab 3 U* 
3 iehen: ber 3nnger 3 c f u foll imftanbe fein, auf bie Verfolgung 
feines Hechtes 3 U ve^ichten, unb er foll mitarbeiten, baß ein Volf 
von Hrübern roerbe, in rvelchem bas Hecht fid] nicht mehr mit 
(Setvalt burchfeßt, fonbern burch ben freien (Sehorfam bes (öuten, 
unb roelches nicht burch Hechtsorbnungen verbunben ift, fonbern 
burch Vienft in ber Ciebe* 





©ürlBfiuui. 


5)as Verhältnis bes <£uangeliums ju bent Hechte unb bcn - 
Heditsorbnungen I;at uns in ber lebten Vorlefung befcfjäftigt. JVir 
Ijaben gefetien: 3 efus ift ber Überzeugung, baff (Sott bas Hecht 
fdjap unb fd? affen mirb. IVeiter, mir erfannten, bajj er oon (einen 
3üngern forbert, fie (oben auf if?r Hecht oerjid^ten fönnen. 3nbem 
er_biefe 5 orberung ausfpricht, hat er nicht alle Verbältniffe feiner 
Seit im 2 tuge, noch uiel meniger bie uerroicfeiteren einer fpäteren, 
(onbern ihm [teilt nur ein einziges Verhältnis nor ber Seele, bie 
Se 3 iehung jebes Hienfchen 3 um Heidje (Sottes. fVeil ber Htenfd? 
alles uerfaufen (oll, um bie föftliche perle 3 U faufen, fo foU er 
auch bie irbifchen Hechte fahren- laffen fönnen, fo foll alles jenem 
höchften Verhältnis untergeorbnet merben. 3 m Sufammenhange 
aber mit biefer Verfünbigung eröffnet 3efus bie Husficht auf eine 
Verbinbung ber HTenfchen untereinanber, bie nicht burd? eine Hechts* 
orbnung 3 ufammengehalten ift, fonbem in meldjer bie Ciebe regiert 
unb in ber man ben 5einb burdj Sanftmut uberminbet. <£s ift 
ein hoh^, botrlidjes 3 beal, melches mir hier non ber (Srunblegung 
unferer Heligion her erhalten haben, ein 3beal, melches unferer ge* 
fdjichtlidjen <£ntmicflung als Siel unb Ceitftern »orfchmeben foll. 
®b bie 2 Tienfd;heit es je erreichen mirb, mer fann es fagen ? aber 
mir fönnen unb follen uns ihnt nähern, unb heute fühlen mir 
bereits •— anbers als noch oor 5 mei= ober breihunbert 3 <fhren — 
eine fittliche Verpflichtung in biefer Hidjtung, unb bie 3 arter unb 
barum prophetifd? unter uns «Smpfinbenben blicfen auf bas Heid? 
ber Ciebe unb bes 5riebens nicht mehr mie auf eine blofje 
Utopie. 



o 


— 73 — 

(Srabe besB]a!b aber ergreift Bjeute manchen unter uns eine 
fd]tvere «^roctfclfraae mit verboppelter (Semalt: mir feB]en einen 
garten Stanb im Kampfe für fein Hed]t ober vielnteBjr, mir feBjen 
iB]n ringen, feine Hed]te 3 U ermeitern unb 3 U vernteBjren* 3 ft bas 
mit d]riftlid]er (Sefinnung vereinbar, verbietet bas (Evangelium einen 
folgen Kampf nidjt? Ejaben mir >nid]t gehört, man folle auf fein 
Hed]t ver 3 id]ten, gefdjmeige meijr Hed]t 3 U erlangen fud]en? 2Ufo 
muffen mir als (£B]riften bie Arbeiter vom Kampf für ifyre Hechte 
abrufen unb müffen jte Iebiglid] 3 ur (Sebulb unb (Ergebung er* 
mahnen? 

Das problent, um meines es fid] B]ier Bjanbelt, mirb and] in 
ber 5 ortn einer leifen KnBlage gegen bas (£B]riftentum laut (Ernfte 
HTänner in ben Kreifen 3 * 23. ber HationabSosialen unb vermanbter 
Kid]tungen, bie ftd] gerne von 34 us <£B)riftus meifen Baffen moBIen, 
Blagen, baf$ bas (Enangeliunt jte an biefem punBte im Stiche laffe‘ 
es B>alte ein Stvchm nieber, beffen 23ered]tigung jte mit gutem (Se* 
miffen empfinben; mit feiner 5orberung ber unbebingten Sanftmut 
unb (Ergebung cntmaffne es jeben, ber Bämpfen mill, unb narBoti* 
jiere- gleid]fam alle Iebenbige CBjatBraft* Sie fagen es mit 23ebauern 
unb Sd]nter 3 , anbere mit (SenugtBjuung* Diefe erBIären: mir B]aben 
es immer gemußt, bas (Evangelium ift nid]t für bie gefunben unb 
ftarBen Htenfdjen, es ift für bie 23leffierten; es mei§ nichts bavon 
unb mill es nid]t miffen, bafj bas Ceben, 3 untal bas moberne, ein 
Kampf ift, ein Kampf für bas eigene Hed]t* IDeldje Kntmort follen 
mir' iB]nen geben? 

- 3d? meine, bie fo fpredjen ober Blagen, B>aben ftd] nod] immer 

nid]t Blar gernad]t, um mas es fid] im (Evangelium B]anbelt, unb 
be 3 ieB)en es vorfd]neII unb ungehörig auf irbifcfye Dinge* Das 
(Evangelium richtet fid] an ben inneren 2T(enfd]en, ber immer ber* 
felbc bleibt, mag er gefunb ober vermunbet, mag er in (SIücBslage 
ober im Unglücf fein, mag er in bem irbifd]en Ceben Bämpfen ober 
(ßemonnenes ruB]ig behaupten müffen* „ Hiebt Heid] ift nid]t von 
biefer H)elt"; bas (Evangelium richtet Bein irbifd]es Heid] auf* 
Diefe IDorte fd]lief$en nid]t nur bie politifd]e CB]eoBratie aus, meld]e 
ber, papft aufrid]ten mill, unb jebe meltlid]e JB}errfd]aft; jte reichen 
nod] viel meiter;gfe verbieten jebes bireBte unb gefe^lid]e (Eingreifen 
ber Heligion in pbifd]e DerB]ältniffe* pofitiv . aber fagt uns bas 
(Evangelium: Wc r bu aud] fein magft unb in meld]er Cage nur 
immer bu bid] beftnben magft, ob Kned]t ober freier, ob Bämpfenb 




74 


ober ruhenb — bcinc eigentliche Aufgabe bleibt immer biefelbc; es 
giebt nur ein Dcrbältnis unb eine (Sefinnung für bicfj, bie un= 
oerhnicblk'h bleiben foEen, unb ber gegenüber bie anberen nur 
wechfelnbe JEfüEen unb Hufsügc finb: ein Kinb (Sottes unb Bürger 
feines Heidjes 3 U fein unb Ciebe 311 üben. Dir unb beiner Freiheit 
ift es überlaffen, wie bu im irbifdjen Ceben bich 3 U bewähren ha ft 
unb in meiner IDeife bu beinern Hächften bienen wiEft. So hol 
ber Hpoftel paulus bas Eoangelium oerftanben, unb ich glaube 
nicht, baff er es mifjoerftanben hot. 2 llfo fämpfen wir, ftrebeu wir, 
fchaffen wir bem Hnterbriicften Hecht, orbnen wir bie irbifdjen Der» 
hältniffe, wie wir es mit gutem (Sewtjfen fönnen unb wie es uns 
für unferen Hächften am heften fcheint; hoch erwarten wir babei 
non bem Eoangelium feine birefte ffülfc, oerlangen wir nichts in 
' eigenfüchtiger fDeife für uns felbft unb oergeffen wir nicht, baff bie 
iDelt oergeht, nicht nur mit ihrer £uft, fonbern auch mit ihren 
(Drbnungen unb (Sütern! Hoch einmal fei es gefagt: bas Eoan-- 
gelium fennt nur e i n <§ie[ unb eine (Sefinnung, unb es oer» 
langt, baff ber HTeitfch fie niemals bei Seite fefce. Critt in ben 
fDorten 3*d u bie (Ermahnung 3 unt De^icht in herber Einfeitigfeit in 
ben Dorbergrunb, fo foE uns bamit bie Souoeränetät unb 2 lusfd]Iieg» 
lidjfeit bes Derhältniffes 3 U (Sott unb bie Ciebesgefinnung einbring» 
lid) oor 2 lugen gefteüt werben. '"Das Eoangelium liegt über ben 
fragen ber irbifchen Entwicflungen; es fümntert fidj nicht um bie 
Dinge, fonbern um bie Seelen ber Hlenfchen. 

Damit finb wir bereits 3 U ber nächften 5 rage, bie uns befd;äf= 
-tigen foE, übergegangen unb hoben fie fdjon 3 ur bfälftc beantwortet: 


Das Eoangelium unb bie Hrbeit, ober bie 5 rage ber 
Kultur. , 

Es fotnmen hier wefentlid; biefelben (Sefichtspunfte in Betracht, 
bie wir in ber eben betrachteten 5 rage geltenb gemacht haben; balier 
oerntögen wir uns fürser 3 U faffen. 

3e unb je, oor aEem - aber in unferen Cageii, hot man au 
.ber prebigt 3 e f u bas 3 nt ereffe für 3 wedooEe Berufsarbeit unb 
jben Sinn für aEc bie ibealen (Süter oermifjt, bie burch bie Hamen 
Kunft unb IDiffenfchaft be 3 eidjnet finb. Hirgenbwo, fo fagt man, 
forbere 3efus 3 ur Hrbeit unb 3 U fortfehreitenber Betbätigung auf; 
• oergeblid; fudje man in feinen iDorten nach bem Husbrucf ber 


75 


5 reube an frifdjer Chätigfeit, unb jene ibcaleit (Suter lägen ganj 
außerhalb feines (Seftchtsfreifes» 3 n feinem lebten, verhängnisvollen 
Buche: „Der alte unb ber neue (Slaube" B^at Davib 5 rieb rieh 
Straufp biefem Dermiffeu einen befonbers gerben Kusbrucf ver= 
liefen* (Er fpricht von einem funbantentalen Btangel im (Evan» 
geliunt unb B^ält es fcfyon beshalb für veraltet unb unbrauchbar, 
weil es feine Fühlung mit ber Kultur unb ihrem ^ortfehritt habe» 
Cange vor Strauß h a * hier aber bereits ber pietismus etwas #hn= 
liches entpfunben unb einen eigentümlichen Kusweg gefucht. Die 
pietiften gingen bavon aus, 3 efus trtüffe bireftes Dorbilb fein fönnen 
für alle Blenfchen, welchem Berufe auch immer fie bienen mögen; 
er müffe fich in allen menfehlichen Derhältniffen bewährt h a ^en. 
Sie gaben nun 3 U, bajj bei flüchtiger Betrachtung biefe iorberuttg 
in bent Ceben 3 e f u nicht erfüllt fei; aber fie meinten, wenn man 
genauer 3 ufähe, fänbe man, baj$ er wirflich ber befte Bfaurer, ber 
befte Schneiber, ber befte Bichter, ber befte (Selehrte.u* f. tv. gemefen 
fei unb alles am vor 3 Üglid}ften gemußt unb verftanben fyahe. 
Sprüche unb Chatcn 3 c f u brehten unb rvenbeten fie fo lange, bis 
fie bas (Semünfchte ausfagten unb betätigten» Das mar ein finb= 
liches Unternehmen, aber bas Problem, welches fie entpfanben, war 
ein ernfthaftes: fie felbft fühlten fich burch (Sewiffen unb Beruf an 
eine beftimmte Chätigfeit unb Aufgabe gebunbert; fie waren fich 
barüber flar, baß fie feine UTönche werben follten; aber fie wollten 
bod? bie Bachfolge Chrifti in vollem Sinne üben; alfo muß er in 
benfelben Derhältniffen geftanben blähen wie fie felbft, unb fein I^ori* 
3 ont muß berfelbe, gemefen fein wie ber ihrige» 

XDir haken b[kv benfelben 5 all, nur erweitert, ben mir im 
vorigen Kbfchnitt behanbelt haben: immer mieber entfteht ber ^vrtum, 
als be 3 Öge fich bas (Evangelium auf irbifd>e Derhältniffe unb ntüffe 
gefeßliche Dorfchriften für fie geben. Zugleich maltet hier bie alte 
unb faft unausrottbare Beigung ber UTenfchen, fich ih r er 5^eiheit 
unb Derantmortlichfeit in höheren Dingen 3 U entäußern unb ftd} 
einem (Eefeße 3 U unterwerfen» (Es ift in ber Chat viel bequemer, 
unter irgenb einer Autorität, fei es auch ber bärteften, leben als 
in ber 5 ^eihcit bes (Sutert» Doch bavon abgefehen — cs bleibt 
noch immer bie 5rage übrig: 5ehlt bent (Evangelium nicht mirflich 
etwas, weil es für bie Berufsarbeit fo wertig Ceibtahme verrät, 
unb weil es feinen Kontaft hat mit bent „ Rumänen " im Sinne ber 
IDiffenfchaft, ber Kunft unb ber Kultur überhaupt? 






76 


antroortc crfiens, mas märe beritt gemomten morbett, wenn 
es biefen „BTangel" nicht gehabt hätte ? Angenommen, es märe 
lebhaft auf jene Begebungen eingegangen, hätte es fich nicht in 
ihnen nerftriefen muffen ober minbeftens ben gefährlichen Schein auf 
fid? gezogen, in ihnen nerftridt sn fein? Arbeit, Kunft, JPiffenfchaft, 
Kultnrfortfehritt eriftieren nicht in abstracto, fonbern immer nur in 
ber beftimmten phafe einer <geit. 2TEit ihnen hätte fidt bas <2oan« 
gelium alfo nerbinben ntü|fen. 2 tber bie phafen änbern fich. bPir 
erleben heute an ber römifdidatholifdjen Kirche, 5 U meid? einer 
ferneren £aft bie Perbinbung mit einer beftimmten Kulturepoche für 
bie Beligion mirb. 3m HTittelalter mar biefe Kirche »oll Teilnahme, 
forntgebenb, gefefcgebenb auf atte fragen bes 5 ortfd?ritts unb ber 
Kultur eingegangen. Itnuermerft hat fie aber ihr heiliges <£rbe 
unb ihre eigentliche Aufgabe mit ben Crfenntniffen, Hfapimen unb 
3 ntere)fen, bie fie bamals gemomten hat, ibentifoiert. Hun ift fie 
gleichfant feftgenagelt auf ber philofophie, ber Hationalöfonomie, 
für, auf bem gan 3 en Kultu^uftanb bes Blittelalters! IPie »iel hat 
im (Segenfah basu bas <£»angelium baburd? ber B7enfd?beit geleiftet, 
ba§ es bie Cöne ber Beligion in mächtigen 2tfforben angefdjlagen 
unb jebe anbere HTelobie »erbannt hat! 

fgmeitens, 2trbeit unb fortfehritt ber Kultur finb gemiß merfoolle 
Pinge, in benen mir uns ftrebenb bemühen fallen. 2 tber bas höchfte 
3beal liegt nidit in ihnen befchtoffen; fie uemtögen bie Seele nicht 
mit mirfticher Befriebigung ju erfüllen, IPobl fdjafft bie 2 trbeit 
£uft, aber bies ift boch nur bie eine Seite ber Sache: ich habe 
immer gefunben, baß über bie £uft, meldte bie Arbeit gemährt, bie» 
jertigen lauter fpredjen, bie fid? felbft nicht alhuoiel anftrengen, 
mährenb bie bei ihrem preife Hmftänbe machen, bie in ununter« 
brochener heißer 2Irbeit ftehen. 3n ber Chat, es läuft ba fet>r 
»iel leeres (Serebe unb ffeudtelei mit unter. Dreimertel ber 2trbcit 
unb mehr ift nichts als ftumpfmadjenbe Blühe, unb mer mirflich 
hart arbeitet, fühlt ben fehnfüchtigen 2lusblid bes Dichters auf ben 
2 lbenb nach: 

Das ^\awpt f bie 5 ü§’ unb bjänbe , 

5trtb frofy, ba§ nun 3 um <£nbe 
3)te Arbeit fommen fei* 

2 lber auch bie Crgebniffe! JPenn man fertig ift, möchte man 
jebe 2 trbeit noch einntal machen, unb bas Stücfmerf fällt fdjmer 
auf bie Seele unb bas < 5 emiffen. Hein, mir leben nicht fomel als 


77 


mir arbeiten, fottbern fooiel als mir uns ber Ciebe anberer er« 
freuen unb felbft Ciebe üben! Unb fo hat 5auft recht: Arbeit, bie 
nichts als Arbeit ift, mirb 3 um (Sfel: „ 2 T lan fehnt fidi nach bes 
Cebens Hädjen, ach, nach bes Cebens Quelle fyn." 

Arbeit ift ein fchäßensmertes Dentil, meines mir brauchen gegen« 
über größeren Flöten; aber fie ift an fich fein absolutes (Sut, unb mir 
fönnen fie nicht mit unfern ^boakn 3 ufammenftellen, ähnliches g$t 
von bem Kulturf ortfehritt. (Semiß, er ift 3 U begrüßen* Uber mas freute 
ein 5 ortfchritt ift, beffen mir uns freuen, mirb morgen etmas 
Klechanifches, bas uns falt läßt, Der tiefer füfylenbe KTenfch 
nimmt banfbar entgegen, mas ihm bie fortfdjreitenbe (Entmidflung 
ber Dinge bringt; aber er meiß auch, baß feine innere Situation — 
bie fragen bie ihn bemegen, unb bie (Srunbuerhältniffe, in 
benen er ftefjt — nicht mefentließ, ja faum unmef entlieh, burch bas 
alles geänbert mirb, <£s fcheint immer nur einen Kugenblicf fo, 
als fäme nun ein Heues unb man fei mirKich entlaftet, Kleine 
Herren! H)enn man älter gemorben ift unb tiefer ins Ceben fielet, 
ftnbei man fich, menn man überhaupt eine innere XDelt befißt, 
burch ben äußeren (Sang ber Dinge, burch ben „Kulturf ortfehritt", 
nid}t geförbert. Klan finbet fich oielmehr an ber alten Stelle unb 
muß bie Kräfte auffucfyen, bie auch bk Dorfahren aufgefucht haben, 
Klan muß fid? heimifch machen in bem Heiche (Sottes, in bem Heidje 
bes (£migen unb ber Ciebe, unb man r>erfte£>t es, baß 3 e f us ^hrifü 15 
nur uon biefern Heiche ^eugen unb, fprechen mollte, unb baitff 
es ihm, 

Uber b r i 11 e n s, 3 efus hatte ein Iebenbiges unb ficheres Hemußtfein 
oott bem Kggreffioen unb Dormärtstreibenben feiner prebigt, „ 3 d? bin 
gefommen, ein 5 euer an 3 U 3 Ünben auf <£rben, unb" — fügte er 
hin 3 U — „ich mollte, es brennte fchon." Das 5euer bes (Berichts 
unb bie Kräfte ber Ciebe mollte er b^crauffü^rert, um eine neue 
KTenfchheit 3 U fchaffen. U)enn er uon biefen Ciebesfräften in ber 
einfachen ZDeife gerebet hat, mie fie ben nächften Derhältniffen ent« 
fprach — hungrige fpeifen, Hadte fleiben, Kranfe unb (Befangene 
befudjen —, fo ift hoch flar, baß ihm eine ungeheure innere Uni« 
mäl 3 ung ber KTenfchheit, bie er in bem Spiegel bes Keinen 
paläftinenfifchen Dolfes fah, uorfchmebte: „(Einer ift euer KTeifter, ihr 
aber feib alle Brüber," £s ift bie leßte Stunbe, aber in biefer 
lebten Stunbe foH noch ein Haum aus Keinem Samenforn auf« 
machfen, ber feine <§meige meithin ausbreitet, Unb noch ein anberes: 





78 


(Erkenntnis (Bottes offenbarte er unb mar gemig, baß fte bie 
Unmünbigen reifen unb bie Schwachen ftählen unb su gelben (Bottes 
machen merbe* (Botteserkenntnis ift ber Horn, ber bas unfruchb 
bare Selb beleben unb Ströme lebenbigen H>affers fliegen Iaffen tt>irb* 
3n biefem Sinn hat er non ik?r gefprod?en als bem höchften unb 
bem einzigen notwendigen (But, als ber Bebingung aller (Erhebung 
unb, mir bürfen and? fagen, alles wirklichen IHerbens unb Sort* 
fd?reitens* (Ertblich, an feinem b?ori 3 onte lag nicht nur bas (Bericht, 
fonbern auch ein Heid? ber (Bered?tigkeit, ber Ciebe unb bes Sriebens, 
gemig vom J^immel ftammenb, aber bod? für biefe (Erbe* Wann 
es kommt, w>eig er felbft nicht — bie Stnn^ ift nur bem Dater 
befannt —; aber mie es fid> verbreitet unb moburch, bas meig er, 
unb neben ben bramatifd?en unb farbenreichen Bilbern, bie burd? 
feine Seele sieben, ftefyen and? unverrückbar unb ftd?er ruhige Kn* 
fchauungen: Der XDeinberg (Bottes auf biefer (Erbe, (Bott ruft feine 
Arbeiter hinein — felig, mer einen Huf empfängt! —; fte arbeiten 
in bent H)einberg, fteB?en nun nicht mehr mügig am HTarfte, unb 
empfangen sulegt ihren Cohn* ©ber jenes (ßleichnis von ben 
pfunben, bie ausgeteilt tverben, bamit man mit ihnen arbeite, bie 
man alfo nicht im Schtveigtud? bervat?ren foll* (Ein Cagetverf, 
Arbeiten, Hermehren, SortfBreiten, aber alles in ben Dienft (Bottes 
unb bes Hächften geftellt, vom £id?te bes (Emigen umfloffen unb bem 
Dienft bes vergänglichen XHefens erttrüdt! 

Helmten mir bas alles 3 ufantmen, mas mir hier nur anbeuten 
fonnten — ift bie Klage berechtigt, von ber mir am Knfange biefes 
Kbfchnitts ausgegangen finb? Sollen mir mirflid? munfehen, bas 
(Evangelium hätte ftd? bem „Kulturproseg" angefchmiegt? 3d? 
benfe, bag mir es auch an biefem punkte nicht su meiftern, fonbern 
von ihm su lernen haben* Hon ber wirklichen Krbeit, welche bie 
HTenfchheit 3 U leiften hat, künbigt es uns, unb mir follen uns biefer 
Hotfd?aft gegenüber nicht fyntev unfre kümmerliche „Kulturarbeit" 
verfd?ansen. „Die (Erfd?einung Chrifti", fagt ein neuerer bjiftorifer 
mit Hecht, „bleibt bie alleinige (Brunblage aller fittlidjen Kultur, unb 
in bem HTage, in welchem biefe (Erfcheinung mehr ober meniger 
beutlid? h^burchsubringen vermag, ift auch bie fittliche Kultur 
unferer Hationen eine grögere ober geringere"« 


79 


5. Das (Evangelium unb ber ( 8 ottesfohn, ober bie Frage 
ber <£Bjriftologie» 

U)ir treten fegt aus bem Kreife ber fragen, bte mir bisher 
behanbelt haben, heraus* 3 ^ vier gingen alle aufs engfte unter* 
einanber 3 ufammen» Überall, mo man bte richtige Untmort ver* 
fehlt B^at, lag ber <5runb barin, bag man bas «Evangelium nicht 
hoch genug genommen, bag man es hoch irgenbmie auf bas Niveau, 
irbifcher fragen B^erabge 5 ogen unb mit ihnen verflochten B^ai 0 ber 
anbers ausgebrüdt: ©ie Kräfte bes (Evangeliums besiegen ftch auf 
bie tiefften (Srunblagett menfetlichen Xüefens unb nur auf fie; 
lebiglich B|ier fegen fie bett bjebel an* U)er baBjer nicht auf bie ZDu^eln 
ber 2 TBehfcB}B}eit 3 urüd 3 ugehen vermag, mer fie nicht empfinbet 
unb erfennt, ber mirb bas (Evangelium nicht vergehen, mirb es 
3 U profanieren verfuchen ober ftch über [eine Unbrauchbarfeit 
beflagett» 

Zinn aber treten mir an ein gatt 3 neues Problem Bjeratt^ 
meiere 5teIBung B^at [ich 3e[us [elbft, inbem er bas (Evangelium 
verfünbete, 3 U biefer feiner 23otfchgft gegeben, unb mie moUte er 
[elbft auf genommen [ein? Wiv fptechen noch nicht bavon, mie ihn 
[eine 3 ünger erfagt, ins f}er 3 gefchloffen unb beurteilt B)aben, [onbern 
lebiglich von [einem Selbfoeugnis» Uber and) [cfyon mit bie[er 
Unterfuchung treten mir in ben grogen unb viel umftrittenen Kreis 
von fragen, bie bie Kirchengefchidge [eit bem erften 3 a h r h u rtfrert 
bis 3 ur ©egenmart bebeden» Um einer ZTuance millen fünbigte man 
ftch B^ier bie brüberlidje ( 5 emeinfchaft unb finb Caufertbe gefchmäht,. 
vermorfen, in Ketten gelegt unb fyingemorbet morben» <Es ift eine 
fchaurige (Sefchichte* Uuf bem Boben ber „(EB^riftologie', B^aben bte 
UTenf d?en ihre religiö[en CeBjren 3 U furchtbaren IDaffen gefhmiebet 
unb Furcht unb Schreden verbreitet» ©iefe Haltung bauert noch immer 
fort: bie (Efyriftologie mirb behanbelt, als böte bas (Evangelium feine 
attbere Frage, unb ber Fanatismus, ber fie begleitet, ift auch heute 
noch lebenbig* ©ag bas Problem, von einer [oldjen Caft ber 
(Sefchichte bebrüeft unb ben Parteien ausgeliefert, verbunfelt ift — 
mer follte [ich barüber munbern? Unb hoch, mer mit unbefangenem 
23lid in unfre (Evangelien fchaut, für ben ift bie Frage bes Selbft* 
3 eugniffes 3 e[u feine unlösbare» Was aber in ihr bem Perftanfr 
bunfel unb geheimnisvoll bleibt, bas follte im Sinne 3efu unb uach 
ber ZTafur bes Problems fo bleiben unb fann nur in Bilbern vor 




80 


uns 3 ur Kusfagc gebraut »erben. „Es giebt Erfcheinungen, bie 
m ben Porftellungsfomplef bcs Perftanbes gar nicht ohne Symbol 
etngereiht »erben formen." 

§wd fjauptpunfte fmb 3 unäd?ft fefeuftelten, beuor mir ba^ 
5 eIbfaeugnis 3 efu unterfucheu: Erftlid], er wollte feinen anberen 
<Blauben an ferne perfon unb feinen anberen Knfdjluß an fie als 
ben, ber in bem Raiten feiner (Sebote befdjloffen liegt. Selbft im 
merten Epangelium, in »eichem bie perfon 3 efu oftmals über ben 
Jnl^alt bes Epangehums hinausgehoben erfehemt, ift boch ber (Se- 
banfe noch fefjarf formuliert: „Oebet % mich, fo galtet meine <Se. 
bote." Er fjatte fäon felbft »ährenb feines JPirfens erfahren 
muffen, baß «Etliche ii]n perehrten, ja ihm Pertrauten, aber fief? um 
ben 3 nf!alt feiner prebigt nidjt fiimmerten. 3 Einen fiat er bas 
ftrafenbe iPort 3 ugerufen: „Es »erben nicht alle, bie 3 ü mir „fferr, 
^err" fagen, tn bas fjimmeiretd) fommen, fonbern nur bie, »elcbe 
ben ^rüen meines Paters tfjun." Klfo lag es gan 3 außer feinem - 
toejtctytsrmfe, unabhängig Dort feinem ^oaitaelium eine , «ebre" 
über feine perfon unb feine JPürbe 3 u geben. Zweitens' ben 
*jerm fftmmels unb ber Erbe trat er als feinen (Sott unb Pater 
als ben Größeren, ats ben allein (Suten be 3 eid;net. (Er ift ge»iß' 
«lies, »as er traf unb »as er ausridtfen foll, pon biefem Pater 3 u 
haben* Su thm betet er, feinem Wxüm orbnet er fich unter: in 
fynßem Hmgert fud)t er ibn 3 u erforfdjen unb 3 u erfüllen. §kl, 
Kraft, <£mftd?t, «Erfolg unb bas harte PTüffen — alles fommt ibm 
Pont Pater. So fteEjt es in ben Eoangelicn; ba ift nichts 3 u breben 
unb 3 u beuteln. Pies empfinbenbe, betenbe, banbeinbe, ringenbe 
unb letbenbe 3 d! ift ein KTenfd?, ber fid) aud? feinem (Sott gegen, 
über mtt anberen 2 Tienfchen sufammenfchliegt* 

Piefe beiben Erfenntniffe «sieben gleichfam bie (Sren 3 linien, um 
bas (Sebiet rtd)ttg 3 u umfehreiben, auf »eldjem bas Selbft 3 eugnis 
Jefu hegt, pofit» ift für basfelbe freilich nod) nichts gewonnen. 

tr faffen es aber alsbalb in feinem innerften Kerne, »emt »ir 
bte beiben Selbftbe 3 eichnungen 3 efu näher betrachten: Sohn (Sottes 
unb Kleffias (Papibsfohn, KTenfdjenfohn). 

. ^ ? enc 23e3eid,nun9 ' ma 3 P« auc h urfprünglid? mefftanifd] ge. 
bad)t fein, hegt heute unferem Perftänbnis fehr piel näher als biefe* 
benn 3 efus felbft hat bem begriff „(Sottesfohn" einen 3 nhatt ge’ 
«eben, burd? ben er faft aus bem mefftanifchen Schema Eierausfällt 
ober hoch 3 u feinem Perftänbnis biefes Schemas nicht notwendig 


81 


bebarf. Dagegen ift uns bie Be3eichnung „XHefftas", wenn wir uns 
nicht mit einem toten XDort begnügen wollen, 3unächft gan3 fremb. 
XDir uerftehen nicht ohne weiteres, ja wir uerftehen als nicht* 
3 uben überhaupt nicht, was biefe XDürbe befagen foll unb welchen 
Umfang unb welche X}öhe fte hat (Erft wenn wir ihren Sinn burch 
gefchidjtliche Unterfüchungen ermittelt haben, fönnen wir fragen, ob 
bem XDort eine Bebeutmtg 3ufommt, bie irgenbwie beftehen bleibt, 
auch nachbem bie jübifcfypolitifche 5orm unb Schale 3erbrochen ift* 
Betrachten wir 3unächft bie Be3eidjnung „Sohn (Sottes". 3 efus. 
hat es uns in einer feiner Beben befonbers beutlich gemacht, warum 
unb in welchem Sinne * er ftch ben „Sohn (Sottes" genannt hat. 
Bei UTatthäus, nicht etwa bei 3 ohannes, fteht &as XDort: „Biemanb 
formet ben Sohn, benn nur ber Dater, unb niemanb f erntet ben 
Dater, benn nur ber Sohn,^ unb wem es ber Sohn will offenbaren." 
Die (Sotteserf enntnis ift bie Sphäre ber (Sottesfohnfdjaft. (Eben 
in biefer (Sotteserfenntnis hat er &as heilige XDefen, welches Qimmel 
unb €rbe regiert, als Dater, als feinen Dater fennen gelernt. Sein 
Bewufttfein, ber Sohn (Sottes 3U fein, ift barum nichts anberes * 
als bie praftifche 5 olge ber <£rfenntnis (Sottes als bes Daters unb 
feines Daters. Hecht oerftanben ift bie (Sotteserfenntnis ber gan3e 
3nhalt bes Sohnesnamens. Uber ein Doppeltes ift hnt3U3ufügett: 
3 efus ift über3eugt, (Sott fo 3U fennen, wie feiner r>or ihm, unb 
er wei§, baft er ben Beruf hat, allen anberen biefe (Sotteserfennt* 
nis — unb bamit bie (Sottesfinbfchaft — burch XDort unb Chat 
mit3uteilen. 3 n biefem Bewufttfein weift er ftch als ber berufene 
unb r>on (Sott eingefe^te Sohn, als ber Sohn (Sottes, unb barum 
fann er fprechen: HTein (Sott unb mein Dater, unb er legt in 
biefe Unrufung etwas h^eia, a>as nur *h m 3 u fteht* K?ie er 3^ 
biefem Bewufttfein ber (Ein3igartigfeit feines Sohnesuerhältniffes 
gefommen ift, wie er 3U bem Bewufttfein feiner Kraft gelangt ift 
unb ber Derpjlichtung unb Uufgabe, bie in biefer Kraft liegen, bas 
ift fein (Seheimnis, unb feine pfychologie wirb es erforfdjen. Die 
<§uoerficht, in ber ihn 3 °hannes 3 um Dater fprechen läftt: „Du 
haft mich geliebt, ehe benn bie XDelt gegrünbet war", ift ftcherlich 
ber eigenen (Sewiftheit 3 efu abgelaufcht. £jier hat alle ^orfchung 
fülle 3U halten. Uuch bas uermögen wir nicht 3U fagen, feit warm 
er ftch als ber Sohn gewuftt unb ob er ftch kann gan5 unb gar 
mit biefem Begriff ibentifoiert hat, ob fein 3 d? mit bemfelben uer* 
fd^mol3en war ober ob hier noch eine Spannung unb innere Uuf* 

ßarnarf, Wefcn b. (Efyriftentums. 6 





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gäbe für ihn beftanben bat. Ergriinben fömxte hier nur einer 
eirras, her eine annäbernbe (Erfahrung gemacht hat. (Ein prophet 
mag oerfuchen, ben Schleier 3a heben; mir aber muffen uns be= 
gnügen, feftufteßen, baß biefer 3efus, ber Sclbfterfenntnis unb 
Demut, gelehrt, bod? fich unb fich allein ben Sohn (Sottes ge» 
nannt hat. <£r meiß, baß er ben Pater fennt, baß er biefe Er» 
fenntnis aßen bringen foß, unb baß er bamit bas Werf (Sottes 
felber treibt. Es ift bas größte unter aßen Werfen (Sottes, giel 
unb Enbe feiner Stopfung. 3hm ift es übertragen, unb er mirb 
es in (Sottes Kraft burchführen. SIus biefem Kraftgefühl heraus 
unb im Kusblicf auf ben Sieg hat er bas Wort gefprodjen: „Kße 
Dinge ftnb mir übergeben non meinem Pater." 3e unb je 
finb in ber Wenfchheit Wärmer (Sottes aufgetreten mit bem fieberen 
Pemußtfein, eine göttliche Potfchaft 3U beftßen unb fie, moßenb ober 
nicht moßenb, oerfünbigen 3U müffen. Kber immer mar bie Pot» 
fchaft unooßfommen, an biefer ober jener Steße brüchig, mit poli» 
tifchem unb mit partifularem oerflochten, auf einen augenblicflichen 
Suftanb berechnet, unb ber Prophet beftanb fehr oft bie probe 
nicht, felbft bas Erempcl feiner Pot fchaft 3U fein, fjter aber mirb 
bie tieffte unb umfaffenbfte Potfdjaft gebraut, bie ben Wenfchen 
an feinen Wuseln faßt unb, im PaEimen bes jübifchen Polfs, fich 
an bie gatt3e Wenfchheit richtet — bie Potfchaft oon (Sott ' bent 
Pater. Sie ift nicht brüchig, unb ihr eigentlicher 3 nf;alt löft fich 
leicht aus ben notmenbigen ffüßen seitgefdjichtlicher formen. Sie 
ift nicht oeraltet, fonbern triumphiert noch heute ftarf unb lebenbig 
über aßes (Sefchehen. Unb ber fie oerfünbigt hat, hat noch feinem 
feine Steße abgetreten unb giebt noch heute bem Ceben ber Wenfd;cn 
einen Sinn unb bas 3iel — er, ber Sohn (Sottes. 

Damit finb mir bereits 3U ber anberen Selbftbe3eichnung 3 efu 
übergegangen: Weffias. Peoor ich fie fürs 3U erläutern oerfuche, 
ift cs mir Pflicht 3U ermähnen, baß bebeutenbe (Selehrte — unter 
ihnen Wellhaufen — es be3meifelt haben, baß 3 efus fich felbft 
als Weffias b 05 ei dm et hat. 3cb permag bem aber nicht beyu» 
ftimmen, ja ich finbe, baß man unfere eoangelifchen Perichte aus 
ben Kngeln beben muß, um bas (Semünfchte 3U erreichen. Pereits 
ber Kusbrucf „Wenfdjenfohn" fdteint mir nur tneffianifch oerftanben 
merben 3U fönnen — baß ihn aber 3efus felbft gebraucht hat, ift 
nid)t 3U be3meifelu —, unb, um oon anberem 3U febmeigen, eine 
(Sefd)ichte mie bie bes Einzugs Ebrifti in Jentfalcm müßte 


l 


man 


83 


einfach [treidln, um bie C^cfc burd^uführen, er habe fich nicht 
für ben verheißenen ZHeffias gehalten unb auch nicht bafür gelten 
möllern Da3u kommt, baß bte formen, in benen 3 ^fns fein Selbft« 
bemußtfein unb feinen 23 eruf 3um Kusbruck gebracht hat, <jan3 
unverftänblich merben, menn fie nicht burch bie mefftanifche 3 &ee 
beftimmt gemefen finb. (Enblich, ba bie pofitiven (Srünbe, bie man 
für jene Knficht beibringt, fehr fchmache be3m. hächft fragmürbige finb, 
fo bürfen mir 3uverfichtlich bei ber Annahme bleiben, baß 
fich felbft ben ZHeffias genannt hat. 

Das ZHejfiasbilb unb bie meffianifchen Dorftellungen, mie fie 
im Seitalter 3 efu Iebenbig maren, hatten fich auf 3mei kombinierten 
Cinien entmickelt, auf ber £inie bes Königs unb auf ber bes pro« 
pheten; ^ a 3U hatte noch manches 5 ^ntbartige eingemirft, unb ver« 
klärt mürbe alles burch bie uralte (Ermartung, baß (Sott felbft 
fichtbar bie fjerrfchaft über fein Pol! antreten merbe. Die £)aupt« 
3Üge bes 2 TteffiasbiIbes maren bem israelitifchen Königtum ent« 
nommen, mie es in ibealem (SIan3e ftrahlte, nachbem es unter« 
gegangen mar. 2 lber bie (Erinnerungen an ZHofes unb bie großen 
Propheten fpidten hi ne i n * £Pie fich kie mefjtanifchen (Entartungen 
bis 3um Spalter 3 ^fu ausgeprägt hatten, unb mie er fie aufge« 
nommen unb umgebilbet hat, merbett mir in ber folgenben Dor* 
lefung in Kür3e barftellen. 










Jtrfjte 20 ö rleJung. 


Sie mcfftatxtfdjen festen im iübifd?en Dolfe im Zeitalter lefu 

Zki* f kme 'f^ri mat ‘ f ^ aUd? “’ aren [ie nicf!t mit ben jfceng aus« 
gebtlbeten gefe^en Dorfdjriften uerfnüpft, fonbern fie bilbeten 

cmen wefenthdjen Beftanbteil ber religiöfen unb Politiken gufunfts* 

füffeT^b V rf S5 ' ? Ur in a “ 9emcinen «runblinien ftanben 

LJ DrlT! uT US • ^ errfcf!ten 9ro & e ^föieben^eiten. Die 
J ProP^ten Ratten m eine Ijerrüdje «gufunft ausgeblidt in 

meiner (Sott felbft erfechten, bie 5 einbe 3 sraels uernicbten unb 
eredfhgfett Triebe unb Sreube fcfaffen werbe. (Sleicfoeitig Ratten 

Lt Cr * Ufhetm einC£ ^ en «* m*Än iSS 

aus Darnb s Efaufe nervigen, ber ben I^errlicfcn «guftanb beraub 
fuhren werbe. «nbltdj Ratten fie bas Dolf 3 srael feibft als beit 
aus ber Dolfermelt ermatten 5 oI ? n (Sottes be 3 eicf>net. Diefe brei 
(omente fmb für bte 2 lusbilbung ber mefftanifdjen 3 been in ber 
5 oIge 3 eit maßgebenb geworben. Die Hoffnung auf eine herrliche 
fbf-Tr l V0lh5 3smd blkb ber Saljmen für alle «rwartungen 

Zl Tmt b * 6eiben 3a ^ unöerte « »or £I;riftus nod) 

ZJt V ber Erweiterung bes gefdpchtlidjen fjorgontes würbe 
bas 3 ntereffc ber 3 uben für bie Dölferwelt immer lebenbigei bie 
9 j™teni „DTenf^eil ftellt fiel? ein, unb bas «nbe^ alfo 
^ ij, Ä)lrfcn öes Meffias wirb auf fie be 3 ogen- bas (Sericbt 

J UnÖ Öer meffias ^M^rrfcfcr unb widjter 2 2 bt 

eme ftttü^e Cauterung bes Dolfes Ejatte man fdjon früher im Bin 

5 embe 3 sraels erfefpen bodj als bie ifauptfache; nun aber würbe 
m utelen bas (Sefüld ber fittlidjen Derantwortlicfjfeit unb bie <£r< 




85 


fenntnis (Sottes als bes ^eiligen lebenbiger; bie nteffianifche Seit 
verlangt ein betliges Holf, unb bas (Sendet mirb baBjer notmenbig 
and) ein (Sericht über einen tEeil non 3 ^rael felbft fein muffen* 
5* Der 3 n ^i r> ^ ua ^ 5mu5 tnurbe fräftiger, unb bemgentäß trat bie 
23 e 3 iefyung (Sottes auf ben einjelnen in ben Dorbergrunb: ber ein3elne 
3sraelit entpftnbet fich inmitten feines Dolfes, unb er beginnt fein 
Holf als eine Summe non ei^elnen 3U beurteilen; ber inbmibuelle 
Dorfefyungsglaube tritt neben ben politifchen, oerbinbet fich mit bent 
XDert* unb Herantmortungsgefühh unb es hämmert bie Hoffnung 
auf ein einiges Ceben unb bie furcht nor einiger Strafe im <§u* 
famtnenhang mit ben enbgefchichtlichen (Ermartungen auf — bas 
perfönlicfye J^eilsintereffe unb ber Kuferftehungsglaube finb bie 
(Ergebniffe biefer inneren (Entmicflung, unb bas gefdurfte (Semiffert 
nermag bei ber offenbaren Unfyeiligfeit bes Dolfes unb ber HTacfyt 
ber Sünbe auf eine fyerrlidye Sufunft für alle nicht mehr 3U hoffen; 
nur ein Heft toirb gerettet; bie <§ufunftserinartungen merben 
immer mehr transcenbent; fie merben immer ftärfer ins Hbernatür* 
lid?e unb Itbermeltliche umgefeßt; nom Fimmel fommt etmas gan3 
Heues auf bie (Erbe, unb ein nöllig neuer XDeltlauf löft ben alten 
ab; ja felbft bie nerflärte (Erbe ift nicht mehr bas letzte Siel; bie 
3 bee einer abfoluten Seligfeit, beren Stätte nur ber £jimmel felbft 
fein fann, taucht auf; 5 * bie perfönlichfeit bes ermarteten Hteffias 
gren3t fid) fdjärfer mie gegen bie 3 ^ee eines irbifchen Königs, fo 
gegen' bie bes Dolfes als gan3en unb gegen bie (Sottes ab: ber 
Hc-efftas behält faunt noch irbifche <§üge, obgleich er als HTenfch 
unter HTenfchen erfcheint: feit ben Cagen ber Ur3eit ift er bei (Sott, 
fommt nom fjintmel hernieber unb richtet mit übertnenfetlichen Hlitteln 
fein IDerf aus; bie fittlichen Süge in feinem Hilbe treten B^ernor: 
er ift ber oollfommene (Serechte, ber alle (Sebote erfüllt, ja felbft 
bie Dorftellung bringt ein, baß feine Herbienfte ben anbern 3U 
gute fomnten; allein bie 3^e eines leibenben Hlefftas — burdj 
3efaias 53, mie man benfen fotlte, naBje gelegt — mirb nicht ge* 
monnen* 

2 llle biefe Spefulationen vermochten aber bie älteren einfacheren 
Kuffaffungen nicht 3U nerbrängen unb ben urfprünglichen patriotifch* 
politifchen 0rientierungspunft bei ber großen HTeB^ahl bes Polfes 
nicht 3U nerrüden* (Sott felbft nimmt bas Sccptev in bie f}anb, 
oernichtet feine (Segnef unb begrünbet bas israelitifche XDeltreich; 
er bebient fich ba3U eines föniglichen gelben; man fißt nun unter 





86 


feinem Feigenbaum unb feinem IDeinftorf unb genießt ben Frieben 
mbern man ben Fuß auf ben Harfen feiner Feinbc hält — bas mar 
bod; mot)[ nod) immer bic populärfte Dorftellung, unb fie mürbe 
audj non folgen feftgel^alten, bie baneben Eueren Knfdjauungen 
nadjgmgen. Kber in einem Ceil bes Dorfes mar unjmeiferfaft ber 
5 mn bafür gemerft, baß bas Heid; (Sottes eine entfpred,enbe fitt* 
hebe Derfaffung norausfeße, unb baß es nur 3 u einem geregten 
Dorfe fommen fönnc. Die einen fudjten biefe (Berechtigte« auf bem 
Wege ber pünftlichften (Befeßesbeobachtung 3 u ermerben unb fonnten 

€ifer um f ie 9*™9 tt)un; anbere, uon tieferer 

Selbfterfenntms bemegt, begannen etmas banon 3 u ahnen, baß jene 
^etß erfehnte (Berechtigte« felbft nur, aus (Sottes ffanb fommen 
forme baß man göttlicher ffülfe, göttlicher (Snabe unb Sarmheräg* 
feit bebürfe, um bie Caft ber Sünbe - benn ein inneres Sfinben- 
gefubl mürbe in ihnen quatnoll lebenbig — los 3 u merben. 

So mogten im Zeitalter Chrifti fomohl gan 3 bisparate Stint* 
mutigen als fonträre theoretifche Dorfterfungen, auf einen punft 
bezogen, milb burd ? einanber. Dierfeicht niemals in ber (Sefd;id ? te 
mteber unb bet feinem anberen Dorfe lagen bie dußerften (Segen* 
faße uon ber Heltgion 3 ufammengehalten, fo nahe bei einanber. 
Halb erfchemt ber £fori 3 ont fo eng mie ber Kreis ber Serge bie 
Jerufalem umgeben, halb umfaßt er bie gan 3 e DTenfchheit. Bier 
tft alles auf bte fföhe einer geiftigen unb fittlid?en Knfdjauung er« 
hoben unb bort, bidjt baneben, fdjeint bas gan 3 e Drama mit ‘einem 
poIthfd?en Stege bes Dolfes fchließen 3 u follen. hfier entbinben ftdr 
alle Kräfte bes (Bottnertrauens, ber Suuerftcht, unb ber Fromme' 
ringt ftd; 3 u einem heiligen „Dennoch" burcf?, bort hält ein fittlid? 
ftumpfer patriotifeßer Fanatismus jebc religiöfe Hegung nieber. 

Das Silb, melches man ftd? uom DTefftas machte, mußte fo 
mtberfpruchsnolt fern mie bie Hoffnungen, benen es entfprcchen 
follte. Dicht nur bie formalen Dorfterfungen uon ihm fd,manften 
unfidjer hm unb her — mie mirb feine Hatur befchaffcn fein? — 
fonbern uor altem fein inneres IDefen unb fein Beruf erfdnenen 
tu gan 3 uerfchiebenem Od)te. Kber bei allen benen, in meldien 
bte fitttichen unb mahrhaft religiöfen (Elemente bie ©berbanb 3 u 
gemmneu begannen, mußte bas Bilb bes politifchen unb bes friege* 
rtfehen Königs 3 urürfmeichen unb bas Bilb bes Propheten, melches 
immer fefjon teife auf bie Dorfterfungen eingemirft hatte, an bie 
Stelle treten. Daß ber Hieffias (Sott nahe bringen, baß er irgenbmie 



87 


<Sered)tigfcit fdjaffeu, baf er r>on ben quälenben inneren £aften 
befreien werbe, würbe erhofft. T>af es im jübifchen Wolfe bamats 
(Staubige gegeben Ejat, bie einen folgen Hteffias erwarteten ober bod) 
nicht Pön pornherein abtebnten, 3eigt uns bereits bie (Sefcbicbte 
3 obannes’ bes Cäufers, wie wir fie in unferen (Evangelien tefen. 
IDir erfahren aus ihr, baf einige geneigt gewefen finb, biefen 
3 obannes für ben HTeffias 3U halten. 3 X>ie etaftifcb müffett bie 
nteffianifeben Borfteltungen gewefen fein unb wie ftarf rnüffen fie 
fid) in gewiffen Kreifen non ihren Urfprüngen entfernt haben, wenn 
man biefen ganj unfönigticben Bufprebiger im 2 Ttantel non Kamels^ 
haaren, ihn, ber bem entarteten Dotfe lebiglid) bas nabe (Scricht 
anfünbigte, für ben Hlefftas felbft hatten fonnte! itnb wenn wir 
weiter in ben (Evangelien tefen, baf nicht wenige im Botfe 3 ef U5 
für ben Ztfeffias gehalten haben, nur weit er gewaltig prebigte 
unb burch lüunberthaten heilte — w>ie grünblich erfcheint ba bas 
ntefftanifche Bilb geänbert! freilich, fie fahen in biefem £jeitanbs= 
wirfen nur ben Hnfang, fie erwarteten, baff biefer £Dunbertt)ätcr 
nun halb bie tefte liütle ab werfen unb „bas Heid) auf richten" 
werbe; aber fd)on bies genügt hier, baff fie einen ZTTann, beffen 
fferfunft unb bisheriges Ceben fie fannten unb ber nod) nichts 
gethan batte als Hufe 3U prebigen, bie Habe bes bfimmetreidjs' 
3U verfünbigen unb 3U beiten, als ben Derheifenen 3U begrüfen 
vermochten. Hiemals werben wir ergrünben, burd) welche innere 
«Entwicflung 3 efus von ber (Sewifheit, ber Sohn (Sottes 3U fein, 
übergegangen ift 3U ber anberen, ber verheif ene Hieffias 3U fein. 
2tber bie <£inftd)t, baf bamats auch bei anberen bie Porfteltung 
vom Hteffias burd) eine langfame Umwanbtung gans neue <§üge 
erhalten batte unb fid) aus einer politifdpreligiöfen 3bec in eine 
gciftig=retigiöfe umfefte — biefe <£infid)t befreit bod) bas problent 
aus feiner völligen 3 f ol ierurtg. Daf 3 ° bann cs ber (Täufer, baff 
bie 3wölf 3ünger 3efus als ben HTeffias anerfannt haben, baff fie 
nicht biefe 5orm für bie abfolute tt>ertfd)äfung feiner perfon vcr= 
worfen, fonbern fie fid) vielmehr in eben biefer Sorm feiert haben, 
ift ein Beweis bafür, wie beweglich bie meffianifdjc 3 ^ec bamats 
gewefen ift, unb erftärt es baher aud), baf Jielüs felbft fie auf* 
nehmen fonnte. Robur in infirmitate perficitur: baf cs eine gött= 
liehe Kraft unb £jerrlid)feit giebt, bie feiner irbifchen HTacht unb 
feines irbifchen (Stabes bebarf, ja fie ausfd)tiefft, baf es eine 
Htajeftät bes ^eiligen unb ber £iebe giebt, bie biejenigen, welche fie er= 





88 


& üns s? 

Etz a,s ^ ”°" «** kw„ 3«„.r:„:" 

ift ^ 3CfUS 3 “ bem £>er ZKefftas 3 u fein, gelanat 

t*« 5 ü ! rm0 ^n mir nid* 3U ergaben, aber einigl '*£ 

IS TÄ S ,"S ! ”' f " * ta9 ' (,el *' ' 5 ""‘" »« »<•* Wen« 

&en Beginn feines öffentlichen mir?™* <=,;„ 7J1 ' • Je ’ u Dor 

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2! Crf l u "^ etöeutl 9 e mefftantfcfje ifanblung »ar auch feine 
lefete - b,e Dornenfcone nnb bas Kreu 3 folgten % ^ f 

-ff *rT ^ Ben gefa0t ' es f ßi »aWeinltcf), ba§ ~s e f us ah , 5r 

*** **“* ***' *»»* M etf in"ber r 5 beitlbl £ 






89 


Befiegung jeglidjen XPiberftanbes entmideln. IPelch eine Slunbe 
muß es gemefen fein, in ber er fich als ben ernannte, von bem bie 
Propheten gerebet Ratten, als er bte gan3e < 5 efchid?te feines Polfes 
non 2 lbraham unb BTofes an im Od^te feiner eigenen Senbuttg 
fah, als er ber (Erfenntnis nicht mehr aus3umeichen oermochte, er 
fei ber oerheißene Blefjtas! Bicht mehr aus3umeichen oermochte — 
benn mie läßt es fich anbers norfteilen, als baß biefe (Erkenntnis 
3unächft als bie furchtbarfte Caft non ihm empfunbert merben mußte? 
Poch, mir finb fd?on 3U meit gegangen: mir vermögen nichts mehr 
3u fagen. Hur bas nerfteB^en mir non fyier aus, baß 3 o^annes 
red)t B^at, wenn er 34 U5 immer mieber B^eugen läßt: „ 3 d? B^abe 
nicht non mir felber gerebet, fonbern ber Pater, ber mich gefanbt 
B^at, B^at mir ein (Sebot gegeben, mas ich tBjun unb reben foll," 
unb: „ 3 ch bin nicht allein; benn ber Pater ift bei mir/' 

XPie mir immer über ben Begriff „XHefjtas" benfen mögen — 
er mar hoch bie fcfyledjtBjin notmenbige Porausfe^ung, bamit ber 
innerlich Berufene innerhalb ber jübifdjen Beligions* 
gefehlte — ber tiefften unb reifften, bie ein Polk erlebt Bjat, ja 
mie bie <gufunft 3eigen follte, ber eigentlichen Beligionsgefdachte ber 
Btenfchheit — bie abfolute Anerkennung 3U geminnert 
oermochte* Piefe ^$bee ift bas VCixiie l gemorben, um ben, ber 
fich als ben 5 ohn (8ottes mußte unb bas XPerf ( 5 ottes trieb, mirflich 
auf ben CB>ron ber (Befchichte, 3unächft für bie Gläubigen feines 
Polfes, 3U fe^en. Aber eben barin, baß fie bies leiftete, mar auch 
ihre Aufgabe erfdjöpft. Per „ATeffias" mar 34 U5 unb mar es 
nicht, unb 3mar beshalb nicht, meil er biefen Begriff meit hinter 
fich ließ, meil er ihn mit einem 3rch<*lt erfüllt' hatte, ber ihn fprengte. 
XPobl nermögen mir heute noch an biefem uns fo frembert Begriff 
eüt3elnes nad^uempfinben — eine 3 ^ee, bie ein gan3es Polk 3 ahr* 
hmtberte lang gefeffelt unb in ber es alle feine 3^eale niebergelegt 
hat, kann nicht gart3 unnerftänblich fein. XPir ernennen in bem 
Ausblick auf bie meffianifche Seit bie alte Hoffnung auf ein golbenes 
Seitalter mieber, jene Hoffnung, bie, oerfittlicht, bas Siel jeber 
kräftigen Cebensbemegung fein muß unb ein unoeräußerliches Stück 
jeber religiöfen (8efd?ichtsbetrachtung bilbet; mir feBjen in ber (Er* 
martung eines perfönlichen Aleffias ben Ausbruck ber (Erkenntnis, 
baß bas fjeil in ber ( 5 efchichte in ben perfonen liegt unb baß, 
menn eine (Einheit ber Alenfchheit in ber Übereinftimmung ihrer 






90 


‘‘! r|k ’", Krd ^ c unö I 5 ö ^)' tcn diele .piftanbc fommen foll, eben biefe 
Wenfchhetf in ber Knerfcnnuttg eines fferrn unb Weifters geeinigt 
|em muß. Kber barüber hinaus nermögen mir ber mcffianifdien 

j£j „7? r UUb d,K <5cItU " 9 " id?t 3 « geben; 3 efus 

)db[t r?at ftc ifyr genommen. 

r„ 3 " Öe ! 2 tnerfennung 3 efu als bes iTceffias war für jeben 
g aubtgen Juben bte mmgfte Derbinbung ber 33 otfchaft 3 cfu mit 
ferner perfon gegeben: in bem Wirfen bes Weffias fommt (Sott 
felbft 3 « fernem Polte; bem Weffias, ber (Bottes Wert treibt unb 
® 0ltC5 r f Öcn Wolhn Rimmels fißt, gebührt 

a^rn <■ Wle ** fidl 3efUS m 3U t' cincm «^ngelium 
gefteHt, nimmt er eine Stellung in ihm ein? Wir haben hier eine 
negatwe unb eme pofit'iue Antwort 3U geben. 

f 1 Z QS , f mn ^ lium if* w öen Werfmalen, bie mir in ben 
fruherm Porlefungen angegeben haben, erfdiöpft, unb nichts Srentbc* 
foa ftd, embrdngen: (Sott unb bie Seele, bie Seele unb ihr (Sott. 
3 efus hat baruber feinen Reifet gelaffen, baß (Sott im (Sefefc unb 
ben Propheten gefunben werben fann unb gefunben worben ift. 
'f S J* ötr gefügt, Wenfch, »as bir gut ift unb was bein (Sott 
uon btr forbert, nämlich (Bottes Wort halten unb Siebe üben unb 
bentuhg fein nor beinern (Sott." Per Zöllner im (Tempel, bas Weib 
am (Sottesfaften, ber uerlorene Sohn finb feine parabigmen; fte 
aüe unffen nichts uon einer „Cljriftologie", unb bod? hat ber Zöllner 

brlbt Tn? f Tn ne, s Ök ® md ^P red ? u "9 f°^gt- Wer baran 

rw!' in f '. ber DenDun bet bie Schlichtheit unb (Stöße ber 
prebtgt Jefu an einer ihrer wichtigen Stellen. <£s ift eine uer= 
zweifelte Annahme, 3 u behaupten, im Sinne 3 efu fei feine gan 3 e 
piebtgt nur etwas Porläufiges getuefen, alles in ihr müffc nach 
fernem Cobe unb feiner Kuferftehung anbers uerftanben, ja einiges 
gletd)fain als ungültig befeitigt werben. Pein — biefe Perfürtbigung 
tft einfacher, als bte Kirchen es wahr haben wollten, einfacher, aber 
barum auch unmerfaler unb ernfter. Wan fann ihr nicht mit ber 
C . ntrmnen ; 3d; nermag mich in bie „Chrijtologie" „idjt 

We?*!n’b ÖarUn i lt /‘ efC Preb ‘ 9t nid!t für mid ?- 3efns hat ben 
Wertfdjett bte großen fragen nahe gebracht, (Softes (Snabe unb Samt. 

herjigfeit »erfaßen unb eine «nifcheibung uerlangt: (Sott ober ber 

ST° n -Tf irbi f d ?<* CcBen, Seele ober Seih, Demut ober 
Sclbftgeieditigfcit, Siebe ober Selbftfudit, Wahrheit ober Süge. 3 n 



91 


bent Hing biefer fragen ift alles befchloffen; ber ein3elue foll bie 
frohe Hotfchaft non ber 23 armher 3 igfeit unb ber Kinbfchaft hören 
unb fich entfdjeiben, ob er auf bie Seite (Sottes unb ber (Ewigfeit 
tritt ober auf bie Seite ber XPelt unb ber Seit. (Es ift feine para* 
bo^ie unb wieberum and) nicht ,Rationalismus" fonbern ber ein* 
fache Kusbrud bes CBjatbeftanbes, wie er in ben (Evangelien vor¬ 
liegt: Hicfyt ber Sohn, fonbern allein ber Pater gehört in 
bas (Evangelium, wie es 3 ^f U5 verfünbigt B^at, hinein. 

2. Kber fo, wie er beit Pater fennt, B^at ihn noch nientanb er* 
f annt, unb er bringt ben anbern biefe (Erfenntnis; er leiftet bamit 
„ben vielen" einen unvergleichlichen Pienft. (Er führt fie 311 (Sott, 
nicht nur burch fein XPort, fonbern noch mehr burch bas, was er 
ift unb tB)ut, unb textlich burch bas, was er leibet. 3 n biefent Sinn 
hat er fowohl bas XPort gefprochen: „Kommet her 3U mir alle, bie 
ihr mühfelig unb belaben feib; ich null euch erquiden", als auch bas 
anbere: „Pes XTüenfchen Sohn ift nicht gefomtnen, baß er fich bienen 
Iaffe, fonbern baß er biene unb gebe fein Ceben 3ur Cöfung für 
viele." (Er weiß, baß eine neue Seit jeßt burch ihn beginnt, in 
ber bie „Kleinften" burd? ihre (Sotteserfenntnis größer fein tverbert 
als bie (Srößten ber Por3eit; er weiß, baß Caufenbe an ihm ben 
Pater finben unb bas Ceben gewinnen werben — eben bie XHüh* 
feligert unb Helabenen —; er weiß fich als ben Säemann, ber ben 
guten Samen ftreut: fein ift bas Kderfelb, fein ber Same, fein bie 
5 rud)t. Pas finb feine bogtnatifchen Cebrert, noch weniger Crans* 
formationen bes (Evangeliums felbft ober gar brüdenbe ^orberungen 
— es ift bie Kusfprache eines Chatbeftanbes, ben er fchon werben 
fieht unb mit prophetifcher Sicherheit vorausfdjaut. Pie Slinben 
fehen, bie Cahnten gehen, bie Cauben hören, ben Firmen wirb bas 
(Evangelium geprebigt — burch 3 h n - an biefer (Erfahrung geht 
ihm unter ber furchtbaren Caft feines Berufs, mitten im Kampfe, 
bie Iqerrlichfeit auf, bie ihnt ber Pater gegeben h a ** Unb was er 
jeßt perfönlich leiftet, wirb burch fein mit bent Cobe gefröntes Ceben 
eine entfeheibenbe, fortwirfenbe Chatfache bleiben and] für bie < 3 u* 
funft: (Er ift ber XPeg 3um Pater, unb er ift, als ber vom 
Pater (Eingefeßte, auch ber Hidjter. 

X}at er fich geirrt? XPeber bie nächfte v?olge3eit noch bie (Se= 
fdjichte h a * ih m unrecht gegeben. Hiebt wie ein 23 eftanbteil gehört 
er in bas (Evangelium hinein, fonbern eriftbieperfönlichePer* 
wirflichung unb bie Kraft bes (Evangeliums gewefen unb 








92 


ro ' rÖ no J tmmcr aIs etitpfunben. .fener cntjünbet ftdj 

XTi T's PaN ? S £eben nur «" perfönlichen Kräften. 
Wiv laffen alles bogmatifdie Klügeln beifeite unb überlaffen es anbern 

epflufme Krtetle 311 fällen; bas «gpangelium behauptet nicht, baß (Sottes 

v Uf ^t.f! nbUnS 3e{u [5c ^ ränft aber lehrt 

efchtchte: bte BTuhfeiigeit unb Beiabenen führt <£r 3U (Sott 

unb tmeberum _ bie Blenfchheit hat (Er auf bie neue Stufe 

gehoben, unb ferne prebtgt tft noch immer bas fritifche Reichen: fte 
bcfeltgt unb rtcf]tet. 

• f 5a -’ : r " 3d? bin bcr 5 ohit (Sottes", ift non 3 efu felbft nicht 
m fein (Euangeltum emgerüctt morben, unb mer ihn als einen Safe 
neben anderen bort einfteltt, fügt bem (Euangelium etmas fpmu. Kber 
u>er btefes aufnimmt unb ben 3 u erfennen ftrebt, ber es gebracht 
hat, trnrb bezeugen, ba§ hier bas (göttliche fo rein erfreuen ift, 

v T■ erfd?Cinm ^ UUÖ mirö ^Pfiahen, baß 
Jefus felbft für bte Semen bie Kraft bes <£uangeiiums gemefen ift. 

Was fte aber an ihm erlebt unb erfannt haben, bas haben fie 
nerfunbtgt, unb biefe Perfünbigung ift noch lebenbig.. 

6. Pas «uangelium unb bie £ehre, ober bie Ärage nach 
bem 23 efenntitis* 

• s W Z ! ÖnnCn 11,15 I?ier fur5 HK ba bas iPefentlichfte bereits 
m ben beengen Betrachtungen erschöpft ift. 

. ® a f «wngelium ift feine theoretifefje Cchre, feine iPeltmeis« 
Jett -eqre ift es nur mfofern, ats es .bie IPirfiichfeit (Sottes bes 
Paters lehrt. <2s tft eine- frohe Botfcfjaft, bie uns bes einigen 
£ebens uerpehert unb uns fagt, mas bie Pinge unb bie Kräfte 
mert fmb, mit benen mir es 3 u fhun haben. 3nbem es nom 
emtgenCcben hanbelt, giebt es bie Kümeifung für bie rechte £ebens« 
fuhrung. Reichen JPert bie menfchtiche Seele, bie Pemut, bie 
Barmher3tgfett, bte Bereit, bas Kreu ä haben, bas fagt es, unb 
melchen Knmert bie «seitlichen (Süter unb bie ängftiiehe Sorge um 

trol aSst f W 1 t n £ebmS ■ ^ e5 9iebt bie 3 »f« 0 e, ba 6 

t f 5ncÖe ' unb innere Un 3 erftörbarfeit 

b^e rechte £ebensfuhrung frönen merben. iPas fann unter folchen 
Bebtngungen „Befennen" anbers heißen, als ben IPiüen (Sottes 
thun m ber (Semißheit, baß er ber Pater unb ber Pergeiter ift? 
Pon feinem anberen „Befenntnis" hat 3 efus jemals gefprochen. 




93 


Kucfy u>enn er fagt: „IDer mict} befennet por ben HTenfcfyen, ben 
rotn idj aud? befennen por meinem fyimmlifcfyen Dater", benft er 
an bie Ha erfolge unb meint bas Befenntnis in ber (Seftnnung 
unb in ber tEB>at XOie rueit entfernt man fid? alfo pon feinen 
(Sebanfen unb pon feiner Kmpeifwtg, wenn man ein „cfyriftolo* 
gifdjes" Befenntnis bem (Epangelium poranftellt unb lefyrt, erft 
müffe man über Cfyriftus richtig benfen, bann erft fönne man an 
bas (Epangelium Bjerantreten! Das ift eine Derfefyrung* Über 
(Efyriftus permag man nur bann unb in bem ZHaße „richtig" 5U 
benfen unb 3U lehren, als man nad? feinem (Epangelium 3U leben 
begonnen fyat Kein Dorbau ftefyt por feiner prebigt, ben man erft 
3U burcfyfcfyreiten, fein 3ocfy, bas man allem 3UPor auf ftd? 3U nehmen 
Rätter bie (Sebanfen unb ^ufagen bes (Epangeliums finb bie erften 
unb finb bie lefeten; jebe Seele ift unmittelbar por fie geftellt 

Hod? toeniger aber fefet bas (Epangelium eine beftimmte Hatur* 
erfenntnis poraus ober ift mit ifyr perfnüpft — nidjt einmal im 
negatipen Sinn Iä§t ftd^ bas behaupten* <Es B^anbelt ftd? um He* 
ligion unb um bas Sittliche; bas (Epangelium bringt ben lebenbigen 
(Sott Das Befenntnis 3U ifym — im (Stauben unb in ber (Erfüllung 
feines Willens — ift aud? Bjier bas ein3ige Befenntnis: fo fyat es 
3 efus (Efyriftus gemeint Was fid^ an (Erfenntniffen auf (Srurtb 
biefes (Slaubens ergiebt — unb es finb geroattige —, bas bleibt 
bod] immer perfcfyieben nad? HTajggabe ber inneren (Enttpicflung 
unb bes fubjeftipen Derftänbniffes* 2 ln bas (Erlebnis, ben f}errn 
Rimmels unb ber (Erbe 3um Dater 3U traben, reicht nichts Bjeran, 
unb bie ärmfte Seele fann biefe (Erfahrung erleben unb be3eugen* 
(Erleben — nur bie felbft erlebte Heligion foll befannt roerben; 
jebes anbere Befenntnis ift im Sinne 3 ^f u fyeucfylerifd} unb per* 
Nberblid?* XDie ftd] in bem (Epangelium feine breite „Heligionslefyre" 
finbet, fo nod? piel roeniger bie Kmpeifung, eine fertige Cefyre allem 
3UPor an3uneB}men unb 3U befennen* «Entfielen unb roaebfen follen 
(Slaube unb Befenntnis aus bem entfdjeibenben punft ber Kbfefyr 
pon ber IDelt unb ber gufefyr 3U (Sott heraus, unb bas Befennt* 
nis foll nichts anberes fein als ber tE^aterrpeis bes (Slaubens* 
„Der (Slaube ift nicfyt jebermanns Ding", fagt ber Kpoftel paulus, 
aber jebermanns Ding foHte es fein, toaBjrfyaftig 3U bleiben unb 
fid] in ber Heligion por bem (Sefcfyrpä^ ber Cippen unb bem leicht* 
fertigen Befennen unb <§uftimmen 3U Brüten* „(Es B>atte ein HTamt 
3tpei SöBjne unb ging 3U bem erften unb fprad?: Hiebt Sofyn, gefye 






94 


f)tn unb arbeite beute in meinem XDeinberg. <g r antwortete: Berr 
ja unb. gmg md?t f?in. Unb er fprad? 3 um Ruberen greid? alfo' 
unb er antwortete: 3cf? will es nicfjt tfjun; barnacf? reu'ete es ibn 
uno gmg fyru" — 


^lermit tonnte id? fd?ließen; aber es brängt mid? nod), auf 
einen «Entwurf 3 u antworten. Ulan fägt wof?I, bas ©oangelium 
]et ergaben unb groß unb fei gewiß eine f?eilfame Kraft in. betf 
cfd]telfte gemefen, aber cs fei untrennbar nerfnüpft mit eindm 
angft uberwunbenen XDelt- unb ©efd?id?tsbilbe; best?alb, fo fd,mern 
ltd? bas fei unb obgleid? wir 5 eff eres „icf?t an bie SteEe 3 u feßen 
nerntogen I?abe es feine ©ültigfeit eingebüßt unb fönne für uns 
mdjts mefjr bebeuten. darauf mödjte id? ein Doppeltes erwibern: 

B ©ewtß, es ift ein gan 3 anberes JDetb unb ©efd?id?tsbilb 
a 5 ft.* unfeige, mit welcfjem bas ©uangelium nerbunben ift unb 
wir tonnen unb woEen biefes Bilb nid?t wieber äurücTrufen; 7 aber 
" untrennbar" ift es nid?t mit il?m oertnüpft. 3d? [?abe 3 u 3 eigen 
nerfudjt weidjes bie wefentlidjen ©lemente im ©nangelium finb, 
unb biefe Zemente ftnb „ 3 eittos". Kber nid?t nur fie finb es; aud? 
ber "ZTienfd?", an ben fid? bas ©nangelium ridjtet, ift „ 3 eitIos" 
b. b. es ift ber BTenfd?, wie er, troß aEem 5 ortfcf?ritt ber «Entwich 
lung m feiner inneren Derfaffung unb in feinen ©runbbe 3 iebungen 
3 ur Jußenweft immer berfefbe bleibt. iDeit bem fo ift,. barum 
bleibt biefes ©nangelium auef; für uns in Kraft. 

2 . Das (Enangeliunt unb bas ift bas ©ntfdjeibenbe in 
feinem JDelb unb ©e|d?td?fsbtlbe — ruf?t auf bem ©egenfaße non 
©etft unb 5 fetfd?, ©oft unb Welt, bem ©uten unb bem Böfen. 

, un , nocf ? «s öen Deutern troß f?eißem Bemüf?en nid?t ge= 
lungen, eine befrtebigenbe unb ben tiefften Bebürfniffen entfprecf?enbe 
(Ettjif auf bem Boben bes KTonismus aus 3 ubilben. <£s wirb nid?t 
gelingen. Dann aber ift es leßtlid? wefentiid? gleichgültig, mit 
wetten Barnen wir ben «gwiefpalt be 3 eid?nen woüen, um ben es 
ßd? für ben fittlid? empfinbenben UTenfdjen tjanbelt: ©ott unb JDelt 
Dicsfeits unb 3 enfeits, 5 id?tbares unb itnfid?tbares, DTaterie unb 
©cift, Cnebleben unb 5 reil?eit, pf?yfif unb ©tfjif. Die ©inbeit 
ann erlebt, eines bem anberen unterworfen werben; aber bie 
©mt?eit fommt immer nur burd? Kampf 3 uftanbe in ber 5 orm einer 
unenblid?en, nur annät?ernb 3 u löfenben Aufgabe, nid?t aber burd? 
Verfeinerung eines med?anifd?en pro 3 effes. „Don ber ©ewalt, bie 



95 


alle IDefen binbet, befreit ber ZUenfdj fid), ber fid? überminbet", 
biefes Bjerrlidje IDort ©oetfye’s brüeft bie Sacfye aus, um bie es 
fid) b^ier Bjanbelt* Sie bleibt, unb fie ift bas XDefcntlicfye in ben 
bramatifcfyen, 3citgefd)id]tlid}en Silbern, in mcld]en bas ©oangeliunt 
ben ©egenfaß ausbrüdt, beffen Überminbung es gilt. 3 d} meiß 
aud] nidjt, wie uns unfere fortgefdjrittene Haturerfenntnis Bjinbern 
follte, bie IDafyrfyeit bes Befenntniffes 3U bejeugen: „Die XDelt oer* 
gcfyet mit ifyrer Cuft, mer aber ben IDiHen ©ottes tb^ut, bleibet in 
©migfeit?" Um einen Dualismus Bjanbelt es fid], b^ffert Urfprung 
yn\ x nid jt jenjxen; aber als fittlidje H)efen finb mir iiberjeugt, baß 
er, mie er uns gefegt ift, bamit mir iB }n bei uns überminben unb 
3ur (Einheit führen, jo aud? auf eine urfprünglicße «Einheit 3urüd* 
meift unb leßtlidj feinen Uusgleid) im ©roßen — in ber oermirflicßten 
bjerrfcßaft bes ©uten — finben mirb* 

Cräume, fagt man; benn mas mir oor Uugen fefyen, bietet 
uns ein gan3 anberes Bilb; nein, nid^t Cräume — mmgelt bod) 
bie ©£iften3 unferes magren Cebens b^ier —, mofyl aber Stüdmerf; 
benn mir oermögen unfere rauni3eitlid]en ©rfenntniffe mit bem 3 n * 
Bjalt unfers 3 nnenlebens nidjt in bie (Einheit einer HMtanfdjauung 
3u bringen* Hur in bem Rieben ©ottes, ber BjöBjer ift als alle 
Dernunft, afynen mir biefe ©infyeit* 

Dod] bereits fyaben mir ben Kreis unferer näcfyften Kufgabe 
ocrlaffen* Das ©oangelium mollten mir in feinen ©runb3Ügen unb 
in feinen mießtigften Be3iefyungen Bennen lernen* 3 d? f|<*bc £>er* 
fucfyt, biefer Aufgabe 3U entfpred]en; ber leßte punft führte uns 
über fie B|inaus. H)ir feeren 3U ib^r 3urüd, um im 3meiten Ceile 
ben ©ang ber cßriftlicßen Heligion burd? bie ©efcßid]te 3U oer* 
folgen* 










i 


l&tuntt ©orlBfung. 


•« s Un lfL ai I f3<,bC mnCrf?aIb öcr 3«>dten fjälfte btefer Porlefungen 
f '! r f Cfd?,C 5 tC öei ' <*vmäm Religion in ihren ^auptmomenten 
barjuftellen unb 3 u unterfuchen, mie fte ftdj im apoftoiifdjen Seit« 
alter, tm Katholtjtsmus unb im proteftantismus entmitfelt hat. 

Mt if;ri|fIM;e Beltgtmt im ap-oftolififjim Jetfalfer. 

- engeren 3 üngerfreife, aus ber (gemeinfdjaft jener 

Smolf bte 3efus um ftch gefammeit hatte, bilbetc fid| eine <5e« 

“f?"?.*' W ^ at eine W« ‘nt Sinne eines orgcmifierten 
gottesbtenfthdjen Vereins nicht geftiftet - er mar lebiglidj ber 

?fl re rl b ! e c 3U " 9Cr Ö,ß 5d?Üter Siefen —; aber bie Chatfache, 
ber Sd)ü lerfreis in eine (Bemeinbe uermanbelt bat 
if für bte ganje Solgejeit grunbtegenb gemorben. tDoburd; mar 
“f ^jarafterifiert? iüenn id? recht febje, burd? brei 
Elemente: \. burd) bte Knerfennung 3efu als bes Iebenbigen 
^ 2 v öaburd? ' öa & i^er ein 5 elne in ber neuen (Bemeinbe — 
aud, bte Knechte unb KTägbe - bie Religion mirflich erlebte 
unb ftdj tn eine tebenbtge üerbinbung mit (Bott gefegt mußte, 
l Urd! i ,n IjeiI ‘ 9es £eben in Feinheit unb Brüberlidjfeit unb 
ChrifJi. a'tung beoorftehenben KKeberfunft 

3 n biefen brei Momenten läßt ftch bie «igenart ber neuen 
(ßemetnbe erfaffen. JDk haben fte genauer 5 u betrachten. 
r , l ' 3 efu5 ^^tftus ber fjerr — in biefem 23 efenntnis fefet 
ftdj junadjft bte Knerfennung fort, ba§ er ber maggebenbe Cehrer 








— 97 — 

tft, baß fein Wo rt bie Hichtfchnur bes Cebens feiner 3 nnger bleiben 
folt, baß fie galten motten „alles, mas er ihnen geboten 
2lber barin ift ber Begriff „ber Ejerr" nicht crfchöpft, ja feine 
(Eigentümlich feit noch $ar nicht getroffen* Die Urgemeinbe nannte 
3 efus ihren Qerrn, meil er bas Opfer feines Cebens für fte ge* 
bracht blatte, unb meil fie ixberjeugt mar, baß er, aufermedt, nun 
3ur Hegten (Bottes fißc* <£s gehört 3U ben ficherften gefchichtlichen 
^hatfachen, baß nicht etma erft ber Kpoftel paulus bie Bebeutung 
bes tEobes dhrifti unb bic Bebeutung feiner Kuferftehung fo in 
ben Porbergrunb gefdjoben, fonbern baß er mit biefer Unerfennung 
gan3 auf bem Boben ber Urgemeinbe geftanben hat* „ 3 ch B^abc 
euch überliefert", fd^reibt er ben Korinthern, „mas ich (burch Über* 
Lieferung) empfangen b^abc, baß (Ehriftus geftorben ift für unfre 
5 ünben, unb baß er am britten Cage aufermeeft morben ift*" 
Paulus hat allerbings ben Cob unb bie Kuferftchung (Ehrifti jutn 
(Begenftanb einer befonberen Spefulation gemacht unb bas ganse 
(Eoangelium in biefe (Ercigniffe foufagen eingefchmo^en, aber bereits 
für ben perfönlichen ^ixnqexhcxs 3 ß fu unb bie Urgemeinbe galten 
fie als grunblegenb. UTan barf behaupten: bie bleibenbe Kner* 
fennung unb bie Derebrung unb Knbetung 3ef u Chrifti hat fycv 
ihren b}alt empfangen* Kuf bem (Brunbe jener beiben Stüde ift 
bie gan3e (Ehnftologie ermachfen* <Es ift aber fchon in ben erften 
3mei HTenfchcnaltern alles non 3^f U5 Chtiftus ausgefagt morben, 
mas Ulenfchen fyofyes überhaupt 3U fagen oermögen* XBeil man 
ihn als ben Cebenbigen mußte, pries man ihn als ben 3ur Hechten 
<Bottes Erhöhten, als ben Überminber bes Cobes, als ben dürften 
bes Gebens, als bie Kraft eines neuen Dafeins, als ben H)eg, bie 
XPahrhcit unb bas Ceben* Die mcffianifchen PorfteHungen ge* 
fiatteten es, ihn an ben Q>ron (Bottes 3U ftellen, ohne ben Hlono* 
theismus 3U gefäbrben* Über oor allem — man empfanb ihn als 
bas mirffame prin3ip bes eigenen Cebens: „Hicht ich lebe, fonbern 
<Ehnftus lebet in mir"; er ift „mein" Ceben, unb burch öen tEob 
3U ihm b^Öurd)3ubringen ift (Beminn* Wo hat ftch in ber (Be* 
fchichtc ber Ulenfchheit etmas ähnliches ereignet, baß bie, melche 
mit ihrem Uleifter gegeffen unb getrunfen unb ihn in ben gügen 
feiner UTenfchlichfeit gefehon haben, ihn nicht nur oerfünbigten als 
ben großen Propheten unb Offenbarer (Bottes, fonbern als ben 
göttlichen Cenfer ber (ßefchid}te, als ben „Knfang" ber Schöpfung 
<ßottes unb als bie innere Kraft eines neuen Cebens! So haben 

£?artta <f, XOcfen b. Ctirijlentums. 7 







Hluhameb’s 3 üngcr non ihrem Propheten nicht gcrebet! £s g C « 
niigt aud; nicht, 5U fagen, man babc bie meffianifchen präbifatc 
einfach auf 3 c f us übertragen, unb non ber erwarteten tBieberfunft 
in fjerrlidjfeit aus, bie ibjre Strahlen rüdwärts warf, fei alles ju 
erflären. (Sewig, in ber fidleren bfoffnung auf bie tBieberfunft 
falj man über bie „Hnfunft in Biebrigfeit" hinweg; aber ba§ man 
biefe fidjere Hoffnung 3U faffen unb fefouhatten r>ermod)tc, baß man 
tro^ £eiben unb Cob in 3 hm ben Derbeigenen HTeffias erblidte, 
unb tnie man in unb neben bem nulgären meffianifd;en Bilbe 3hn 
als ben gegenwärtigen fjerrn unb fjeilanb empfunben unb ins 
fjers gcfd)Io|fen bat — bas ift bas <£rftauntid;e! Hnb hier eben 
ift es ber Cob „für unfre Sünben" unb ift es bie Huferwedung 
gewefen, bie ben an ber perfon gewonnenen Cinbrud befeftigteu 
unb bem (Stauben ben fieberen fjalt boten: er ift als ein ©pfer 
für uns geftorben, unb er lebt. 

Pielcn finb beute biefe beiben Stücfc febr fremb geworben, 
unb jtc fteben ihnen teilnabmtos gegenüber — bem Cobe, bentt 
wie fann man einem einseinen (Ereignis biefer 2trt eine folche Bc- 
beutung beinteffen? ber Huferwedung, benn etwas Unglaubliches 
wirb hier behauptet. " s 

€s ift nid)t unfre Aufgabe, jene Beurteilung unb biefe Bor- 
ftcltung 3U oerteibigen, wobt aber ift es Pflicht bes bjiftorifers, beibe 
fo DoIIftänbig fennen 311 lernen, bag er bie Bebeutung naefouem- 
pfinben cermag, bie fte gehabt haben unb nod; hauen. Sag jene 
Stüde für bie ttrgemeinbe fjauptftüde gewefen finb, hat nod; nie- 
manb be 3 weifelt; aud; Straug hat es nicht in Hbrebe geftellt, unb 
ber groge Kritifer Serbinanb Chriftian Baur hat anerfannt, 
bag fxdi bie ättefte Chriftenheit auf bem Befenntnis 3 u ihnen auf^ 
erbaut hat. Sann mug es möglich fein, ein nadjempfinbenbes Ber- 
ftänbnis für fie 5U gewinnen, ja oielteicht nod; mehr: wenn man 
in bie Ciefe ber Beligionsgefd]ichte einbringt, fo erfennt man bas 
an ben iBur 3 eln bes (Staubens liegenbe Hecht unb bie iBahrbeit 
uon Borftellungen, bie an ber ©berfläche fo parabop unb unan- 
rtefymBar erfcfyeinerL 

IBir betrachten 3unächft bie Borftettung, ber Cob 3 efu am Kreus 
fei ein ©pfertob gewefen. (Sewig, wenn wir in äugertichen ober 
formalen Speculationen ben Begriff „©pfertob“ erwägen wollten, 
wären wir halb am <£nbe unb jebes Berftänbnis würbe aufhören; 




99 


»olfcnbs aber auf einen loten Strang würben roir geführt, trenn wir 
uns in Spefulationen barüber einliegen, u>clche Hotwenbigfeit für bie 
©ottheit beftanben hat, einen folchen 0pfertob 311 »erlangen* XDir 
molten uns erftlid] einer gan3 allgemeinen religionsgefchichtlichen 
Chatfache erinnern* Die, treidle biefen Cob als 0 pfertob beur* 
teilten, hörten halb auf, noch irgenb welche blutige 0 pfer (Sott 
bar3ubringen* Die ©eltung ber blutigen 0 pfer war 3war fdjon 
feit ©enerationen in Zweifel geftellt unb in einem Hüdgang be* 
griffen; nun aber erft »erf djwanben fte gät^lich* Hiebt fofort unb 
mit einem Schlage — bas braucht uns fyet nicht 3U fümmern —, 
wohl aber in fünfter 5rift unb nicht erft feit ber <§erftörung bes 
jübifchen Cempels. XDeiter aber, wohin bie chriftliche prebigt in 
ber ^olgeseit fam, ba »eröbeten bie 0pferaltäre unb bie 0pfertiere 
fanbert feinen Käufer mehr* Der Cob Chrifti — barüber fann 
fein Zweifel fein — hu* ben . blutigen_0pfern in ber Heligions* 
gefehlte ein Cnbe gemacht. ©in tiefer religiöfer ©ebanfe liegt 
ihnen 3U ©rurtbe, wie fchon ihre Derbreitung bei fo nieten Dölfern 
beweift, unb fte bürfen nicht non falten unb blinben Hationaliften 
beurteilt werben, fonbern non lebenbig fühlenben XHenfchen* Wenn 
es nun offenbar ift, bag fte einem religiöfen Hebürfniffe entfprochen 
haben, wenn es ferner gewig ift, bag ber Crieb, ber 3U ihnen 
geführt hat, xn bem Cobe Chrifti feine Befriebiguug unb barum 
fein ©nbe gefunbeit hat, tuenn enblich ausbrüdlich be3eugt worben 
ift, wie wir bas im Xjebräerbrief lefen: „XTTit einem 0pfer hat 
er in ©wigfeit nollenbet, bie geheiligt werben" —, fo wirb uns 
bie Dorftcllung nicht mehr fo frembartig berühren; benn bie ©e* 
fd]id)te hat ih r recht gegeben, unb wir beginnen fte nach3uem* 
pfinben* Diefer Cob hatte ben Wett eines 0 pfertobes; benn fonft 
hätte er nicht bie Kraft befeffen, in jene innere Welt ein3ugreifen, 
aus ber bie blutigen 0pfer B^rnorgegangen ftnb; aber er war fein 
0pfertob wie bie anberen, fonft hätte er ihnen nicht ein ©nbe 
machen fönnen: er fyob fte auf, inbem er fte abfehlog* Hoch mehr 
bürfen wir fagen — bie ©eltung ber bin glichen 0pfer über* 
haupt ift burd] ben Cob Chrifti abgethan worben* XDo immer 
ein3elne Chriften ober gartje-Kirchen 3U ihnen 3urüdgefehrt finb, 
ba war es ein Büdfall: bie alte Chriftenheit hat es gewugt, bag 
nun bas gan3c 0pferwefen befeitigt ift, unb wenn fie Hechenfdjaft 
geben follte, woburch, fo nerwies fie auf ben Cob Chrifti* 

Zweitens: XD er in bie ©efdjichte Buueinfdmut, ber erfenrtt, 

7 * 




100 


5 ^°" ? CS ® cred?tcn u,,b teilten'bas llcil in ber <Scfd?tdtfe 
tft, b. h- baß ntdit »orte, fonbent traten, aber auch nicf?t Cbatcu 
fonbern nur aufopferungsvolle Ojaten, aber trieft bloß aufopferung^ 
»oüc dürfen, fonbem nur bic fjingabc bcs Cebens über bie großen 
^ortfdjrttte trt ber <Scfd?id?te entfeheibet. 3 u biefem Sinn glaube 
teb baß, fo fern uns alle SteUvertretuugs f b c 0 r i c n liegen mögen 
od; nur wenige unter uns fein werben, bic bas innere Hedjt üttb 
te iüaiu'bctt einer Ausführung wie bie 3 cfaj. c. 55 verfemten • 
„ 5 urwa^r er trug nufere MranHjeit unb lub auf fid ? unfre Schillerten " 
,,Htemanb bat größere Gebe, beim baß er fein Ceben läßt für feine 

d m ? C r ~ |0 [ ‘ at man D0 " Anfang an ben Hob Cbrifti betrachtet. 
Je fttt ,cb 3 arter jemanb fütjlt, um fo fidlerer wirb er überall in 
ber ©efchichte, wo Großes gefcheben ift, bas fteüoertrctenbe Ccibcn 
empftnben unb auf fid? bejiehen. £fat Cutter im Kloftcr nur für 
fid; gerungen, hat er nicht für uns alle mit ber Seligion, bie ibm 
überliefert war, gefämpft unb innerlich geblutet? Aber bas Krem 
Jefu Chnfti ift cs gewefett, an welchem bie KTotfdibcit bie ATadit 
ber tm Cobc fid? bewährenben Scinheit unb Ciebc fo erfahren hat, 
baß ftc cs mdjt mehr oergeffen fann, unb baß biefe (Erfahrung eine 
neue «poche ilirer (Scfdiichtc bebeutet. 

(Enbtid; drittens: Keine „vernünftige" Kcflerion unb feine 
„verftanbige" (Erwägung wirb aus ben fittrichen Jbccu ber ATcttfch- 
hett bte Kberjcugung austilgcn fönnen, baß Unrecht unb Sünbc 
Strafe verlangen, unb baß überall, wo ber (gerechte leibet, fuh eine 
befdiämcnöc unb reinigenbe Sühne vollsicbt. UnÖurchbringlich ift 
btefc Uberjeugung; beim fic ftammt aus ben Siefen, in benot wir 

m 5 n^ fÖt!lcn ' unb aus öcr *><*, bte hinter ber 

U)elt bei «rfdjctnung liegt. Perfpottet unb verleugnet, als wäre 

fte langft nicht mehr vorhanben, behauptet fid? biefe «Einficbt umerftör- 
bar tm ftttlichen cEmpfinbett ber Ulenfchen. Das finb bic (Scbanfcn 
bte von Unfang an burd? ben Cob Sftfti erweeft worben finb unb 
ihn gleidifam umfpült haben. €s finb noch anbere entfeffclt 

worben mmber bebcutenbc unb bodj 3 citweilig fehr wirffatne_ 

aber biefe würben bic mächtigften. Sic haben fid, 3 u ber feften 
Uberjeugung vertieftet, baß (Er burch fein Sobesleiben etwa- ©, t . 
fcheibenbes gethan unb baß (Er cs „für uns" Methan bat. Wollten 
wir verfuchctt, cs ausjumeffen unb 3 u regiftrieren, wie man es fehr 
halb verfocht hat, fo fämen wir 3 u abfehreefenben paraborien 
aber nachempfmben fönnen wir es mit ber Freiheit, mit ber es 



101 


ursprünglich empfunden morbeit ift. Behüten mir aber noch E?itt3U/ 
baß 3^fns felbft feinen €ob als einen Dienft be3eid]net h^/ &en 
er ben Dielen leifte, unb baß er ihtn burd] eine feierliche hanblung 
ein fortmirfenbes (Sebctchtnis geftiftet fyat — ich fehe feinen (Srunb, 
biefe Chatfache 3U bestueifeln —, fo uerftehen mir es, mie biefer 
Cob, bie Schmach bes Kreuzes, in ben HTittelpunft rüden nutzte, 

Kber als „ber fjerr" ift er nicht nur beßhalb nerfünbigt morben, 
meil er für bie Sünber geftorben ift, fonbern meil er ber Kufermedte, 
Cebenbige ift IDenn biefe Kufermedung nichts anberes befagte, als baß 
ein erftorbener Ceib non 5 Ieifch unb Blut mieber lebenbig gemacht 
morben fei, fo mürben mir alsbalb mit biefer Überlieferung fertig 
fein.) Kber fo fteht es nicht. Das Heue Ceftament felbft unter* 
fcheibet 3mifd^en ber 0 fterbotfhaft von bent leeren (Srabe unb ben 
Erfheinungen 3efn einerfeits unb bem 0fterglauben anbererfeits. 
CDbfchon es ben haften IDert auf jene Botfchaft legt, uerlangt 
cs ben 0 fterglauben auch ohne fie. Die (Sefchichte bes Chomas 
mirb ausfehlieblich 3U bem §mede er3ählt, um eu^ufchärfen, baß 
man ben 0ftergIauben h a ^ ßn folle, auch ohne bie 0fterbotfd}aft: 
,..Selig finb, bie nicht fehen unb hoch glauben." Die 3 nnger, bie 
nach Ammans gingen, merben gefcholten, meil ihnen ber (Staube 
an bie Kufermedung fehlt, obgleich fie bie 0fterbotfchaft nod] 
gar nicht erhalten h a ^ ß n. Der fjerr ift ber (Seift, fagt paulus, 
unb in biefe (Semißheit mar feine Kufermedung mit eingefchloffeit. 
Die 0 ft erbot fd^aft berichtet non bem munberbaren Ereignis im 
(Sarten bes 3 ofcph non Krimathia, bas hoch fein Kuge gefehen 
bat, non bem leeren (Srabe, in bas einige grauen unb 3 nnger 
bineingeblidt, von ben Crfcheinungen ^es £jerrn in nerflärter 
(Seftalt — fo oerberrlicht, baß bie Seinen ihn nicht fofort erfennen 
fonnten —, halb auch non Heben unb Chaten bes Kuferftanbenen; 
immer nollftänbiger unb 3imerfichtlid]er mürben bie Berichte. Der 
0ft er glaube aber ift bie Über3eugung non bem Siege bes (5efreu3ig* 
ton über ben Cob, non ber Kraft unb ber (Serechtigfeit (Sottes unb 
von bem leben beffen, ber ber (Erftgeborene ift unter nieten Brübern. 
5 ür paulus maren bie (Srunblage feines 0 fterglaubens bie (Semiß* 
beit, baß „ber 3meite Kbant" nom fjimmel ift, unb bie (Erfahrung, 
baß (Sott ihm feinen Sohn als lebenbigen offenbart fyaho auf 
bem XDege nach Damasfus. (Er h<*t ihn „in mir" offenbart, fagt 
er, aber biefe innere ©ffenbarung mar mit einem „Schauen" r>er* 







102 


bunben gewefen, fo überwältigenb wie niemals fpäter wicber. ©b 
ber Kpoftel bie Botfdjaft »om leeren (grabe gefannt E?at? Km 
gefe^ene ©heologen bejmeifcln es, mir ift es wahrfchcinlid?; aber 
eme »ÖHige Sid?erbeit lägt fid; nicht gewinnen. Sicher ift, 
oafj er unb bie 3 ünger oorihm nicht auf ben Bcfunb bes 
Grabes, fonbern auf bie «rfdjeinungen bas entfdjeibenbe (Scwidjt 
gelegt haben. über wer fann unter uns behaupten, baß er fid? 
nad;^ ben Stählungen bes paulus unb ber SEoangclicn ein beut- 
Itctjes 23 itb non biefcn <£rfd;einungen machen fönne, unb wenn bas 
unmöglich unb feine Überlieferung einäelner Vorgänge abfolut fid?er 
tft, wte will man ben ©fterglauben auf fie griinben? Cntwebcr 
man muß fid? entfd?ließcn, auf Schwanfenbcs, auf etwas, was immer 
- K>ieöer neuen Zweifeln ausgefeßt ift, feinen (glauben 3 u ftcllcn, ober 
man muff biefe (grunblagc aufgeben, mit il?r aber aud? bas jtnnlidje 
iüunber. bin ben tt)ur 3 eln ber (glaubensuorftcllungcn liegt auch 
^ier bie XOaEjrljeit unb U)irflid?feit. füas fid; aud? immer am 
(grabe unb in ben <£rfd?einungen jugetragen haben "mag — eines 
ftcljt fcft: uon biefem (grabe her hat ber un 3 crftörbarc 
(glaube au bie Überwinbung bes Cobes unb an ein 
ewiges Ceben feinen Urfprung genommen. Ulan oerweife 
md?t auf plato, nicht auf bie pcrftfdje Heligion unb bie fpätjübifdien 
(gebanfett unb Schriften. ©as alles wäre untergegangen unb ift 
untergegangen, aber bie (gewißbeit ber Kuferfteljung unb eines 
ewigen Cebens, bie fid] an bas (grab im (garten bes 3 ofcpt? fuüpft, 
ift nid]t untergegangen, unb bie Überzeugung, 3 cf us lebt, 
begrünbet nod) beute bie Hoffnungen auf bas Bürgerrecht in 
einer ewigen Stabt, bie bas irbifdje Ceben lebenswert unb erträglich 
machen. „Sr hat bie crlöft, fo burd] 5 urd?t bes Cobes im ganjen 
Ceben Kned?tc fein mußten# — befennt ber ©erfaffer bes Hebräer- 
briefs. ©as ift es. Hub — mag’s aud? nid?t ausnahmslos gelten: 
wo heute noch miber alle Sinbrücfc ber Batur ein ftarfer (glaube 
an ben unenblidfen Wert ber Seele üorl?anbcu ift, wo ber Cob feine 
Schrecfen uerlorcn hat, wo bie Ceiben biefer Seit gemeffeu werben 
au einer 3 ufünftigen Herrlichfeit, ba ift biefe Cebenscmpfinbung 
gefnüpft an bie Über 3 eugung, baß 3 efus Cl?riftus burd' ben Cob 
hinburchgebrungen ift, baß (gott ihn erweeft unb 3 u Ceben unb 
Hehrlidjfeit erhoben hat. Unb wie fann man cs fid; anbers 
»orftellen, als baß aud? für bie erften 3 unger ber' leßte (grunb 
ihres (glaubens an ben lebenbigen Herrn bie Kraft gewefen ift, 





103 


£>ie r>on ibm ausgegangen war? Unjerftörbares Ceben liatten 
jte als non ilpn ausgebenb entpfunben; nur eine fur3C Spanne 
Ijiitburd) fonntc fte fein Dob erfd)üttern; bie Kraft bcs Eferrtt fiegte 
über aEes: (Sott bat itju nid)t im Cobe 3ertreten; er lebt als ber 
«rftting ber <£ntfd)lafcnen. Bidjt burd) pbilofopf)ifd)c Spekulationen, 
fonbern burd) bie Kufd)auung bes Ccbens unb Sterbens 3 efu unb 
burd; bie €mpfinbung feiner unnergänglidjen ©nfjcit mit (Sott f)at 
bie KTenfdjtieit, foweit fte überhaupt baran glaubt, bie (Sewißßeit 
eines einigen Cebens, auf bas fie angelegt ift unb bas fte aljnt, 
gewonnen — eines ewigen Ccbens in ber Seit unb über ber Seit. 
Damit ift erft ber (Slaubc an ben lüert perfönlidjen Cebens fidjer 
gefteEt. Von aEen Derfudjen aber, bie (Sewißljeit ber „Unfterblidp 
feit" burd; Beweifc 311 begrünben, gilt ber Saß bcs Dichters: . 
„Du mußt glauben, bu mußt wagen, benn bie (Sötter teil) n feilt' 
pfanb." Kn ben lebenbigen Ejerrn unb an ein ewiges Ceben 311 
glauben, ift bie Cf[at ber aus (Sott geborenen Ärcitjctt. 

Kls ber (Sefreu3igtc unb Kuferwecfte war 3 efus ber Ejerr. 
3 n biefem Befenntnis fprad) ftd) bas ganse Derßältnis 3U ibm 
aus; aber es bot ber Knfdjauung unb Spefulation einen uner* 
feßöpflidjen 3nl)alt. Das nielgeftaltige ETCeffiasbilb würbe mit eim 
gcfd)loffen in biefen Begriff „Ejerr" unb aEe altteftamenttidicu Der* 
fjeißungen besgleid)en. Kbcr ausgefiiljrte firdiltdic „Cclircn" über 
ibn gab cs nod; nid)t: wer Ein als ben Ejerrn befannte, gehörte 
3ur (Serrtctnbe* 

2 . Die erlebte Beligion — bas jweitc Stücf, welches bie 
Urgcmeinbe cßarafterifiert, ift, baß jeber ein3elne in ibr, and) bie 
Kneditc unb ETiägbe, (Sott erleben. Das ift merfwürbig genug; 
beim 5unäd)ft foEte man benfen, baß bei biefer Ejingabe an Cbriftus 
unb bei biefer unbebingten Derefjrung für il)n fid) aEe ^römmigfeit 
in ber pünftlid)ften Unterorbnung unter feine EDorte unb öcsbalb in 
einer Krt uon freiwiEiger Kned)tfd)aft ißm gegenüber f)ätte äußern 
muffen. Kber bie paulinifdien Briefe unb bie Kpoftelgefd)id)te 
bieten uns ein anberes Bilb. §voar bie unbebingte Ejodißaltung 
ber EDortc 3 <*fu be3eugen ftc, aber fte ift uid)t ber l;cruorfted)enbfte 
Sug in bem Bilbc ber älteften Cßriftenfjcit. Biel djarafteriftifdjer 
ift, baß bie einzelnen _(£l)riften, bewegt uom (Seifte (Sottes, in ein 
lebenbiges unb gan5 perföitlicßes Behältnis 3U (Sott felbft oerfeßt 
fiitb. EBir fiabcn tieiterbings ein fd)önes Bud? erl)alten uon 




104 


"?' e roirtm 9 £n öcs (Seiftes unb ber (Seiftet im na*, 
apo tollen Scitalte^ <£s blidt an uielcn Stellen an bJa^ 

. öe, * a “f 3umcF unb füt?rt bas weiter aus, was (Sunfel 
m fetnet y^anblung übct ben ^eiligen (Seift fo einbrucfstoH für 
ö cfc Seit bargelegt hat. lüeinel bat bic »ernachläffigtcn pro- 
Weme, tu meinem Umfange unb in welchen formen bei- (Seift" 

J -'' 1 ’“' 1 '" 1 «■(*.ntitiu,ci! jo feurteilen fioö, oortaffli* er, 
mm. Dos rorteomdkiji: ,*,„i, c iii gm< 6 ei|i 4 f<1 „ 41 “ 

m« Z 7' 1 -T tebm ‘ mi eim imm »«».Song 

m.t (Sott ber als b.e maditigfte U>irflid,fcit gefpürt mürbe wie 
man fie Ui ber cntfdjloffenen Unterorbnung unter bic Autorität 
3 efu ntdjt erwartet (Sottesfinbfc^aft unb Begabung mit f“ 

T) a fe 5i, a mt f r , er -^üngcrfdocift Cbrifti einfach 3«fammcn. 
b ^m f i 0 f f aft " Ur Öann tDirfIid J »orhanben ift, wenn 
b,V ? fl? ^ <SdftC <Sottcs ^rchmaltct ift, weif noch 

®eifes P °ba t 9C ? ?te v ™ kL SiC 2 lu£ 3 ie§ung bes heiligen 

©e.ftes hat fre an bie Sptfee ihrer «gelungen geftellt. Ihr 

Berfaffer ,ft ^d, bewußt, baß bie chri|Ui*e Heligion nicht bie 
lehtc unb h°djfte wäre, wenn nicht jeber einzelne burd) fie 
nnmittdbar „ob fcbmMg m i, <5 0 „ oerboobeo „s„. 

3 nemanber ber »ollen gchorfamen Unterorbnung unter ben 

„fjerrn unb ber Freiheit im (Seifte ift bas mid)t:gftc UTerfmal 
cer Eigenart btejer Religion unb bas Siegel ihrer (Stöße. Pie 
UOtrfungen bes (Setftes jeigten fich auf allen (Sebieten, in bem 
ganzen Beretdje ber fünf Sinne, in ber Sphäre bes iPotlens unb 

r A n, ttd! ® ,c eIer «entaren Kräfte ber religiöfen Unlaae 
bur* Sehgtonslchren unb fultifdje 3 eremonie*n niebergebaften' 

u“b Kraftth r U " 0 0ffenBarten ^ *« ®flafen, in Reichen 

Z ! m 5te,3eranscn aHer 5 unftionen bis 3 u patL 

logtfchen unb bebenfiiehen guftänben. Uber unoergeffen blieb bic 

ft lft - ’T/" 1 ’ Td“ ä “ »“»»«" toi**. »»1 fie lg“ 
jcm ftormifchen unb wunberbaren <£rfd)einungen 
btmbueQe feten, baß es aber neben ihnen JPirfungen bes (Seiftes 

ik f / T 9Cfd?enft merben unö niemanb miffen fann. 
„Die 5 rucht aber bes (Seiftes", fchreibt ber Upoftel paulus ift 

ic e, cfrcubc, Triebe, (Sebulb, 5 reunblicbfcit, (Sütigfeit, Staube, 


105 


Sanftmut, Kcufd^eit / 1 Das ift bas anbcrc UTerfmal ber (£igcn= 
drt unb (Stöße btcfer Kcligion, baß fic bie elementare Kräftigfeit, 
melche fic entbunben h<*t nt*t überfchäßte, baß fie ihren geiftigen 
3 nhalt unb ib^re Sucht triumphieren ließ über alle (Sfftafcn, unb 
baß fie fich in ber Überzeugung nicht erfchüttern ließ, ber (Seift 
(Sattes, mie er auch immer fich offenbaren möge, fei ein (Seift ber 
Ejeiligfeit unb ber Ciebe. Damit finb mir bereits 5 U beut britten 
Stücf, mclches bie älteftc (Ehriftenheit charafterifiert, übergegangen. 

3. Das heilige £eben in Hcinheit unb Brüberlichlcit unb 
in ber (Erwartung ber nahe beuorftehonben XDieberfunft (Eh r ^ — 4 
ber (Sang, ben bie Kirchengefchichtc genommen h a h h a * C5 h cr ^ ß ^ 5 
geführt, baß man im Heuen Ceftament uiel mehr bie bogmatifchen 
Ausführungen h cn >orgefucht unb erörtert h a * als bie Abfchnitte, in 
benen uns bas Ceben ber älteften (Ehriften gcfchilbert mirb unb 
fittliche (Ermahnungen gegeben merben. Unb hoch füllen biefe nicht 
nur einen großen (Teil ber neuteftamentlichen Hriefe, fonbern auch 
nicht menige fog. bogmatifchc Abfchnitte finb lebiglich um )ittlichcr 
Abmonition millen gefchrieben. Sie in ben Dorbergrunb 3 U rüden, 
bat 3efus feine 3üuger angemiefen, unb bie ältefte (Ehriftenheit 
mußte es noch, baß ihre erfte Aufgabe im Ceben fei, ben EDillen 
(Sottcs 3 U thun unb fich als eine heilige (Semeinbe bar^uftellen. 
3 bre gan 5 e (Stifte^ unb ihre Uliffton beruhte barauf. < 3 mci Ejaupt- 
ftücfe ftanben ihr nach ben Sprüchen 3efu babei in erfter £inie, 
unb fic umfaßten im (Srunbc alle fittliche Betätigung: bie Hein- 
beit unb bie Brüberlichf eit. Hcinheit im tiefften unb um- 
faffenbfteit Sinn bes Worts als ber Abfchcu r>or allem Unheiligen 
unb als bie innere 5 reube an Cautcrfeit unb EPahrheit, an allem, 
mas lieblich ift unb mobllautct. Keinbeit au* in E 3 e 3 ug auf ben 
£cib. „EDiffct ihr nicht, baß euer £eib ein (Eempel bes heiligen 
(Seiftes ift, ber in euch ift? Darum preifet (Sott an eurem Ceibc." 
3n biefent h°h cn Bcmußtfein haben bie alten (Ehriften ben Kampf 
aufgenommen gegen bie Süttben ber Unreinheit, bie im Ejeibcntum 
gar nicht als Sünbcn galten. Als Kinber (Bottes unfträflich „mitten 
unter bem unfchla*tigen unb uerfchrten (Befehlest, unter melchcnt 
ihr fcheinet als fichter in ber U)elt /; — fo follten fie fich bemähren 
unb haben fie fich bcmäbrt. heilig fein mie (Sott, rein fein als ^nnqor 
vEhrifti — barm ift auch bas UTaß t>on Bericht auf bie Eöelt ge¬ 
geben, melches biefe (Semeinbe fich auf erlegt hat. „Sich *>oit ber 




106 


Ä)clt unbejfecft bellten", bas ift bie Ksfcfe, bie fic trieb unb for- 
bcrtc Das anbcrc aber ift bie Drübcrtichfeit. «inen neuen 
Sunb bcr JtTenfcfjen untereinanber Ejat fchon 3 efus felbft ins Kug'c 
gcfa§t, wenn er m feinen Sprächen bie (Sottesliebe unb bie Dädiften- 
liebe m eins gebunben E?at. Die ätteften Triften haben #1 DC r= 
Janben. Sie haben ficfj nicht nur in Porten, fonbern auch in 
traten — in lebenbiger Dermirftichung — uon Anfang an ah 
ein Druberbunb fonftituiert. 3 nbem fie ficb „Drüber" nannten, 
empfanben fte aEe Derpftichtungen, bie biefer Dame aufcrlcgt, unb 
fugten ihnen 3 u entfprecfcn, nicht burd) gefegliche Deftimmungen, 
fonbern burch freimütige Dienftleiftung, ein jeber „ad, DTaggabe 
feiner Kräfte unb (Saben. Dag man in 3 erufalem fogar bis 3 u 
einer fretmiEtgen (Süfergemeinfchaft norgefchritten fei, er 5 äbtt bie 
Kpoftclgefchtchte; paulus fagt nichts barüber, unb wenn ber um 
flarc Den# mtrflich 3 uuertäffig fein foflte, fo haben hoch meber 
blc ^etbendjriftlichen (Semeinben bas Unternehmen für 
Heue äugere ©rbnungen ber Ccbcnsuer- 
haltntffe fchtenen nicht geforbert unb nicht ratfam. Die Drüber- 
Iidjfeit, meldje „bie Efeiligen" pflegen foEtcn unb pflegten, mar 
öurch 3mei (Srunbfägc be 3 eid)net: „ 5 o ein (Stieb leibet, fo foEen 
te anberen mitleiben", unb „<£iner trage bes anbern Caft fo 
tx>crbet ifyr bas (Sefe£ (Efyrifti erfüllen". 








Bxfyn fe BorlEfung. 


Die Urgemciitbe glaubte an 3efus als ihren fjerrn unb braute 
in biefent Bekenntnis ihre unbebingte Eingabe unb bie <§ur>erficht 
3U ihm <als bem dürften bes Cebens 3um Kusbrucf; feber einzelne 
C^rift ftanb in einer unmittelbaren Derbinbung mit (Sott burch ben 
<Seift — priefter unb Vermittelungen maren nicht mehr nötig; 
enblich, biefe „^eiligen" maren jufammengefchloffen 3U Derbänben, 
bie ft di 3U einem jittenftrengen Ceben in Heinheit unb Brüberlich 5 
feit verpflichteten* <§u biefem lebten punft noch ein fur3es Wort 
(£5 ift ein Bemeis für bie 3 nrt erlichkeit unb bie ftttlidje Kraft 
biefer neuen prebigt, ba§ tro£ bem Enthufiasmus, ber aus bem 
(Erlebnis ber Heligion hervorbradj, extravagante <£rfMeinungen unb 
ftürmifdic Belegungen verhältnismäßig feiten 3U bekämpfen maren* 
(Es mag fein, baß fie häufiger gemefen finb, als bie bireften Kn* 
gaben unferer Quellen vermuten taffen, aber bie Hegel bilbeten 
fie nidit; auch ift ber Kpoftel paulus gemiß nicht ber ein3ige ge= 
mefen, ber beforgt mar, fie, wenn fie auftauchten, 3U beruhigen» 
<§mar ben „(Seift" motlte er nicht bämpfen; aber wenn ber En= 
thufiasmus 3ur Krbeitsfcheu 3U führen brohte mie in Cbcffalonich; 
ober menn bas Heben in ber Efftafe fich h eri)or ^ r dngte mie in 
Korinth, ba h Q t w nüchtern ermahnt: „XVer nicht arbeitet, foll 
auch nicht effen" unb „ 5 ünf verftänbliche, 3ur Erbauung bienenbe 
XVorte finb mehr mert als 3ehntaufenb unverftänbüch h crr)0rtf 
gefprubelte"* Kber noch beutlidier tritt bie gefamntelte Buhe unb 
bie Kraft ber Ceitenben in ben fittlichen Ermahnungen tyevvox, mie 
mir fie nidit nur in ben paulinifchen Briefen, fonbern 3. B. auch 
im petrusbrief unb im 3<*kobusbrief lefen* 3n ben einfachen 








108 


groBcn (Snm^e^äffntffe,, bes „tenfchlichcn Ccbcns foll ftd? 5er 
clnftltcfjc dbaraffcr bcmähren; fic follen gcftärft mcrben uni follen 
getragen unb burd)Ieud)tct fein uotr 5em (Seift. 3n 5en ienc- 

Vm? ?-? ' “ Ktnbern, ber fferren 3 u ben Knechten, ferner in 
öent Verhältnis 3 ur ©brigfeit, 3 ur umgebenben hcibnifchcn Welt 
unb mteberum 511 ben Wttmcn unb Waifen foß ftd) ber (Sottes- 

fcSte , a, ° kaben ® ir M* ci " Seifpiel in ber <Se= 

2 | eme Jeltgton einfefet mit foId ? er Kräftigfeit bes über* 

• I ’ d!en J 3 etüu fe ^ cln5 un£> sugieid) bic fittlidjen (Srunblagen 6 cs 

!«« ” ,< ’ 6cf ' f " 9 ' ‘> a ‘ ” ie »«Htaw. 

f t i' tlC ®Iaubensprebigt ber neuteftamentlid?en Schrift, 

fttöcr nicht innerlich ergreift, ber muß bod? im Ciefftcn belegt 

ZTT bm 2 ' eid?tum ' öer Kraft «"*> ber gart* 

1 r Öe Ir-l Itd!m l£rfenntnis ' ® cIcf?e it ! rcn Ermahnungen einen um 
rcrgIetd]Itd]eTi Wevt vevleifyen. 

TU ZZZ WeitCVCS m ° mmt ift *> icr 5» achten. Sie älteften 
^hnften lebten in ber «Ermartung ber nahen Wieberfuuft CEirifti. 

©tefe ^ffnung mar cm außerorbcntlid? ftarfcs KTotiu, meltlicbe 

S’t b Z ^T 6 ^ €rÖe ' 0eri "9 3» ^ten. Sie haben 
)teh m ’hrer «rmartung getäufd?t - bas ift ohne Klaufcl ctmu- 

raumen —, aber fic ift bod, ein f?öcf?ft mirffamer ffebel gemefen 

Z ^ k « f dt 3U “***"' “™ Pe i lehren, bas KleS ft 

1 (T b N ba5 ?° ßC 3C ° 6 3u ,,cl,men ' etliches unb «Emigcs 3 u 
n erfd?eibcn. <£s tft eine fid? miebcrf?olenbe <£rfd?einung in ber 
Kel g,onsgefd?td,te, baß ftd? mit einem neuen, großen religiöfen 

m °w\ r e ? C 5 s an f ftd? fd? ° n burd ?l d ?Iagcnb mirft, ein Kocffgient 
uerbmbet ber biefe Wirfung noch erhöht unb befeftigt. Weid, 
an ffcbcl ift immer mteber feit ben Sagen Kuguftin’s, fo oft ftd) 
bas reltgtofe «Erlebnis uon Sünbe unb ©nabe erneuerte, ber prS 

rlj fma 59 c e i. an / C 9Ctt,efen ' öer öod i feinesmegs aus bem <&. i 
Icbnts felbft gefchopft ift! Wie hat bas «rmählungsbemußtfcin 

hie Scharen Crommell’s begeiftert unb bie Puritaner biesfeits unb 
icnlcits bes Oceans gefräftigt, unb aud) biefes Bemüßtfein mar 
nur cm Kocffatent! Wie hat bie Kr mutslehre öie neuc r römmic . s 
eit unferftütjt, mcld)e fid) aus bem religiöfen Erlebniffc bes hei« 
tgen ^ranetsfus tnt KTiftelalter entmiefeit hat, unb bod? ift fic eine 

1 vZ , ^.T efCn! ® icfe Koeffizienten - man fall im 
apoftoltfd?cn Zeitalter aud, bie llber 3 eugung, ben fferrn nad? feinem 




109 


Krcuäcstobe mirflid? geflaut 3U fyaben, unter biefen (Befidjtspunft 
[teilen — lehren, baß aud? bas 3nnerlid}fte, bie Religion, nid?t 
frei unb ifoliert aufftrebt, baß [ie [o3ufagen in Hinben mädjft 
unb iB>rer bebarf, 5 ür bas apoftolifcfye Zeitalter aber ift bie (Ein* 
fid]t t>on H)id]tig!eit, baß nid}t nur troß bem (Entfyufiasntus, fonbern 
aud] troß ber gefpannten escfyatologifcßen Hoffnung bie Aufgabe 
nid]t uernad|läf[igt mürbe, bas irbifd^e Ceben 3U ^eiligen, 

Die brei Elemente, welche mir als bie mießtigften 3ur (EBjaraf* ° 
teriftif ber älteften (Efyriften fyeroorgefyoben traben, fonnten 3ur Plot 
aud? im Halmen bes 3 ubentums unb in Perbinbung mit ber 
Synagoge burcßgefüfyrt merben, Platt fonnte aud) bort ^}e\ns als 
ben l^crrn atterfennen, bas neue (Erlebnis mit ber üäterfidjen 
Heligion oerbinben unb ben Bruberbunb als einen jübifeßett Kon* 
uentifel ausbilben, 3 n bev Cfyat fyaben bie erften (Semcinben in 
paläftina in biefen formen gelebt Kber jene neuen (Elemente 
miefen, fräftig entfaltet, bod? über bas 3ubentum hinaus: 3c[us 
(Efyriftus ber Xrjerr— nießt nur ^svaeVs] er ift ber bjerr ber (Se* 
fd]id]te, bas Pjaupt ber XHenfcßfyeit, Das neue (Erlebnis ber um 
mittelbaren Perbinbung mit (Bott — es maeßt ben alten Kultus 
mit [einen Permittelungen unb prieftern unnötig. Der Bruber* 
bunb — er überragt alle anberen Perbinbungcn unb entwertet fie. 
Die innere (Entmicflung, bie oirtueH in bem neuen Knfaß befcßloffeit 
lag, begann fofort, Hießt erft paulus ßat fie begrünbet; feßon r>or 
unb neben ißm B^aben uns unbefannte, namenlofe Cßriften ßin unb 
ßer in ber Diafpora Reiben in ben neuen Perbanb aufgenommen 
unb bie partifularen unb ftatutarifeßen Beftimmungen bes (Beferes 
bureß bie (Erflärung befeitigt, man müffe fie rein geiftig oerfteßen 
unb als Symbole beuten, 3 rc einem <§meige bes 3 u ^entums außer* 
ßalb paläftina’s mar biefe (Erflärung längft — freilich aus anberen 
(ßrünben — geübt morben, unb es mar bort eine <Entfd)ränfung 
ber jübifeßen Heligion bureß bas XHittel pB^ilofopI^ifdjer Deutungen 
im XPerfe, bie fie ber Xföße einer geiftigen XPeltreligion 3ufüßrtc, 
Diefe (Entmicflung fonnte mie eine Porftufe bes (Eßriftentums er* 
[deinen unb mar in mancher X}inficßt mirflicß eine folcße, 3 cn ^ 
Cßriften gingen auf fie ein, 2 luf bie[em XPege fonnte allmäßlicß 
eine Befreiung t>on bem ßiftorifeßen 3 u ^ ßn Bum unb feinen über* 
lebten Beligionsgefeßett erreießt merben. Kber fidler mar biefes 
(Enbergebnis nießt Solange es unausgefproeßen blieb, bie frü* 






110 


l)cre Schgton i)t abgetan, mußte ftets Befürchtet »erben baß 

Seb n <ße " cmtion bie Kimmungen in »ört'lüLr 
Sebuitung bod) mteber beruortreten. Wie viele Dußenbe non Kn 

faßen 3«gt Bte Seltgtonsgefchichte, baß eine überlieferte form ber 
-e£>re unb bcs Kultus, bie innerlich überitmnben ift nun hrfst' 

fX?7 f °rl!' BC|C ? i0t ^ tMd! baS mitt(! ^rHmbeutung Es 
fchetnt auch 3U gelingen; Stimmung unb Erfenntnis finb bem "zieuin 
gunftig, aber |iehe ba! halb ftellt ff* irtu s , , 

nicht 5 U fchaffen uerrnag, bann fid] nidjt behaupten unb aebt mlb 
unter. Es giebt fein fonfernatberes unb laberet Xbifb!' r 
»erfaßte Religion; foH fie einer höheren Stufe meidjen fo muß ffe 

fuTitL”!? 0 ““r r p ° liw “ 

ober bie alte Religion ihm anjunähern Es * 3 

»"6 alte „ ,„,J C ““fteSünS 

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111 


als bie < 8 efd]id]te, bie ifyt nur als HTiffionar £l]rifti fennt, unb- 
tuet! fein eigenes XPort flar be3eugt, was er fein wollte unb war, 
faffen wir ifyx als 3 ünger 3 ^fu, als ben Kpoftcl, ber ,nid]t nur 
meijr gearbeitet, fonbern aud] (Srößeres gelben f]at als bie 
anberen alle. 

paulus ift es gewefen, ber bie d]riftlidie Heligion aus bem 
3 ubentum fyerausgefüfyrt l]at. XPie bas gefc^e^en ift, werben wir 
erfernten, wenn wir folgenbes erwägen: 

paulus ift es gewefen, ber bas Epangelium beftimmt fo- 
gefaxt ^at, baß es bie Hotfdjaft ift non ber gef dienert Erlöfung. 
unb bem bereits gegenwärtigen ^eil. Er perfünbigte ben 
gefreu3igten unb auferftanbenen Efyriftus, ber uns ben Zugang. 
3U (Sott unb bamit (Sered]tigfeit unb Triebe gebracht fyat. 

2 . Er ift es gewefen, ber bas Epangelium ficfyer als etwas 
Heues beurteilt fyat, bas bie (Sefeßesreligion aufl]ebt. 

5 . (Er t>at erfannt, baß biefe neue Stufe bem ei^elnen unb 
bat>er aßen gehört, unb l$at in biefer Öber3eugung bas Epangelium 
mit pollem Hewußtfein in bie Pölferwelt getragen unb uom 3 uben* 
tum auf ben gried]ifd]*römifd]en Hoben Ininübergeftellt. Hid]t nur 
follen fid] (Sricd]en unb 3 uben au f (Snmbe bes Epangeliums 
pereinigen, nein, bie geit bes 3 ubentums ift jeßt porbei. paulus 
perbanft man es, baß bas Epangelium aus bem (Drient, wo es 
aud] fpäter niemals red]t l ]at geheimen fönnen, in ben ©ccibent 
perpflanst worben ift. 

Er ift es gewefen, ber bas Epangelium in bas große 
Schema (Seift unb 5 Ieifd], inneres unb äußeres Ceben, Cob unb 
Ceben fyneingeftellt E]at; s er, ber geborene 3 ube unb exogene 
pB>arifäer, bat i£>m bie Sprache perliefyen, fo baß es nid]t nur 
ben (Sriecfyen, fonbern ben Hlenfcfyen perftänblid] würbe unb mit 
bem gef amten geiftigen Kapitale, welches in ber (Sefd]id]te erar¬ 
beitet war, nun in Herbinbung trat. 

3 n biefen Elementen, auf bereu inneren gufantmenfyang id] 
I]ier nid]t näfyer ein3uget]en permag, liegt bie religionsgefd]id]tlid]e 
(Sröße bes Kpoftels befd]loffen. 3 n He3ug auf bas erfte möd]te 
id] an bie tPorte bes bebeutenbften Heligionstyftorifers unferes 
Zeitalters erinnern. tHeltBjaufen fdjreibt: ,,£>urd] paulus befonbers 
fyat fid] bas Epangelium Pom Heid] in bas Epangelium pon 
3 efu Cl]rifto perwanbelt, fo baß es nid]t meJ]r bie XDeiffagung bes 
Hcid]s, fonbern bie burd] 3 efus £f]riftus gcfd]el]ene Erfüllung. 






112 


Dicfcc Weiffagung ift. ©ntfprechenb ift ihm aud? bie (Erlöfung aus 
etoas .gufünftigcm etwas bereits ©efdjehencs unb ©egenwärtiges 
geworben. (Er betont weit mehr ben ©tauben als bie fjoffnung, 
er empfinbet bie 3 ufünftigc Seligfeit uoraus in ber gegenwärtigen 
Kinbfchaft; er überwinbet ben Cob unb führt bas neue Ceben 
fetjon ^ienieben. (Er preift bie Kraft, bie in ben Schwachen mächtig 
tft; bte ©nabe ©ottes genügt ihm, unb er weiß, bajj feine gegcif; 
wärtige noch 3 ufünftigc ©ewatt ihn feinen Krmen entreißen famt, 
bag benen, bie ©ott lieben, alte Dinge 3 um heften bienen." Unb 
rncldje <Einfid)t, <3unerfid]t unb Kraft gehörte ba 3 u, um bie neue 
Heligion if;rem mütterlichen Robert 3 u entreißen unb auf einen 
gan 3 neuen 3 u t>erpflan 3 en! Der 3slam, in Arabien entftanben, 
ift arabifdjc Heligion geblieben, wobin er auch immer aefomnten 
xft. Der Dubbbismus bat 3 u allen feiten feine Stärfc in 3nbien 
gehabt. Diefe Religion aber, in patäftina geboren unb non ihrem 
Stifter auf bem jübifchen Doben feftgebatten, ift bereits nach wenigen 
Jahren oon ihm losgetöft worben, pautus bat fie ber israelischen 
üefigion entgegengefefct: „©hriftus ift bes ©efefces <Enbe" Sie 
bat bie <£ntwur 3 elung unb ben Übergang nicht nur ertragen, fon- 
bern es 3 eigte ftdj, baß fie auf biefen Übergang angelegt war. 
Sic bat bann bem römifdjen Heiche unb ber gefamten abcnbläm 
btfdjcn Kulturwelt ffalt unb Stühe geboten, fjätte, fagt Henau 
mit Hcd^t, jemanb im erften 3ahrhurtbert bem Kaifer mitgeteilt ber c 
fteine 3uöe, ber non Kntiodjien als Miffionar ausge 3 ogen, fei fein 
befter Mitarbeiter unb er werbe bas Heid; auf haltbare ©runb. 
lagen ftcEen, man hätte ihn für wahnfinnig gehalten, unb hoch 
batte er bie Wahrheit gefagt. paulus hat bem römifdjen Keidjc 
neue Kräfte 3 ugefüf)rt unb bie abcnblänbifdpchriftliche Kultur be= 
grunbet. Das Wert Kleranber’s bes ©rogen ift 3 erfallen, bas 
Wcrf bes paulus ift geblieben, preifen wir aber ben Mann, ber, 
ohne fidj auf ein Wort feines fjerrn berufen 3 u fönnen, aus bem 
©elfte heraus wiber ben Suchftaben bas fühnfte Unternehmen wagte 
fo burfen wir nicht minber jene perfönlid,en 3ünger 3efu ^rebren 
bte nach fdjweren inneren Kämpfen ftd) 3 ulefet ben ©runbfäfeeu 
bes paulus angefchloffen haben. Don petrus wiffen wir bas be= 
ftimmt; non anberen hören wir, baf; fie fie wenigftens anerfannten. 
<£5 tt>ar ruafyrlicf} nichts (geringes, ba§ bie, benen jebes XDort ihres 
2Tceifters rtocfy im ©£>re flang unb in beren Erinnerung bie forn 
freien ,§ügc feines 23übes lebten — bag biefc treuen 3üngcr eine 



113 


Perfünbigung anerfannten, bie ftch von ber urfprünglichen prebigt 
in mächtigen Stücfen 3U entfernen fdjien unb einen Umftur3 ber 
Beligjon 3 sraels bebeutete. fjier B^at einmal bie (Sefchidjte felbft 
mit unverfennbarer Deutlichfeit unb in fünftem pro3effe geseigt, 
tjpas Kern unb was Schale mar, Schale ivar bie gan3e jübifche 
Bebingtheit ber prebigt 3 efu; Schale maren auch fo beftimmte 
XPorte mie bas: „ 3 S bin nicht gefanbt, benn nur 5U ben ver¬ 
lorenen Schafen aus bem l}aufe 3 srael", 3 n Kraft bes (Seiftes 
<E£)rifti B^abeu bie 3 ünger öiefe Sdjranfen burdjbrochen, Die per* 
fönlichen 3 ünger (El|rifti — nicht erft bie 3meite ober britte (Sene* 
rgtion, als bie unmittelbare (Erinnerung an ben fjerrn fdjon ver* 
blaßt mar — fyahen bie große probe beftanben, Das ift bie 
benfmürbigfte Einfache bes apoftolifchen Zeitalters, 

Paulus h<*t bas (Evangelium, ohne feine mef entliehen, inneren 
Züge — bas unbebingte Vertrauen auf (Sott als ben Pater 3 ef u 
Cfyrifti, bie Zuverficht auf ben fjerrn, bie Sünbenvergebung, bie 
(Semißheit eines ervigen Cebens, bie Beinheit unb Briiberlichf£it — 
3U verleben, in bie univerfale Beligion venvanbelt unb ben (Srunb 
3U ber großen Kirche gelegt, Kber inbem bie urfprüngliche Be= 
fchränfung megftel, mußten fid? neue Schranfen einftellen, melche 
bie (Einfachheit unb Kraft einer innerlichen Bemegung möblierten, 
Kuf biefe BTobififationen h a fon mir bei ber Betrachtung bes 
apoftolifchen Zeitalters 3unt Schluß unfere Kufmerffamfeit 3U 
lenfen, 

1, Der Bruch mit ber Synagoge unb bie (Srünbung gan3 
felbftänbiger religiöfer (Semeinben hatten einfehneibenbe 5 olgen, 
BTan hielt 3tvar bar an feft, baß bie (Semeinbe (£h*üfti/ frie „Kirche", 
etrvas Überfinnltches, bjimmlifches, rveil etrvas 3unerliches fei, aber 
man mar über3eugt, baß fie in jeber (Ein3elgemeinbe 3ur Erfcheinung 
fomme, unb ba man mit ber alten (Semeinfchaft gebrochen hatte 
ober überhaupt nicht an fie anfnüpfte, erhielt bie Bilbung gart3 
neuer Perbinbungen folgerecht eine befonbere Bebeutung unb be* 
fchäftigte bas 3ötereffe aufs lebhaftefte, 3efus fonnte in feinen 
Sprüchen unb (Sleichniffen, unbefümmert um alles Kußerliche, lebig* 
lieh ^ie £jauptfache treiben — mie unb in melchen formen bas 
Samenforn machfen mürbe, bas befchäftigte ihn nicht; er fah bas 
Polf 3 ^rael in feinen gef Sichtlichen 0 rbnungen vor fich unb badjte 
nicht an äußere Knberungen, Der Zufammenhang mit biefem 
Polfe mar nun aber burchfehnitten, unb förperlos farm feine 

l^arnacf, IVefen b. £fyriftenmms. 8 * 







114 


religiöfe Bemegung Bleiben. Sie muß formen ousbilben für bas 
gemetnfchaftltche Ceben unb ben gemeinfchaftlichen (Sottesbienft. 

oId|e formen aber tmpromjtert man nicht; ein Ceil bilbet fich 
lang am aus ben fonfreten Bebürfniffen heraus, ein anberer mirb 
öcr Umgebung unb ben beftehenben Perhältniffen entnommen. Sie 
„hetbenchrtflltchen" (ßemeinben haben fid, in biefer Weife einen 

ST 5 '/? K6rper 9«fa«ffenj fie haben bie formen teils 
fclbftanbtg unb allmählich gebilbet, teils unter Anlehnung an bas 
(Dcgcbenc gewonnen* 

^ öcnformen haftet aber ftets eine befonbereWertfchäßung; 
f ® tC f^ a l f “ r Öt£ ^ ufredjte ^ aItu ng her üerbinbung ftnb, 

mer 9 f? 'J^u***' n>eId,cr f ic & i«nen, unuer» 

auf fie felbft über, ober es ift menigftens ftets (Sefahr 
oortianben, baß bies gefehlt Siefe (Befahr liegt aud, besteh 
fo nal|e, metl ftd; bte (Einhaltung ber formen fontroffieren beim 

cr 3 mtngen laßt, mäljrenb fid? bas innere Ceben einer fid,eren Kon» 
trolle ent$\eqt 

Hnjmetfelhaft mar es eine Botmenbigfeit, ber jübifdjen üolfs- 
gcmcmfdiaft, nad,bem man mit it,r gebrochen J?atte, eine neue (Be» 

membe entgegen 3 ufeßen - bas Setbfibemußtfein unb bie Kraft ber 

d,nfttd,en Bemegung 3 eigte fid, in ber Schöpfung ber „Kirche" 

bt J ?* 5 35rad ^ Kirien Inb 

te Ktrdje auf (Erben gegrunbet mürben, trat ein gan 3 neues 3n= 

S r ll C !! n; . b r em innerlichen f teatc f id ? äußerliches 3 ur Seite- 
ed?t, Stsctpltn, Kultus» unb CeBjrorbnungen bilbeten fid? unb be= 
gannen ftd, nad, eigener Cogif geltenb 3 u machen. Sie Wert- 
fjaßung, bte ber Sache galt, blieb nicht mehr bie ein 3 igc Wert» 
fchaßung, unb btefe felbft mürbe unuermerft mit hunbert unficht» 
hären fabert in bas Beß ber (Sefchidjte getnüpft. 

• n r 2, ^ ^ahen barauf hmgemiefen, baß bie Bebeutung bes 
r U ^ f al5 f £ef l rer uor altem in feiner (O,riftologie beftanben hat. 
f l *** f (f 9e i a B f — burd, feine Beleuchtung bes Kremes» 

•ff “ff“ 2tuferfteE!un9 ' aIs öurcf ! feine (ßleichfeßung „ber Berr 
tft ber (Seift" —, baß bie «rlöfung als oollbracht unb bas Beil als 
«ne gegenwärtige Kraft erfd?eint. „Wir ftnb burd, Cbriftus her» 
fohnt mit ®ott", ,,3ft jemanb in Chrifto, fo ift er ‘eine neue 
reatur , „Wer null uns fdjeiben oon ber Ciebe (Sottes?" Ser 

S %f katatt l V ber Vision ift bamit ans Od?t ge» 

fteHt. Kber aud, hier fann man fagen, jebe formulierung hat 




( 


— 115 — 

ifyrc eigene £ogif unb ihre eigenen (gefahren. (Segen eine Gefahr 
hat ber Kpoftel felbft fämpfen muffen; baß man bie «Erlöfung. 
geltenb machte, ofjne bas neue £eben 51t bewähren, Den Sprüchen 
3efu gegenüber fonnte biefe Gefahr unmöglich auf tauchen; aber 
bie Formulierung bes pauius mar nicht cbenfo ftcfjer gegen jte 
gefd)ü%t. Cs mußte in ber Folgeseit ein ftefjenbes Cfjema für alle 
ernften prebiger werben, fidj nidjt auf bie ,;€rlöfung", auf Sünben« 
uergebung unb Geredjtfprecfjung, ju uerlaffen, wenn bodj ber 8 h- 
fcfjeu wiber bie Sünbe unb bie Badjfolge Cfjrifti fehle. H)er fann 
»erfennen, baß bie £efjren uon ber „objeftiuen Crlöfung" 3U fdjweren 
Derfudjungen in ber Kirchengcfdjidjte geworben ftnb unb galten 
Generationen Bjtnburdj ben «Ernft ber Religion uerbecEt haben? 
Der Begriff ber „(Erlöfung", ber gar nicht fo ohne weiteres in 
bie prebigt 3efu eingeftellt werben fann, ift 3um FaEftricf ge« 
morben. Gewiß, bas Cfjriftentum ift bie Religion ber «Erlöfung 
aber ber Begriff ift ein jartcr unb barf niemals ber Sphäre per«' 
fönlichen «Erlebens unb ber inneren llmbilbung entrüeft werben. 

Kber noch eine sweite enguerbunbene Gefahr tauchte auf: 
wenn bie «Erlöfung auf bie perfon unb bas ZDerf Cfjrifti 3urüd« 
5ufübrcn ift, fo feheint alles barauf ansufommen, biefe perfon famt 
ihrem Werfe richtig 3U erfennen. Die rechte £efjre uon unb über 
Cfjriftus broht in ben Blittelpunft 3U rüden unb bie Klajeftät unb 
bie Schlichtheit bes «Euangefiums 3U uerfehren, Wieberum fleht 
es fo, baß biefe Gefahr bei ben Sprüchen 3 efu nidjt auffommen 
fann — man lefe felbft ben 3ohannes, „£iebet ihr mich, fo hallet 
meine Gebote." Kber bei ber Raffung, bie pautus ber Befigions«’ 
lehre gegeben hat, fann jte allerbings entftefjen unb ift entftanben.^ 
Wie lange hat es gebauert, ba lehrte man in ber Kirche, es fei' 
bas KEermicfjtigfte, 3U wiffen, wie Cfjriftus als perfon befdjaffen 
geweferi fei, welche Batur er gehabt habe u. f. w. pauius felbft 
ift baoon noch »eit entfernt — wer Cfjriftum ben fjerrn heißt, 
rebet aus bem heiligen Geift —, aber unuerfennbar hat bie ®rb« 
nung ber rcligiöfen Begriffe, wie jte feine Spefulation beftimmt - 
bat, audj in uerfefjrtcr Bidjtung gewirft. Daß es aber rdrfefjrt 
ift, mag für ben Derftanb bie Knorbnung noch fo uerlocfenb fein, 
bie Cfjriftologie 3um grunblegenben 3 «halt bes Coangeliums 3a 
machen, bas lehrt bie prebigt 3efu, bie überall bei bem «Entfdjei« 
benben einfeßt unb jeben ohne Kmfcfjweife uor feinen Gott fteEt. 
Das Bedjt bes pauius, alles in bie prebigt uon Cfjriftus bem. 

8 * 






116 


(gepredigten 3ufammen3ufaffen, wirb baburd) nicht befd)ränft, 
benn (gottes Kraft unb (gottes £t)eisf)eit seigtc er hier unb 
entjünbete an ber Ciebe Clirtfti bas (Scfübl für bie Ciebe (gottes. 
So pflogt fict? noch Ejeute in Caufenben ber chriftliche (Staube fort, 
nämlich burcf) «Ojrtftus. Das ift aber etwas anberes, als bie 
ftimmung 3U einer Heif)e non Säfeen über bie perfon Cferifti forbern. 

2tbcr nod; etwas fommt hier in Hetracht. paulus, oon ber 
mefftanifdjen Dogmatif geleitet unb burd) ben (Einbrucf dferifti 
beftimmt, hat bie Spefulation begrünbet, baß nicht nur (Sott in 
(Ojriftus gewefen ift, fonbern baß Chriftus felbfi ein eigentümliches 
himmlifdjes JDefen befeffen feat. Hei ben 3 uben brauchte biefc Dor= 
ftellung ben Hatimen ber mefftanifd)en 3 bee nicht 3U fprengen, aber bei 
ben ©riechen mußte fte gans neue (Sebanfen entfeffeln. Die <£ r f d) e i» 
n u n g Ctjrifti an ftd), ber (Eintritt eines göttlichen JDefens in biefe 
IDelt, mußte als bie bjauptfacfee, als bie <£rlöfungsthatfad)e an 
fidj gelten, paulus felbft hat fic bod) nicht fo betrachtet: Kreu3estob 
unb Huferwecfung jtnb ihm bas (Entfcfeeibenbe, unb ben «Eintritt 
ift bie XDelt faßt er unter fitttichem (Sefichtspunft unb als Dorbilb 
für unfer Chun („<£r warb arm um unfretwillen"; er bemütigtc 
ftd), entäußerte ftd)). Dabei fonnte es nicht bleiben. Die Cf)at= 
fache fonnte auf bie Dauer nicht an 3weiter Stelle fteljen, ba3u 
war fte 3U groß. 2lber an bie erfte Stelle gerücft, bebrohte fte 
bas (Euangelium felbft, weil fte Sinn unb 3 ntereffe con ihm ab- 
lenfte. XDer fann angeftd)ts ber Dogmengefd)id)te leugnen, baß 
bies gefchehen ift? JDir werben in ben folgenben Dorlefungen 
fehen, in welchem Umfange. 

3 . Die neue Kirche hat ein heiliges Huch, bas Klte Ceftament. 
paulus, obgleich er lehrte, bas (Sefefe fei ungültig geworben, fanb 
hoch einen lüeg, bas gan3e Klte Ceftament 3U fonferuieren. HMd) 
einen Segen hat biefes Hud) ber Kirche gebracht! 2lls (Erbauungs* 
buch, als Hud? bes Croftes, ber XDeisfjeit unb bes Hates, als 
Hud) ber (Sefd)id)te hat es eine ura>ergleid)lid)e Hebeutung für 
bas Ceben unb bie Hpologetif gehabt! tüeld)e ber Heligionen, mit 
benen bas Chriftentum auf gried)ifd)»römifd)em Hoben 3ufammem 
traf, fonnte ftd) eines ähnlichen Hefifees rühmen? Unb bennod) *ift 
biefer Heftfe ber Kirche nicht in jebem Sinne heilfam geworben; 
benn, erftlid), auf uielen Hlättern biefes Huchs ftanb eine anbere 
Heligion unb eine anbere Sittlid)feit als bie d)riftlid)e. HTodjte 
man fie aud) nod) fo entfd)loffen burd) Deutungen uergeijiigen 





117 


»nb »erinnerlichen — ber urfprüngliche Sinn liefj jich baburdj 
nicht »ollfommen beseitigen. (£s mar ©efafjr »orfjanben, unb fie 
trat tcirflich ein, baff burch bas Ulte Ceftament ein inferiores, 
übermunbenes (Element in bas Christentum einbrang. <£s gilt bas 
nicht nur non (Edelheiten — bas gan3c ,§iel mar ein anberes, 
unb bie Neligion ftanb bort außerbem in engfter Derbinbung mit 
einer politifchen ©röfje, bem Dolfstum. H>ie nun, menn man ftd? 
verleiten lief, mieberum eine folche Derbinbung 3U fliehen, 3t»ar 
nicht mehr mit bem 3 ubentum, aber mit einem neuen Dolf, unb 
nicht mit bem alten Dolfsgefefce, aber mit einem analogen? Unb 
menn felbft ein paulus altteftamcntlichc ©efefce, menn audi in alle* 
goriieher Umgeftaltung, bann unb mann noch für mafgebenb erflärt 
hat, mer mirb feinen Nachfolgern bie ©renje 3iehen, menn fie auch 
noch anbere ©efefe, in jeitgemäfjer Umformung, als gültige ©ottes* 
geböte proflamieren merben ? Das führt uns auf b,as <3 m e i t e: 
mochte felbft bas, mas mau bem Ulten Ceftament an mafgebenben 
Neftimmungen entnahm, inhaltlich unanftöfig fein — es bebrohte 
bie djriftliche Freiheit, fomohl bie innerliche als auch bie Freiheit 
ber firdilichett ©emeinbebilbung unb ber fultifdien unb bisciplinären 
©rbnungen. 

3 ch habe an3ubeuten »erfucht, baff, nadjbem bie Derbinbung 
mit bem 3nbentum serfdjnitten mar, bie Befchranfungen bes 
«Evangeliums bod) nicht aufhörten, baf vielmehr neue Sdjranfen 
fidj einftellten. Sie entftanben aber an eben ben punften, 
an meldien ber notmenbige Sortfchritt ber Dinge, be3t». mie 
bei bem Ulten Ceftament, ein unveräußerlicher Befife 
haftete. Uud> h»er merben mir alfo baran erinnert, baß es in 
ben gefchichtlichen Derhältniffen, fobalb bie Sphäre ber reinen 
3nnerlichleit »erlaffen mirb, feinen Sortfdjritt, feinen (Erfolg unb 
überhaupt fein ©ut giebt, bas nicht feinen Sd;attcn hat unb Hach* 
teile bringt. Der Upoftel paulus h«t flagenb ausgerufen: „Unfer 
IDiffen ift Stüdmerf." Das gilt in noch riiel höherem ©rabe von 
unferent lianbeln unb von allem, mas ba gefchief)t. 3"viter muß 
man „auf Hoffen" hanbeln, nicht, nur fchlimme folgen auf fid? 
nehmen, fonbern auch „miffenb, fchauenb, unvermanbt", bas eine 
vernachläfftgen, um bas anbere 3U erreichen. Uüdt bas Heinfte 
unb Efeiligfte, menn es aus ber 3 nn erlicbfeit heraustritt unb ftd? 
in bie ID eit ber ©eftaltungen unb bes ©efehehens begiebt, ift von 



118 


£>er Segel nicht ausgenommen, baß eben bie ©eftaltung, bie feine 
Slfat ift, auch feine Sdjranfc toirb. \ 

2tls ber große Apoftel unter bem Hichtbcil Hero’s im 3abre 
61; fein leben befchloß, burfte er uon ftd) fagen, mas er !ur 3 311 = 
uor einem treuen ©enoffen gefchrieben Ejatte: ,, 3 d) habe meinen 
lauf »ollenbet; idj habe Glauben gehalten." Welcher STiffionar' 
prebiger unb 5eeIforger fann ftd) ihm Dergleichen, fomohl mas 
bie ©röße ber Dollcnbeten Aufgabe als mas bie heilige (Energie 
in ihrer Ausführung betrifft! Seit bem lebenbigften Wort hat er 
geruirft unb ein 5 euct ange 3 ünbet; mie ein Sater hat er geforgt 
unb mit allen Kräften feiner Seele um bie Seelen gerungen; bie 
pflichten bes lehrers, bes päbagogen, bes ©rganifators hat er 
3 ugleid) erfüllt. Als er fein Werf burd) ben ©ob befiegelte, mar 
bas römifdje Heid) uon Antiochien bis Horn, ja bis Spanien oon 
chriftlichen ©emeinben befeßt. Sicht Diele „©emaltige nach bem 
5 leifd;" unb Pornehmc maren unter ihnen 3 U finben, unb bod? 
maren fie „mie lichter in ber Hielt", atnb ber 5ortfd]ritt ber Hielt» 
gefd)id)te beruhte auf ihnen. Sie mären menig „aufgeflärt", aber 
fie hatten ben (Slauben an ben lebenbigen «Sott unb an ein emiges 
leben gemonnen; fte mußten, baß bie menfd?lid)e Seele einen um 
enblichen Wert hat, unb baß ftd; biefer Wert nach bem Perhältnis c 
3 U bem Hnfid)tbaren beftimmt; fte führten ein leben in.Hcinheit 
unb 23rüberlid)f eit ober ftrebten bod) nach einem folchen. 3 n 3 cfus 
©hriftus, ihrem ffaupte, 3 U einent neuen HoIFc 3 ufammengefd;Ioffen, 
maren fie Don bem hohen 23emußtfein erfüllt, baß 3uben unb 
©riechen, ©riechen unb Sarbaren burd) fie bie (Einheit empfangen 
unb baß bie legte unb h°d)ftc Stufe in ber ©efd)id)te ber HTenfdp 
heit nun erreicht fei. 





Griffe Bnrfefung. 


Das apoftolifdjc Zeitalter liegt hinter uns. Xüir haben ge« 
feigen, baß bas <£uangelium in bemfeiben r>on bem mütterlichen 
23oben bes 3 ubentums losgclöft unb auf ben weiten plan bes 
griednfctKÖmifdien Heich* geftellt roorben ift. Der Apoftef paulus 
ift cs »ornehmlich gewefen, ber bies oolljogcrt unb bantit bas 
Ctjriftcntum in bie tüeltgefchichte übergeführt hat. ^ie neue Per* 
binbung, bie es empfing, bebeutete an fich feine Hemmung; im 
(Segenteil, bie chrifttiche Heligion mar barauf angelegt, fich in ber 
HIenfchheit — nnb biefe ftellte fich bamals im orbis Romanus 

bar _ 3 U nermirflichen. Aber neue formen mußten fich nun ent* 

micfeln, unb fte bebeuteten auch eine Hefdjränfung unb Helaftung. 
XOw merfcert btefer (Srfermtnis rtäfyer treten, tnenn mir nun 

rfjrtpitdjB Ifeligtmt in tfjrrr (BttfnMImtg f.m 

betrad|ten. 

Das «uangelium ift nicht als ftatutarifche Heligion in bie 
IDelt getreten, unb es fann bafjer auch in feiner form feiner 
intelleftuellen unb gefellfchaftlichen Ausprägung, auch nicht in ber 
erften, feine flaffifche unb bleibenbe «rfcheinung haben. Diefen 
Ejauptgebanfen muß fich ber JEfiftorifer ftets gegenwärtig halten, ber 
cs unternimmt, ben (Sang ber chriftlichen Heligion r>om apoftolifdjen 
Zeitalter burd] bie 3 ahrhunberte hlnburd) ju »erfolgen. JDeil 
biefc Heligion über ben (Segenfäßen r>on Diesfeits unb 3enfeits> 
£eben unb Cob, Arbeit unb tüeltflucht, Dernunft unb <£fftafe, 
3ubentum unb (Sriechentum ftcht, fo uerrn&g fte auch unter ben 






120 


»crfditebenftcn Bebingungen 3 U ejdftieren, tote fie urfprünglid? ifjrc 
Kraft unter bent Schutt ber jiibifchen Religion entfaltet hat. Kber 
ftc fann cs nicht nur — fie muß cs, wenn anbers fie bie Beligion 
öer Cebenbigen fein will unb felbft lebenbig ift. Sie hat, als 
«»angelium, nur ein giel, baß ber lebenbige (Sott gefunben werbe, 
&aß jeber einzelne ihn ftnbe als feinen (Sott unb an if)tn Starte 
unb 5reube unb Triebe gewinne. Wie es biefes Siel burch bie 
3afjrf!unberte fortfehreiienb erreicht, ob mit bem Koeffoienten bes 
• 3üi>tfcf)en ober bes Griechifd?en, ber XDeltflucht ober ber Kultur, 
bes (Snofticismus ober bes Kgnofticismus, einer Kirchenanftalt ober 
emes gan 3 .freien Vereins ober was cs fonfl nod; für Binben geben 
mag, bte ben Kern fdjüßen unb in benen ber Saft auffteigt, bas 
alles ift Bebenfadhe, ift bem IDechfel unterworfen, gehört ben 3 al)r« 
bunberten an, fommt mit ihnen unb gefjt mit ihnen. 

Die größte JDanblung nun, welche bie neue Religion je er» 
lebt bat, beinahe noch größer als bie, burch welche bie {jeibem 
chriftliche Kirche entftanb unb bie paläftinenftfehen (Semeinben in 
ben ffintergrunb rüeFten — bie größte IDanblung fällt in bas 
zweite 3abrbunbert unferer Seitrechnung unb fomit in ben Kreis 
unferer blutigen Betrachtung. 

Behmen wir unferen Stanbort um bas 3ahr 200 , etwa 
100—120 3ahre nach, bem apoftolifcfjen Zeitalter. Drei ober »ier 
Generationen waren feit feinem Kblauf »ergangen, nicht mehr — 
wcldien Knblid gewährt bie chriftliche Beligion nun? 

Hlir fehen ein großes firchlidppolitifches Gemeinwefen, baneben 
zahlreiche „Seften", bie ftd; djriftlid) nennen, benen aber biefer 
Barne abgefprochen wirb unb bie bitter befämpft werben. 3encs 
große firchlidppolitifche Gemeinwefen fteHt ftd; als ein bas Beid? 
umfpannenber Derbanb »on einseinen Gemeinben bar. 3ebe ift 
felbftänbig, aber fie ftnb wefentlich gleichartig »erfaßt unb mit= 
einanber burch ein unb basfelbe £el;rgefeß unb burd; fefte Begeln 
für bie 3nterfommunion »erbunben. Das Cehrgefeß fdjeint auf 
ben erften Blicf wenig umfangreich 3 U fein, aber jeber feiner Säße 
ift »on weittragenbfter Bebeutung; 3 ufammen umfd;Iießen fie eine 
Sülle metaphTfifcher, fosmologifcher unb gefd)id;tlid;er Sragen, 
beantworten fie beftimmt unb geben Kuffd;Iuß über bie Gntwicflung' 
ber Blenfdjheit »on ber Schöpfung bis 3 U ihrer 3 ufünftigen <£r« 
iften 3 form. Die Knweifungen 3 efu für bie Cebensführung ftnb nicht 
in bies £ef;rgefeß aufgenommen; fie werben als „Begel ber Dis= 







121 


äiplin" »on ber „(Slaubeusregel" fdjarf uuterfchieben. 3 ebe Kirche 
(teilt fiel) aber auch als eine Kultusanftalt bar, in welcher (Sott 
nach einem feierlichen Hitual rcrebrl wirb. (Ehoraf teriftifd} tritt 
in biefer Kultusanftait bereits ber Unterschieb uon prieftern unb 
£aien heruor; gewiffe gottesbienftliche Ufte fann überhaupt nur ber 
priefter oolljiehen; feine Vermittlung ift burchaus notwenbig. Uber 
überhaupt — nur burd) Vermittlungen foll man ftch ®ott nahen, 
burdj Vermittlung ber rechten Celjre, ber rechten ©rbnungen unb 
eines heiligen Ruches. Der lebenbige (Slaube jeheint ftch in ein 
3U glaubenbes Bef’enntnis uerwanbelt 3U haben' bie Eingabe an 
©hriftus in Ctjriftologie, bie breitnenbe Hoffnung auf bas „Heich" 
in Unftcrblichfeits» unb Vergottungslehre, bie prophetie in gelehrte 
€jegefe unb theologifdje IViffenfchaft, bie (Beiftesträger in Klerifer, 
bie Br über in beuormunbete Caien, bie IVunber unb Teilungen in 
nichts ober in priefterfunftftücfe, bie heißen (Sebete in feierliche Hymnen 
unb Citaneien, ber „(Seift" in Hecht unb gtnang. Dabei ftehen 
bie einädnen (Ojrifieu mitten im weltlichen Ceben, unb bie brennenbfte 
5 rage lautet: fVieuiel non biefem Ceben barf man „mitmachen", 
ohne feinen (£h r iftenftanb einsubüßen? 3 n f 20 3 a h ren h<K fieh 
biefc ungeheure IVanblung »otogen! IVir fragen erftlid;: IVie 
ift bas geworben? fobann: ffat ftch bas <£uangelium unter biefem 
IVechfel ber Dinge 3U behaupten uermoebt, unb wie h at es fidt 
behauptet? 

Beuor wir biefe beiben fragen 3U beantworten fudjen, habe« 
wir uns aber einer Unweifung 3U erinnern, bie ber ffiftorifer nie» 
mals uernachläffigen barf. fVer ben wirf liehen fVert unb bie Be» 
beutung einer großen <£rfd;einung, einer mächtigen fferoorbringung 
ber (Sefchichte, feftftellen will, ber muß allem suoor nach ber Urbeit 
fragen, bie fic geleiftet, besw. nach ber Uufgabe, bie fte gelöft 

hat. IVie jeber einseine »erlangen fann, baff er nicht nach biefer 

ober jener Dugenb ober Untugenb, nicht nach feinen (Sahen ober 

nad; feinen Schwächen beurteilt werbe, fonbern nach feinen 

Ceiftungen, fo muffen auch bie großen gefchid^tlidjen (Sebilbc, bie 
Staaten unb bie Kirchen, in erfter Cinie — man barf oielleicht 
fagen, ausfchließlich — nad) bem gefchäßt werben, was fte geleiftet 
haben. Die Hrbeit entfeheibet. 3 n jebem anberen £aEc fommt 
man 31t gan3 uagen, halb optimiftifchcn, halb peffimiftifdjen Urteilen 
unb 3U gcfchicbtlichen Kannegießereien. So haben wir auch hier 







122 


.tn 23 cjug auf bic 511m Kathol^ismus cntwicfelte Kirche allein 
3u»or 311 fragen, worin tfat ihre Arbeit beftanben, welche Aufgabe 
f?at ft« gelöft, was E?at fie geleiftet? 3d; ftelle bic Antwort 
an bic Spißc. 5 ic bat ein Doppeltes geleiftet: erftlid?, fie E;at 
ben Saturbienft, ben Polytheismus unb bie politifche Heligion be- 
Mmpft unb mächtig 3 urücfgebrängt; sweitens, fie hat bie bua= 
Xtftifche Scligionsphilofophie überwunben. Die Kirche am Knfang 
bcs britten 3 al)rh un öerts hätte auf bie DorwurfsDolle 5 rage: „Wie 
fonnteft bu bidj pou beinen Anfängen fo weit entfernen, was ift 
aus bir geworben?" antworten fönnen: „Ja, fo bin id? geworben; 
nielcs habe id; abwerfen muffen, Dieles auf mich nehmen; id? habe 
fämpfen muffen, mein Ceib ift coli Sarben unb mein (ßewanb ift 
mit Staub bebecFt; aber id; habe Siege erfochten unb habe gebaut; 
tch habe ben Polytheismus 3 urücfgefchtagen; id? habe bie poIitifd?c 
Religion entwertet unb biefe Spottgeburt nalje3u »ernidjtet; id? habe 
ben Derlocfungen einer tieffinnigen Seligionsphilofophie fein (gehör 
gefd?cnft unb habe ihr ben allmächtigen Schöpfergott ftegreid; ent< 
gegengeftellt; td; habe enblich einen großen Sau gesimmert, eine 
5 eftung mit Cürmen unb Sollwerfen; in ihr bewache ich meine 
Schäße unb fd?üße bie Schwachen." So hätte fie antworten fönnen 
unb hätte bie Wahrheit gefprochen. Uber, wenbet man ein, Kampf 
unb Sieg gegenüber bem Saturbienft unb bem Polytheismus war 
etwas (geringes; fie waren fd;on morfd? unb hohl geworben unb 
befaßen nur noch t»enig Kraft. Der «inwanb ift nid?t rid;tig. 
<Sewiß, niele Kusgeftaltungen biefer Krt non Seligion waren 
r>on ber Seit überholt unb bem Untergang nahe; aber fie felbft, 
bic Saturreligion, war ein gewaltiger (gegner. XXodi heute 
r>ermag fie unfre Seelen 3U berüefen unb mächtig bic'Saiten unferes 

(gemütes 3U rühren, wenn ein begeifterter prophet fie uerfünbet_ 

wie Diel mehr bamals! Das hohe Cieb oon ber Sonne, bie allem 
Cebenbtgen Ceben giebt, hat felbft einen (goethe 3 eitlebens mit 
reltgtofer (gemalt ergriffen unb ihn 3 u einem Sonnenanbeter gc= 
macht. Wie hinreißenb aber war biefer fjymnus in jenen Zagen, 
ba bie Wiffenfchaft bie Katur noch nicht entgöttert hatte! Das 
Chriftentum hat bie Saturreligion überwunben, überwunben nicht 
nur für biefen ober jenen ei^elnen — bas war immer gefdjeben — 
fonbern fo, baß nun eine große, feftc (gemeinfehaft ba war, bie 
burd; einbrucfsDoIIe Cehren ben Saturbienft unb Polytheismus 
wtberlegte unb ber tieferen rcligiöfen Stimmung loctlt unb Stüße 


123 


bot Unb bie politifdie Beligion! Die ganse Ufad)t bes Staates 
ftanb hinter bem Kaiferfult, unb cs fdjien fo leidet unb ungefähr* 
Eid}, mit ifym 3U paftierert — aber bie Kirctje Ejat feinen Schritt* 
breit nacfygegeben; fie fyat bie faiferliefen StaatsgÖ^en abgetfyan. 
Das Blut ber Ulärtyrer ift gefloffcn, bamit eine unoerrüdbare 
(Breite entftänbe 3mifd}en ber Beligion unb ber politif, 3mifcfyen 
(Sott unb bem Kaifer. Cnblid), bie Kirche Ejat fid) inmitten einer 
t'eligionspEjilofopfyifd} tief bewegten <§eit gegenüber allen bua* 
liftifcfyen SpefuEationen behauptet unb ifynen, bie oft ifyren eigenen 
Uufftellungen fdjeinbar fo nafye famen, in fyeißent Bingen bie 
monotfyeiftifcfye Betrachtung entgegengefeßt. £)ier aber mar ber 
Kampf um fo fdjmerer, als oiele unb 3mar gerabe fefyr hernor= 
ragenbe unb begabte Cfyriften mit bem (Segner gemeinfame Sache 
machten unb fetbft DuaEiften mürben. Die Kirche blieb feft. 
Bimmt man nun noch h™3 u / baß fie troß biefer (Segenbemegungen 
gegen ben griechifd}*römifchen (Seift es hoch uerftanben E^at, eben 
biefen (Seift an fid? 3U f eff ein — anbers als bas 3 ubentum, von 
beffen XDirfen auf bas (Sriechentum bas XDort gilt: „Du fyaft bie 
Kraft mich an3U3iehn befeffen, hoch mich 3U galten E^aft bu feine 
Kraft' —, nimmt man ferner hhi3u, baß im 3meiten 3 afyrE}unbert bic 
(Srunblagen für altes „Kirchliche" bis auf ben heutigen Cag gelegt 
morben finb, fo fann man nur ftaunen über bie (Sröße ber Ceiftung, 
bie bamaEs oollbracht morben ift. 

U>ir feE>ren 3U ben beiben fragen 3urüd, bie mir aufgemorfen 
haben: „Wie E^at ftch bie große IDanblung t>oIl3ogen ?“ unb 
„f}at ftd) bas Coangelium unter biefem XDechfel ber Dinge be= 
Rauptet, be3m. mie Ejat es fich behauptet?" 

Cs finb, menn ich recht fehe, brei ^auptmomente, bie ben 
großen Umfchmung E|erbeigefüE)rt unb bie Bilbung neuer formen 
bemirft E^aben. Das erfte entfpricht einem allgemeinen (Sefeße in 
ber Beligionsgefchichte; benn mir treffen es in ber Cntmidlung 
jeher Beligion. XDenn bie 3meite unb britte (Seneration vorüber* 
gegangen ift, menn bjunberte ja Caufenbe nicht mehr burch Be* 
fefjrung, fonbern burd? Überlieferung unb (Seburt 3U ber neuen 
Beligion gehören — droß CertuHians XDort: fiunt, non nascuntur 
Christiani — , menn neben bie, melche ben (Slauben ergriffen biaben 
mie einen Baub, in großer <§ahl fold^e treten, bie ihn fefthaEten 
mie ein äußeres (Semanb, bann tritt ftets ein Umfchmung ber Dinge 







124 


em. Kus ber Seligion ber lebenbigen (Empfmbung un b bes hjer 3 ens 
rotrb bte Religion ber 5 itte unb barum ber form unb bes eßefeße^. 
€me neue Religion mag mit ber größten Kraft, bem höchften <En* 
ttjuftasmus unb gewaltigen inneren (Erfäfitterungen einfeßen,' fic 
mag babei bie geiftige ^reibjeit noch fo fe^r betonen — wo ift 
bas altes jemals lebenbiger 3 um Kusbrucf gefommen als in ber 
Dcrfunbigung bes pautus? —, bennod?, felbft wenn man bie (ßläw 
btgen 3 ur «helofigfeit 3 wingt unb nur «Erwachfene aufnimmt, wirb 
ber pro 3 eß ber üerbichtung unb Dergefeßlidjung nicht ausbleiben. 
-ofort erftarren bann bie formen ber Seligion; fte erhalten 
eben burch bie «rftarrung erft wirfliche 23 ebeutung, unb neue 
formen treten hmju. Sie befommen nid]t nur ben lüert uon 
Segeln unb eßefeßen, fonbern unoermerff werben fte fo angefdjaut 
als umfdfßffen fie ben 3nhalt ber Seligion felbft, ja wären ber 
Jnhalt. Die, weiche bie Seligion nid?t empfinben, muffen fie fo 
anfehauen; benn fonft hätten fie überhaupt nichts, unb bie, welche 
wtrfltch noch tn ber Seligion leben, müffen fie fo hanbhaben; benn 
fonft oermögen fie auf bie anbern nicht ein 3 uwirfen. 3ene finb 
fetneswegs notwenbig feuchter. Die eigentliche Seligion ift ihnen 
freilich oerfchloffen; bas wichtigfte (Element ift ausgeftrömt. Kber 
man permag, ohne in ber Seligion 3 u leben, fte hoch aus oer- 
fchtebenen (ßefichtspunften 3 u fchäßen. Die Schulung fann eine 
moraltfche fein ober eine poIi 3 eiIid?e, fie fann oor allem auch «tue 
afthetifche fein. Kls am Knfang-biefes 3 al)rhunberts ber Kat£)o* 
It 3 tsmus bei uns unb in franfreidt burch bie Somantifer wieber 
3 urudgeführt würbe, ba war es oor altem Chateaubrianb, ber 
ftch in ber Derherrlidjung besfetben nicht genug tljun fonnte unb 
ftch gan 3 ats Kathotifen 3 u empfinben meinte. Kber ein fcharf« 
bliefenber Kritifer erflärte, fjerr (Ehateaubrianb irre fich in feiner 
(Empfinbung; er glaube ein wirtlicher Kathotif 3 u fein; in JDahrheit 
ftehe er oor ber alten Suirte ber Kirche unb rufe aus: „©, wie 
fchon!" Das ift eine ber formen, in benen man eine Seligion 
idjäßen fann, ohne ihr innerlich an 3 ugehören; es giebt aber noch 
otele anbere, unb unter ihnen finb auch folche, bie bem wirtlichen 
3 nhalt berfetben näher flehen. Sie alle aber haben bas (Semeim 
fame, baß bas eigentliche (Erlebnis ber Seligion nicht mehr erlebt 
wirb ober nur unftcher unb gebrochen. Dagegen werben ihre ab- 
geleiteten «Meinungen unb IDirfungen hod ? gehalten unb forgfam 
gtyutet Das, was in ben Cefyrcn, Regeln, (Drbnun^en unb ful* 




125 


tifdjen 21usgeftaltungcn 3um 21 usbrucf fommt, mirb als bie Sache 
fclbft bemäntelt. Siefes alfo ift bas erfte Hioment in ber ISanb« 
lung bcr Singe: ber urfprüngliche gnthufiasmus, im großen 
5 inn bes ISorts, ftrömt aus, unb alsbalb entfteht bie Heligion 
bes (Sefeßes unb ber formen. 

2. 21ber es ftrömtc im £aufe bes 2. 3al}rhunberts nicht nur 
ein urfprünglidjes (Element aus; es ftrömte auch ein anbercs ein. 
ISenn biefe jugenblidie Heligion bas Banb nicht 3erf dritten hätte, 
bas fie mit bem 3ubcntum uerbanb, auch bann batte fie, ba ftc 
ficb bauernb auf bem Hoben ber gried}ifd)-römifd}en ISelt nicber« 
ließ, affisiert merben muffen non bem (Seift unb ber Kultur ber* 
felben. 3 u mie oiel höherem (Srabe aber ftanb fie biefem (Seifte 
offen, nadjbem fte ficb mit fdjarfem Schnitt uon ber jübifchen He= 
ligion unb bem jübifchen Solle getrennt batte! Körperlos mie ein 
luftiges ISefen fdimebte fie über ber €rbe, förpertos unb einen 
Körper fudjenb. Ser (Seift baut ficb Öen £eib, geroiß — aber er 
baut ibn, inbem er ftd} bas affimiliert, mas um ibn ift. Sas 
ginftrömen bes (Sriedjentums, bes gried)ifd}en (Seiftes, 
unb bie Serbinbmtg bes guangeliums mit ibm ift bie größte Cbat= 
fache in ber Kird)engefd}id)te bes 3meiten 3 al}rhunberts, unb fie 
feßte ficb, grunblegenb »ot^ogen, in ben folgenben 3ahrhunberten 
fort. Klan fann brei Stufen unterfdjeiben, in benen bas (Srie= 
cbifdje auf bie dirifttiche Heligion eingemirft bat, unb ba3U eine 
S^rftufe. Sie Souftufe haben mir in einer früheren Sorlefung be= 
reits ermähnt. Sie liegt in ben Krfprüngen bes goangeliums unb 
ift gerabe3U eine Hebingung feiner gntftehung gemefen. grft unter 
ben gan3 neuen Serhältniffen, bie 211 eranber ber (Sroße gefebaffen 
batte, erft nachbem bie <pune niebergeriffen maren, meldje bie 
Sölfer bes ©rients uoneinanber unb oon bem (Sriecbentum trennten, 
erft bamals tonnte ftd} bas 3ubentum entfdjränten unb ber <£nt= 
midlung 3ur ISeltreligion 3uftreben. Sie Seit mar erfüllt, als 
man auch im ©rient gried}ifd;e £uft atmen fonnte unb ber geiftige 
£fori3ont ftd} über bas eigene Sol! hinaus ausbehnte. Sod) !ann 
man nid}t fagen, baß in ben älteften djriftlidjen Schriften, gefchmeigc 
im goangelium, ein griedjifdies glement in irgenb erheblichem 
Hiaßc 3U finben ift. ISitt man es fud)en, fo muß man es — non 
einigen bei paulus, £ufas unb 3 obannes heruortretenben Spuren 
abgefehen — in ber möglich!eit ber grfcheinung ber neuen Helb 
gion felbft fudien. Sarauf ift hier nicht meiter ein3ugehen. Sie erfte 






Stufe eines jxnrflicfjen ©nfirömens beftimmtcr griehifher (Sebanfen 
unb griechifhen Cebcns ift auf bie gcit um bas 3atir \50 anju= 
fefeen. damals begann bie griehifhe Hetigionsphilofophie eins'u. 
ttröme.H unb erreichte fofort bas Centrum ber Heligion. Sie fuct|te 
ben innern Kontaft mit itir, unb umgefehrt ftrecfte ftcf? and) bie 
cbriftlidje Heligion fclbft nach biefer Hunbesgenoffiit aus. Don ber 
gried]ifdfen philofophie ift bie Hebe; nichts oon HTythotogie, 
griechifchem Kultus u. f. m. ift noch 3« fpiiren; nur bas große Ka= 
pital, meldjes feit Sofrates non ber philofophie erarbeitet morben 
mar, roirb oorftchtig unb unter Häuteten uon ber Kirche aufge= 
nomntcn. <£tma ein 3ahrhunbert fpäter, um bie 3<*h re 220 / 30 , 
tritt bie jmcite Stufe ein: jeßt mirfen griehifhe HTyfterien unb 
griehifhe ^>iuitifation in ber Hreite ihrer Cntmicflung auf bie 
Ktrd?e ein, jeboch noch immer nicht bie HTythotogie unb ber poly* 
thcismus, 2tber, mieberum ein 3ahrhunbert fpäter, ba etabliert 
fid; bas ganäe (Sriedientum mit altem, mas es in fich ausgebilbet 
hat unb befißt, in ber Kirche. natürlich fehlen auch hier bie 
Häuteten nicht, aber fie beftehen oietfad] nur in einem tücchfel 
ber Ctifetten; bie Sache fetbft mirb unoeränbert rccipiert, unb im 
bjeiligenbienft cntfteht gerabe 3 u eine diriftlidje Heligion nieberer 
©rbnung. HTit ber jmeiten unb brittcn Stufe haben mir cs an 
biefer Stelle nicht 3U tljun, fonbern nur mit jenem ©nftrömen 
bes griechifhen (Seiftes, melches burd? bie 2 tufnahme her grie, 
dpfchen philofophie, cornehmtid) bes ptatonismus, bejcidpiet ift. 
H)cr fann leugnen, baß fid? hier mahbermanbtc Ctemente sufammem 
gefchloffen haben! 3n ber religiöfen Cthif ber (Sriedjen, mie fie 
in heißer 2 trbcit auf Cr unb non inneren (Erfahrungen unb mcta= 
Phyfifhen Spefutationen gemonnen mar, fpradj ftch fooicl Ciefe 

unb Zartheit ber Cmpfinbung, fouiet Crnft unb iüürbe unb _ 

nor allem — eine fo ftarfe monotheiftifche 5römmigfeit aus, 
baf' bie d)riftlid)e Heligion an biefem Sdjaßc nicht teitnahmtos 
uorübcrgehen fonnte. gmär fehlte unb befrembcte in ihm manches: 
es fehlte eine perfönlichfeit, an metdjer biefe Ctbif als mirfliches 
£eben angefdjaut merben fonnte, unb es befrembete ber noch immer 
beftefjenbe gufammenhang mit bem „Oämonenbienft", bem poty= 
theismus; aber im gansen unb im einsefnen cmpfanb man bod? 
Dermanbtes unb nahm es auf. 

Heben ber <£tf)if aber ift es auch ein fosmologifdjer Hegriff 
gemefen, ben bie Kirche bamals recipierte, unb ber nah mcnigen 


127 


3 afyr 5 efynten in Cehre eine beherrfchenbe Stellung erlangen 

folltc — ber Cogos, Das griechifche Denfen mar non ber Be* 
traefetung ber tPelt unb bes 3 ™enlebens aus su bem Begriff einer 
mirffanten Eentralibee gelangt — in meieren Stufen, fann 
hier uner örtert bleiben, 3 n biefer Eentralibee erbtiefte man bie 
(Einheit bes oberften prinsips ber Welt, bes Denkens unb ber 
(Etfyf, 3ugleich aber bie (Sottfyeit felbft als fchaffenbe unb mirfenbe 
int Unterfchieb r>on ber rufyenben. Es mar ber roid)tigfte Schritt 
innerhalb ber chriftlichen Cehrgefchichte, ber je gethan morben ift, 
als am Anfang bes 2, 3ahrhunberts chriftliche Apologeten bie 
(Bleichung voll3ogen: ber Cogos ift Ehriftus, Schon vor 

ihnen Ratten alte Cehrer unter ben vielen präbifaten, bie fie 
Ehriftus gaben, ihn auch „ben Cogos" genannt; ja einer von 
irrten, 3 ofyamtes, Blatte bereits ben Safe aufgeftellt: „ber Cogos ift 
3 efus Ehriftus"; aber er hatte biefen Safe noch nicht 3um 5 unba* 
ment ber gan3en Spefulation über ihn gemacht; im (Brunbe mar 
auch ihm „Cogos" nur ein präbifat 3 ^fet aber traten Cebrer 
auf, bie vor ihrer Befeurung Anhänger ber platonifd^ftoifcfeen 
pBtilofopB^ie gemefen mären, unb benen beshalb ber Begriff tf Cogos "• 
ein unveräußerliches Stüd ihrer XBeltanfcfeauung bilbete, Sie ver* 
fünbigten, baß 3 efus Ehriftus bie leibhaftige Erfcheinung bes Cogos 
gemefen fei, ber fid] vorher nur in Kraftmirfungen offenbart habe. 
Statt bes gatt3 unverftänblichen Begriffs „ZMefftas" mar mit einem 
Schlage ein verftänblicher gemonnett; bie in ber 5 üllc ihrer Aus* 
jagen fchmanfenbe (Ehriftologie empfing eine fefte 5 orm; bie XPelt* 
bebeutung (Ehrifti mar ficher gefteBIt, fein geheimnisvolles Perhältnis 
5ur (ßottheif gef Bart, Kosmos, Pernunft unb ©hi! in eine (Einheit 
gefaßt, 3n ber Chat eine munbervotte formet! unb mar fie nicht 
vorbereitet, ja geforbert burch bie meffianifchen Spefufationen, mie 
fie ber ApofteB pauBus unb anbere alte Cehrer bargeboten hatten? 
Die Erfenntnis, man muffe bas (Söttliche in Ehriftus als ben Cogofs 
faffen, eröffnete eine 5 üIIe von Problemen unb gab ihnen hoch 3U s 
gleich gan3 beftimmte (Bre^Iinien unb Direftiven, Die Ein3ig= 
artigfeit Ehrifti allen Bivalen gegenüber fchien auf bie einfachfte 
XPeife fidler geftellt, unb hoch gemährte ber Begriff bem Denfen 
Soviel 5 *eiheü unb Spielraum, baß je nach Bebarf Ehriftus einer* 
feits als bie mirffame (Sottheit felbft, anbererfeits noch immer als 
ber Erftgeborene unter vielen Brübern, unb als ber Anfang ber 
Schöpfung (Bottes, angefchaut merben fonnte. 




128 


iüeld; ein Beweis für ben Cinbrucf ber prebigt non £f)riftus 
ift cs, baß griedpfche plilofcpben ihn mit bem Cogos 5U ibenftjt» 
jieren uermochten! Durch nichts war es »orbercitet, in einer 
gefchidjtlichen perfon bie 3nfarnation besfelBeti 3U fonftatieren, üie= 
mals ift es einem fpefulierenben 3 uben eingefallen, ben Bieffias 
unb ben Cogos 3U ibentifeieren; niemals ift einem pfjilo 5. 23 . biefe 
(Sleichfeßung in ben Sinn gefommen! Sie gab einer gefd)icht> 
lidien Chatfache metap£)vfifdie Bebeutung; fie 30g eine 
in Baum unb geit erfdjienene perfon in bie Kosmologie 
unb Bcligionsphilofophie; inbem fie aber eine perfon fo 
aus3eid;nete, führte fte bie (ßefdjicfyte überhaupt auf bie £jöhc ber 
XPeltberoegurtg. 

Die 3bentifi3ierung bes Cogos mit £f)riftus würbe ber ent 
fdjeibenbe punft für bie Öerfdjmeisung ber griedjifchen philofophic 
mit bem apoftolifchen Erbe unb führte bie benfenben (Sricchen 3U 
biefent. 5ür bie BTehrsahl unter uns ift jene 3bentift3ierung un* 
annehmbar, weü bas Denfen über B)elt unb Ctljif uns überhaupt 
nid)t auf einen wefenljaften Cogos fütjrt. Kber man müßte blinb 
fein, um 3U uerfennen, baß für jenes Zeitalter ber Cogos bie 
3wecFmäßige Formel gewefen ift, um bie chriftliche Beljgion mit 
bem griecfyifcben Denfen 3U »erbinben, unb es ift auch beute nod? 
nidjt fdjwer, ihr einen haltbaren Sinn ab3ugcwinnen. Bber lebiglid) 
ein Segen ift fie nicht gewefen. 3n noch weit höherem <Srabe als 
bie älteren <£h«ftusfpefu!ationen hat fie bas 3ntereffe abforbiert, 
ben Sinn uon ber (Einfalt bes Cuangeliums abge30gen unb es in 
fteigenbem Blaße in eine Beligionsphilofophie uerwanbelt. Der 
Saß: ber Cogos ift unter uns erfchienen, hatte eine beraufchenbe 
B>irfung; aber ber Siitlntj'iasmus unb ber Buffdjwung ber Seele, 
ben er heruorrief, führten nicht ftcher 3U bem (Sott, ben 3 efus 
£h r iftus »erfünbigt hat. 

3 . Das Busftrömen eines urfprünglichen «Elements unb bas 
Cinftrömen eines neuen, bes griechifchen, erflärt ben großen JDanbel, 
ben bie diriftliche Beligion im 2. 3 ahrhunbert erlebt hat, noch nicht 
oollftänbig. Bfan muß fich brittens bes gewaltigen Kampfes erinnern, 
ben fie innerhalb ihrer eigenen (Sre^en bamals gefämpft hat 
parallel nämlich mit bem langfamen «Einftrömen bes gried)ifch= 
philofophifchen Clements gingen auf ber galten Cinie Derfuchc, 
bie man fursweg als „afute fjellenifierung" be3eid;nen fann. Sie 
bieten uns bas großartigfte gefdjichtlidie Schaufpiel; in jener Epoche 




— 129 — 


felbft aber waren fie bie furdjtbarfte ©efaE]t\ Das 3weite 3 a^r< 
Ejunbert ift bas 3al?rl}unbert ber Ueligionsmifdjung, ber ©Ejeofrafie, 
rote fein anberes oor if]m. 3 n biefe follte bas ©Ejriftentum als 
ein Element neben anberen, wenn aud] als bas wid]tigfte, E]inein« 
ge3ogen werben. 3^er „EjelEenismus", ber bas oerfud]te, E]atte 
bereits alle UTvfterien, bie orientalifdje KultweisE]eit, bas Sublimfte 
unb bas Ubfurbefte, an fid] ge3ogen unb es burd] bas nie oer* 
fagenbe Mittel ber pE]ilofopE]ifd]ert, b. E]. ber allegorifdjen 'Deutung 
in ein fd]immernbes ©ewebe oerfponnen. Zinn führte er ftd] — 
man muß fid? fo ausbrüden — auf bie d]riftlid]e Derfünbigung. 
©r würbe oon iE]rer ©rE]abenE]eit ergriffen; er beugte fid] oor 
3 ^fus ©E]riftus als bent H)eltE]eilanbe; er bot biefer prebigt alles 
3um ©efcfyenfe an, was er befaß, alle Sd]äße feiner Kultur unb 
feiner XDeisEjeit; aber gelten laffen follte fie es. Uls bie JE}errfd]erin 
follte fie ein3ieE]en in eine fertige IDelt* unb BeligionsleEjre, in bie 
KTvfterien, bie für fie bereitet waren. We Id) ein Beweis für ben 
©inbrud, ben biefe prebigt gemacht E]at, unb weld] eine Der* 
fud]ung! Diefer „©nofticismus" — fo nennt man bie Bewegung —, 
in einer 5ülle oon Heligionse^perimenten lebenbig, etablierte fid] 
unter bem Hamen ©Ejrifti, empfanb aud] mand]e d]riftlid]e ©ebanfen 
fraftooH unb nacf]E]altig, fud]te bas nod] Ungeftaltete 3U geftalten, 
bas äußerlid] Unfertige ab3ufd]ließen unb ben gan3en 5 trom ber 
d]riftlid]en Bewegung in fein Bett 3U lenfen. Die U1eE]r3aE]l ber 
©laubigen, oon iE]ren Bifd]öfen geleitet, ging auf biefe Derlocfungen 
nid]t ein, fonbern naE]nt ben Kampf mit iE]nen auf, über3eugt, baß 
E]ier eine bämonifd]e Derfud]ung laure. Kämpfen aber E]ieß in 
biefem 5 alle fid] abfdjiießen, b. E]. bie ©ren3en bes (£E]riftlid]en mit 
fefter f}anb 3ieE]en unb alles, was fid] nid]t in iE]nen Ejalten wollte, 
für E]eibnifd] erflären. Der Kampf mit bem ©nofticismus 
E]at bie Kird]e genötigt, iE]re £eE]re, iE]ren Kultus unb 
iE]re Dis3iplin in fefte 5 ormen unb©efeße 3U faffen unb 
jeben aus3ufd]ließen, ber iE]nen nid]t ©eE]orfam leiftete. 
Über3eugt, baß fie überall nur bas Überlieferte fonfermere unb 
fd]äße, E]at fie feinen Uugenblid baran ge3weifelt, baß ber ©eE]or* 
jam, ben fie forberte, nid]ts anberes fei als bie Unterwerfung unter 
ben göitlid]en XDillen felbft, unb baß fie in ben £eE]ren, bie fie ben 
©egnern gegenüber ftellte, bie Heligion felbft ausgeprägt E]abe. 

Be3eid]net man unter ,,fatE]olifd]" bie £ef]r* unb ©efeßesfird]e, 
fo ift fie bamals, im Kampfe mit bem ©nofticismus, entftanben. 

£}arnacf, Wefen b. Cfyriftentums. 9 






130 


Um iBpt abjumeBjren unb 311 beftegen, B]at fte einen teuren preis 3aB]len 
müffen; faft fanrt man fagen: „Victi victoribus legem dederunt.“ 
Den Dualismus unb ben afuten Hellenismus B]at fie abgemeBjrt; 
aber inbem fie eine ( 5 emeinfd]aft mit einer ausgefüBjrten CeBfre, 
einem beftimmten äußeren Kultus 2C, mürbe, naB]tn fie notgebrungen 
formen ,an, bie jenen analog marett, bie fie bei ben (Enoftifern 
bekämpfte* VTian tritt in bas Schema bes (Segners über, wenn 
man ftücfmeife feinen CBjefen anbere entge^enfeßt! Unb mieniel 
non iBjrer urfprünglicfyen 5 reiB]eit B]at fie eingebüßt! 3 eßt mußte 
fie erflären: Du bift fein CBjrift, bu fannft überhaupt nid)t in Be* 
3ieB]ung 3U (8ott treten, wenn bu nicfyt allem 3unor biefe CeBjren an* 
erfannt, jenen ®rbnungert ( 5 eB]orfam geleiftet unb beftimmte Per* 
mittlungen auf gejuckt Haft* Und] foE feiner irgenb ein religiöfes 
Erlebnis für legitim galten, bas nid]t non ber richtigen CeB^re 
approbiert unb non ben prieftern gutgeB^eißen ift* (Einen anbern 
U)eg, anbere Ulittel fanb bie Kircfye itid]t, um ftd] gegen ben 
(Snofticismus 3U behaupten, unb was 3um Schüße nad] außen feft* 
geftellt morben mar, mürbe 3um paEabiunt, ja 3um ^unbamente 
im 3 nnern* (ßemiß, biefe gan3e (Entmicflung märe maB]rfd]eirtlid] 
aud] ofyte jenen Kampf eingetreten — bie beiben non uns an 
erfter SteEe befprodjenen (Elemente hätten fie aud] B]erbeigefüB]rf—, 
aber baß fie fo rapib eintrat unb ftd] fo fid]er, ja brafonifd] 
ausgeftaltete, ift eine 5 olge bes Kampfes, in meldjent es ftd] um 
bie (E£iften3 ber überlieferten Heligion geBjanbelt B]at* <San3 ab3U* 
meifen aber ift bie oberf!äd)lid]e Uleinung, baß ber perfönlid]e 
(EB]rgei3(Einiger bie( 5 efeßlid]feit unb bas ganseprieftermefen begrünbet 
B]abe* Bereits bas Uusftrömen bes urfprünglid]en, lebenbigen 
(Elements erflärt iB]r Uuffommen B]inreid]enb* La mediocrite fonda 
Tautorite. U)er bie Heligion nur als Sitte unb ( 5 eB]orfant fennt, 
ber fd]afft ben‘priefter, um einen mefentlid]en Ceil ber Derpflid]tungen, 
bie er füB]lt, auf iBpt ablaben 3U fönnen; er fd]afft aud] bas (Sefeß, 
benn ein (Sefeß ift ben falben bequemer als ein (Enangelium. 

Die 2 Kontente, meld]e bie große BDanblung B]erbeigefüB]rt 
B]abett, B]aben mir 3U ff gieren nerfud]t* (Es erübrigt uns noch, 
bie 3tneite 5 rage 3U beantmorten: f^at ftd? bas (Enangelium unter 
biefem U)ed]fel ber Dinge beB]auptet, be3tn* mie B]at es ftd? 
beB]auptet? Daß es unter gatt3 neue DerB]ältniffe getreten ift, ift be* 
reits offenbar; mir merbett fie aber nod] genauer fernten lernen müffen* 



©orlBfung. 


U)er bie innere Cage ber £fyriftenE}eit am Anfang bes britten 
3 aEjrE)unberts mit ber oergleidit, in ber fie fid }*\20 3 aE)re 3Ut>or 
befunben Ejat, mirb non fonträren ©npftnbungen unb UrteiEen be* 
megt ©nerfeits ftefyt er bemunbernb t>or ber fraftootten Ceiftung, 
bie fid} in ber Schöpfung ber XatEjolifdjen Kircfye ’barftellt, bemun* 
bernb aud? nor ber Energie, mit ber fid) biefe Kird)e nad? allen 
Seiten ausgebaut unb betätigt Ejat, anbererfeits nermi^t er mit 
{Teilnahme fo nieles Unmittelbare, 5 reie, aber innerlich (Sebunbene, 
mas bie ältefte <§eit befaß* © muß banfbar fonftatieren, baß 
biefe Kirche atle Derfudje, bie cfyrifttidje Heligion einfad} in bie 
geitnorfteHungen 3erfließen 3U laffen, abgemefyrt unb baß fie ficE} 
‘miber bie „afute bfelEenifterung" gefd}üßt E}at; aber er fann bod} 
nid}t »ernennen, baß fie einen E}oE}en preis für iE}re SelbftbeEjaup* 
tung be5aE|Een mußte. U)ir motten bie Peränberung, bie ftd} an 
iE>r noEl3ogen E}at unb bie mir fdjon berührt E}aben, nod} etmas 
genauer feftjiellen: 

\. 3 m Porbergrunb fteE}t bie (SefäEjrbung ber 5 reiE}eit unb 
Selbftänbigfeit in ber Keligiou. Keiner foXI ftd} aEs <£E}rift, b. E}. 
als ( 5 ottesfinb, fügten unb beurteilen bürfen, ber nid}t junor feine 
religiöfe ©faE}rung unb ©fenntnis ber KontroEIe bes fird}Iid}en 
Befenntniffes untermorfen E}at. Dem „Cßeiji" finb bie engften 
Scfyranfen ge3ogen, unb es mirb iE}nt oerboten, 3U mirfen mo unb 
mie er milt. 3 a nod} mefyr, ber ein3eEne foEE, befonbere 5äEEe ab* 
geregnet, nid}t nur mit ber Unmünbigfeit unb bem fird}lid}en (Se* 
E}orfam anfangen, er foll aud} nie gan3 münbig merbert, b. E}. er 
foEE bie 2 lbE}ängigfeit t>on ber £eE}re, bem priefter, bem Kultus unb 

9* 





132 


bem „Huch" niemals verlieren* Was mir noch fyeute fpe3iftfch s 
fatholifche ^römmigfeit im ilnterfchieb uon eoangelifcher nennen, 
s hat bamals feinen Urfprung genommen* Die Unmittelbarfeit ber 
Religion hat einen Sprung befommen, unb bem einseinen ift W 
außerorbentlich ferner gemalt, fte für fid? mieber her3uftellen* 

2* Die afute ^ellenifierung mürbe abgemehrt, aber ber grie« 
chtfch’Philofophifche (Eebanfe, baß bie malere Heligion in erfter Cinie 
„ Cehre" fei unb 3mar Cehre, bie fich über ben gef amten Kreis bes 
IDiffens erftrede, fanb immer mehr (Eingang in bie (Efyriftenljeit 
(Es lag gemiß bartn ein Hemeis für bie innere Kraft ber chrift* 
lieben Heligion, baß biefer (ßlaube „ber Sflauen unb alten XDeiber" 
bie gan3e griechifche ( 5 ott 4 DeIt=philofophie an ficb 30g unb als 
feinen eigenen 3nhalt umsufchmelsen unb mit ber prebigt von 
3^fus (Ebnftus 3U oereinigen unternahm; aber eine Derfchiebung 
bes (Erunbintereffes ber Heligion unb eine ungeheure Helaftung 
mußten bie 5 oIge fein* Die 5 rage: „IDas muß ich tbun, baß ich 
felig merbe", bie 34 us £h r iß U5 unb bie Upoftel noch feh r fürs 3U' 
hcantxvoxten oermochten, erhielt nun eine fehr meitläufige Untmort, 
unb mochten auch bie Caien noch mit für3eren Untmorten bebaut 
merben — in bem Hcaße galten fte als bie Unoollfommenen, bie 
auf ben (Sehorfam ben XDiffenben gegenüber angemiefen feien* 
Die chriftliche Heligion hat fdjon bamals jene Hichtung auf ben 
3ntelleftualismus erhalten, bie ihr in ber ^otgeseit geblieben ift* 
Wenn fte ftch aber als ein „lang, breit ausgereeft Ding" barftellt, 
als eine furnierige unb meitfchidjtige Cehre, fo ift fte nicht nur 
belaftet, fonbern ihr (Ernft broht auch 3U fdjminben; biefer haftet 
baran, baß bas erfchütternbe unb bas befeligenbe (Element unmittel* 
bar 3ugänglich erhalten mirb* (ßemiß hat biefe Heligion ben tErieb 
in ftch, ftch mit allen (Erfenntniffen unb mit bem gefamten geiftigen 
Ceben auseinanber3ufeßen, aber menn bas, mas h^r gemonnen 
mirb — uorausgefe^t felbft, es entfprädje ftets ber EDirflichfeit unb 
Wahrheit —, für gleich oerbittblich gilt mie bie eoangelifche Hot* 
fchaft ober gar für ihre Dorausfeßung, fo leibet bie Heligion 
Schaben* Diefer Schabe ift bereits am Unfang bes 3 * 3 ah^hmi* 
berts unoerfennbar* 

3 * Das Kirchen in fft tut erhielt einen befonberen, felbftänbigen 
XDert; es mürbe 3U einer religiöfencSröße* Urfprünglich lebig* 
lid? Uusgeftaltung ber Hrubergemeinbe, Stätte unb £orm für bie 
genteinfame (Eottesoerehrung, unb geheimnisoolle Ubfchattung ber 





133 


himmlifchen Kirche, mürbe es nun als 3nftitut 3U etwas Unum¬ 
gänglichem in bcr Heligiom 3 » &iefes 3 nftitut, fo lehrte man, 
hat bcr (Seift cEB^rifti alles fyneingelegt, mas ber cinselne bcbarf; 
er ift beshatb nietet nur in ber Oebe, fonbern auch im (Stauben- 
gan3 an basfelbe gebunben; ber (Seift mirft nur t^ier, unb alle feine 
(Snabengaben finb bat^er nur B|ier 3U ftnbem Paß in ber Hegel 
ber ein3elne Ct^rift, ber fich nid?t bem firchlichctt 3^ftitut unter- 
orbnete, ins ^cibcntum 3urücfftcl, in fchlimme 3 rr ^ rcn geriet ober 
unjtülicfy mürbe, mar freitict? eine Ct|atfad]c* Sie Blatte im gufamnten- 
hang mit bem Kampf gegen bie (Snoftifer bie. XPirfung, baß jenes 
3 nftitut~fgmt allen feinen (Einrichtungen unb formen mettf unb mehr 
mit ber „Hraut cEB^rifti /y , bem „magren 3 ^rufalem // in f* m* ibenti- 
fixiert mürbe unb fich bemgemäß felbft als bie unantaftbare Schöp¬ 
fung (Sottcs unb als bie irreformable Knftalt bes heilen (Seiftes 
proflamierte. folgerecht begann es, alle feine Knorbnungen für 
gleich heilig aus3ugebem VOe Iche Hclaftung bie bcr Hcli- 

gion baburch erlitt, braucht nicht ausgeführt 3U merbem 

^ (Enblich — es ift im 3meiten 3 a h r fy un ^t bas (Evangelium 
nicht mit berfeiben Kraft mie im erften als frohe Hotfchaft ver- 
fünbet morbem Pie (Srünbe bafür finb mannigfacher Krt ge- 
mefen, teils mar bas eigene (Erlebnis nicht fo ftarf, mie es ein 
paulus unb mie es ber Perfaffer bes inerten (Evangeliums em- 
pfunben h^t, teils blieb bie vorherrfd]enbe eschatologifche (Ermartung, 
bie jene Cehrer burch eine tiefere prebigt befdjränft hätte™/ burch- 
fchlagenb. furcht unb Hoffnung treten in bem Chnfümtum 
bes 3mcitcn 3 a h r ^ un kerts ftärfer h^ üor ctls bei Paulus, unb nur 
fcheinbar ftet)t jenes bamit ben Sprühen 3 ef u näher als biefcs; 
benn in ber Perfünbigung 34 u ' x % ^ WIV 9 e feh ß ™ haben, bie 
prebigt von (Sott als bem Pater bas fjauptftücf* Pas ift aber, 
mie Hötm 8 bemeift, eben bie (Erfenntnis, bie paulus in feiner Per¬ 
fünbigung vom (Slauben 311m Kusbrucf gebracht h a ^ 3 n ^ ßm nun 
in bem Ehriftentum bes 3meiten 3 a h r ^ un ^ er t 5 furcht einen 
größeren Spielraum erhielt — unb biefer Spielraum ermeiterte fich, 
je mehr fich bie urfprüngliche Cebenbigfeit abftumpfte unb bie 
IPeltförmigfeit ftärfer um fich griff —, mürbe bie (Ethif unfreier, 
gef etlicher unb rigoriftifcher* Per Higorismus ift ja ftets bie Kehr¬ 
feite ber IPeltlichfeiü Pa es aber unmöglich erfchicn, eine rigo- 
riftifche (Ethif allen 3U3umuten, fo ftellte fich fd)on in bem merbenben 
Katholi3ismus bie Hnterfcheibung einer vollfommenen unb einer 







134 


eben noch ausreidjenben SittlidjFeit eilt. Dag bie iDurselit biefcr 
Hnterfcheibung noch weiter surüdreichen, Fann hier auf ftch beruhen 
bleiben; verhängnisvoll ift fie erft gegen Enbe bes jtneiten 3 alir= 
hunberts geworben. 2lus ber Hot geboren unb 3m: Cugenb ge= 
mad)t, würbe fie halb fo wichtig, bag bie Erifteuj bes Chriftentums 
als Fatholifcher Kircbe non ibr abhing. Die EinheitlichFeit bes d)rift- 
licken 3beals würbe burch fie verwirrt unb eine quantitative He= 
trad)tung ber fittlichen Ceiftung nabe gefegt, bie bas «Evangelium 
nicht Fennt. lüolil unterfebeibet es ftarFen unb fdjwacben (Blauben 
unb grögere unb geringere fittlidje Ceiftung, aber ber (Seringfte im 
Heidje (Sottes Fann in feiner 21 rt vollFommen fein. 

3n biefen HTomenten 3ufammen ftnb bie wefentfidjen Deränbe* 
rungen bejeichnet, welche bie chriftliche Heligion bis sum Anfang 
bes britten 3ahrhunberts erlebt bett unb burd? welche fte mobiftjiert 
worben ift. Bat fid? bas «Evangelium bennoch behauptet, unb wie 
lagt fid) bas Fonftatieren? Hun, man vermag auf eine ganje Heilie 
von HrFunben su verweifen, bie, foweit gefchriebenes JDort ein geug* 
nis vom inneren, wahrhaft chriftlichen £eben ablegen Fann, biefes 
aufs reinfte unb in ergreifettber IDeife beFunben. 3 n ZtTärtvreraFten 
wie bie ber perpetua unb Felicitas, ober in (Bemeinbebriefen wie 
ber von Cyon nach Kleinafien, fprid?t fid; ber chriftliche (ßlaube 
unb bie Kraft unb Zartheit ber fittlidien Empfinbung fo herrlich 
aus wie nur in ben Cagen ber (Srunblegung; alles bas aber, was 
barin fid? in ber äugeren 2 fusgeftaltung ber Kirche vollzogen hat, Fommt 
gar nicht 3um Kusbrud. Der H)eg 3U (Sott ift ftcher gefunben, 
unb bie Einfalt bes inneren Cebens erfcheint nicht verwirrt ober 
belaftet. nehmen wir ferner einen SchriftfteHer wie ben chriftlichen 
Heligionsphilofophen Clemens Klejattbrinus, ber um b. 3. 200 
gelebt hat. 21 n feinen Schriften empfinben wir noch jegt: biefer 
(Belehrte — obgleich gan3 eingetaucht in SpeFutationen unb als 
DenFer bie chriftlidie Keligion in ein uferlofes KTeer von „Cegren" 
verwanbelnb, hfeHene bis in bie legte fafer — hat bocf; an bem 
Evangelium Triebe unb 5 rcube gewonnen, unb er vermag auch aus* 
Siifprechen, was er gewonuen hat, unb Fann 3eugen von ber Kraft 
bes lebenbigen (Sottes. Er erfdieint als ein neuer KTenfd? unb ift 
burd) ade philofophie, burd? 2 lutorität unb 5 peFuIation, burd] bie 
ganäe äugere Heligion hinburchgebrungen 3ur herrlichen Freiheit ber 
Kinber (Sottes. 2 llles, fein DorfeI?ungsglaube, fein (Slaub’e an 
Chriftus, feine 5 reit?eitslehre, feine EthiF, ift in JDorten ausgebrüdt, 





135 


bie ben (Sriedien jeigen, unb alles ift bod? neu unb wahrhaft chriftlidf 
Uergleicht man ifyt aber weiter mit einem £briften dattj attberenSdllages, 
nämlich mit feinem geitgenoffen tEertuHian, fo ift leicht 3m jeigen: 
was ihnen in ber Religion gemeinfant ift, ift bas, was 
fie am <£rangelium .erfahren haben, ja ift bas <£rangelium 
fetb ft. Unb trenn man CcrtuHian’s Auslegung bes Daterunfer lieft 
unb überbenft, fo erfennt man, baff biefer heißblütige Kfrifaner, biefer 
ftrenge Keßerbeftreiter, biefer erbii(offene Vertreter ber „auctoritas“ 
unb „ratio“, biefer redjtljaberifcbc Kbrofat, biefer Kirchenmann unb 
(Enthujxaft 5ugleich — bod) ein tiefes (Scfülil für bie £)auptfache im 
<£rangelium unb aud) eine gute <£rfenntnis bcsfelben befeffen hat. 
Diefe altfatljolifdje Kird?c liat bas (Srangelium mabrlid) noch nicht 
erbrüdt! 

Weiter, fie hat aud) nod; ben entfeheibenben (Sebanfcn, baß 
fid) bie d)tiftlid)e (Scnteinfchaft als werftf)ätiger 23 ruberbunb bar« 
ftellen ntüffe, in (Kraft erhalten unb in einer bie folgenbcn (Seite« 
rationen in ber Kirche bcfchämenben Weife 3um Kusbrucf gebracht. 

<2nblid), barüber fann fein gweifet fein, unb ein fo wahr« 
beitslicbenber Wann wie (Urigenes beftätigt es uns, aber auch 
heibnifdje SdjriftfteHcr, wie Cucian, be3eugcn es: bie £)°ff nun 9 
eines ewigen Ccbens, bas rolle Vertrauen auf Ctjriftus, (Dpfcr-- 
willigfcit unb Sittenreinfjeit, troß aller 5d]träten, bie aud^'tjier 
nicht fehlten, waren nod; immer bie w irfliehen Werfmale biefes 
23 unbes. (Urigenes fann feine Ijcibnifdjen (Segnet aufforbern, fie 
mögen bod) irgenb eine Stabtgemeinbe mit einer Ctjriftengemeinbe 
Dergleichen unb urteilen,' wo bie größere fittlidie Cüdjtigfeit 3U finben 
ift. (Sewiß, um biefc Heligion hatten ftd) bereits eine Schale unb 
ein Wantet gebilbet; es war fdjwerer geworben, su ihr fclbft burch« 
3ubringen unb ben Kern 3U erfaffen; fie hatte aud) manches non 
ihrem urfprünglichen £eben cingebüßt. Über bie (Saben unb 2 luf« 
gaben bes <£rangeliums würben noch immer in Kraft erhalten, unb 
ber Kufbau, ben bie Kirche , um biefe ge3immert hatte, biente bod) 
aud) Wanchem als Stufen, auf benen er 3ur Sache felbft gelangte. — 

Wir gehen weiter unb betrachten nun 

W\t tfjrtJIIirfjE IMigimt im gmdjifrfjErt Kaffmltjtetmt«. 

3 d) muß Sie aufforbern, fofort mit mir um riete 3 ahrf)unberte 
hinunte^ufteigen unb bie griechifdje Kirdie 3U betrad)ten, wie 







136 


fic heute ift unb mie fie fid) fd)on feit mehr als einem 3ahrtaufenb 
mefentlid) unocränbcrt behauptet. Xüir feigen 3mifd)en bem britten 
unb bem neun3el)nten 3 aljrhunbert in ber Kird)engefd)id)te bes 
©rients ttirgenbmo einen tiefen <£infd)nitt. (Eben beslialb bitrfen 
mir unfern Stanbort in ber (Segenmart nehmen. H?ir ftcllen aber 
mieberum folgenbe brei fragen: 

Was Ejat biefer gried)ifd)e Katholizismus geleiftet? 

IDoburd) ift er djaraJtcrificrt? 

lüie ift bas (Enangeliunt in ihm mobifoiert morben, unb mie 
hat es fid) behauptet? 

Was hat tiefer gried)ifd)e Katlnolijismus geleiftet? HTan 
barf t)ier auf ein doppeltes ucrmeifen: (Erftlid), er hat in bem 
großen (ßcbieto, meldjes er einnimmt, in ben £änbern bes öftlidjen 
HTittelmeers unb hinauf bis ans (Eismeer, bem ffeibentunt unb bem 
Polytheismus überhaupt ein <£nbc gemacht, ©er entfdjeibenbc 
5 ieg hat ftd) uont 3 , bis 3um 6. 3 al)rhuwbcrt uolljogen unb fo 
uoIl3ogen, baß bie (Sötter (Sricd)cnlanbs mirflid) untergegangen finb, 
fang» unb flanglos untergegangen. Hid)t in einer großen Kata» 
ftrophe, fonbern ohne einen erheblichen lüiberftanb 3U leiften, finb 
fte an «Entfräftung geftorben. ©aß fie einen beträchtlichen Ceil 
ihrer Kraft oorher ben fir'chlidjen fjciligen abgegeben haben, mag 
hier nur angebeutet fein. ■ 2 Ttit ben (Söttern, unb bas roilt mehr 
fdgen, ift aber aud) ber Heuplatonismus, bie leßte große Ifer» 
oorbringung bes gric<hif<hen philofophifchen (Seiftcs, iibermunben 
morben. ©ie fird)Iid)c Heligionsplfitofophie ermics fid) ftärfer als 
biefe. ©er Sieg über ben ffeüenismus ift eine (Broßthat ber 
öftlichen Kirche, uon ber fie nod; immer gehrt, gmeitens, biefe 
Kirdje hat es Perftanben, fid) mit ben einzelnen ©ölfern, bie fie in 
fid) hineingejogen hat, fo 3U »erfchmehen, baß ihnen Heligion unb 
Kirche 3U nationalen pallabien gemorben finb, ja 3U ben paüabicn. 
(Sehen Sie / 3U ben (Sried;en, 3U ben Hüffen, 3U ben Armeniern ec. — 
überaQ merben -Sic finben, baß Kirche unb Polfsfum nicht su trennen 
finb, unb baß bas eine (Element nur in unb mit bem anberen ejiftiert. 
5ür ihre Kirche taffen ftd) bie Angehörigen biefer Hationen, menn es 
fein muß, in Stüde hauen, ©as ift nicht nur bie .folge bes ©rüdes ber 
feinblichen HIad)t bes 3 slam; aud) bei ben Hüffen, bie bod) nicht 
unter biefem ©rüde flehen, ift es nicht anbers. Wk innig unb feft 
bas ©erhälfnis 3mifchen Kirche unb ©olf bei ihnen ift, troß ber „Selten", 
meld)e auch hier nicht fehlen, lehrt nicht etma nur bie mosfomitifd)e 





137 


preffe; man muß — um ein Beifpiel heraus3ugreifen — bie „Dorf* 
gefehlten" Colftoi’s Iefen, um fich bavon 3U über3eugen. XDahr* 
haft ergreifenb tritt bem Cefer ^ier entgegen, mie tief bie Kirche 
mit ihrer prebigt t>om (Ewigen, non ber Selbftaufopferung, bem 
2 Tcitleiben unb ber Briiberlich.feit in bie Dolfsfeele eingebrungen ift. 
Die niebrige Stufe, auf meiner ber Klerus ftefyt, unb bie ZHiß* 
achtung, mit ber ihm vielfach begegnet wirb, bürfen barüber nicht 
tauften, baß er als Bepräfentant ber Kirche eine unvergleichlich 
fyofye Stellung einnimmt, unb bas 3 beal bes BTönchtums haftet tief 
in ber Seele ber öftlichen Dölfer. 

3n biefen beibett Momenten ift aber and? erfchöpft, was fich 
über bie Ceiftungert biefer Kirche fagett läßt. IDemt ntan fyn3ü* 
fügt, fie B^abe eine gewiffe Gilbung verbreitet, fo muß man fdjon 
einen fehr geringen BTaßftab anlegen. Kuch ift ihr bem 3^lcxm 
gegenüber bas nfcfyt mehr gelungen, was fte bem Polytheismus 
gegenüber erreicht hat unb noch immer erreicht. Diefen überwinben 
bie Bliffionen ber ruffifchen Kirche auch h^ c noch; an ben 3 ^l am 
aber firtb große (Sebiete verloren -gegangen, unb bie Kirche h a * 
nicht mieber erobert. Der 3 slam ift ftegreid} bis an bas abriatifche 
BTeer unb nach Bosnien vorgebrungen; er hat 3ahlreiche albanefifche 
unb flavifche Stämme, bie eirtft chriftlid) waren, für fich gewonnen. 
<£r 3eigt fid? biefer Kirche gegenüber mirtbeftens gewachfen, wenn 
auch nicht vergeffen werben barf, baß im h er 3 cn feines (Sebietes 
djriftliche Nationen ihr Befenntnis feftgehalten l\abon. 

2. IDoburch ift biefe Kirche charafterifiert? Die Kntwort ift 
nid]t leidet; benn biefe Kirche ift, wie fie fich bem Befchauer barftellt, 
ein h^chft fompli3iertes (Sebilbe. Die (Empftnbungen, bie Super* 
ftitionen, bie (Erfenntniffe unb bie Kultusweisheit von 3<^h r h un berten, 
ja von 3cth^taufenben finb in fie eingebaut. Kber weiter, wer biefe 
Kirche von außen betrachtet mit ihrem Kultus, v ihrem feierlichen 
Bitual, ber 5 ülle ihrer Zeremonien, ihren Beliquien, Bilbern, prieftern, 
Blondiert unb ihrer Blyfterienweisheit, üitb fte bann einerfeits mit 
ber Kirche bes 3^h r h un b^ts, anbererfeits mit ben h^lfentfchen 
Kulten in ber §e\t bes Beuplatonismus vergleicht — ber muß ur* 
teilen, baß fie nicht 3u jener, fonbern 3U biefen geB>ört. Sie er* 
fcheint nicht als eine ehr ift lieh e Schöpfung mit einem 
griechifchen (Einfchlag, fonbern als eine griechifche 
Schöpfung mit einem chrtftlichen fiinfchlag. Die (Ehnfteit 
bes erften 3cthrhunberts mürben fie ebenfo befämpft h a ^ n / f* c 


< 







138 


bett Kultus ber RTagna RTater unb bes «geus Soter beBämpften, 
5 ür urt3ä^Itge (Elemente irt biefer Kird^e, bie ebcttfo heilig erachtet 
tucrbcrt wie bas Eoattgelium, giebt cs in bcm ältcftcn dfyrifteit- 
fum nid?t einmal einen KnfaßpunBt, Rlit bem gan3ert Dolbqtg bes 
J^auptgottesbienftes, ja felbft mit oielen bogmatifchert Ce^ren fteht es 
fchließlid? nicht anbers: man ftreid?e einige tDorte, wie „(E^riftus^ 2c, 
heraus, unb nichts erinnert mehr an bas Rrfprüngliche, Diefe 
Kirche ift als (8 ef amt er fcheinung nach außen Iebiglid] eine 
^ortfeßung ber griechifchen Religionsgefd]ichte hinter bem 
fremben Einfluß bes (Efyriftentums, wie ja fo r>iel ^rernbes auf 
fie cittgewirBt hat* R 7 an fönnte auch fagert: biefe Kirche ift als 
äußere Kirche bas RaturprobuBt ber Berbirtbung bes felbft fdjon 
orientalifch 3erfeßten (8riechentums mit ber chriftlicheit prebigt; fie 
ift bas, tr>as bie (Befchichte auf „natürlichem" XDege aus einer 
Religion macht, he$xx>. was fte 3wifcheit bem 3 , unb 6 ; 3 aB?rB?unbcrt 
aus ihr machen mußte — in biefent Sinne ift fie natürliche 
Religion, Unter biefent begriff Bann ein doppeltes uerftanben 
werben: gewöhnlich uerfteht man unter ihm etwas Kbfttaftes, 
nämlich frie Summe ber elementaren Empfhtbungen unb Vorgänge, 
welche in aBBcn Religionen nachweisbar ftnb, Es ift inbes fraglich, 
ob es fotdje giebt, be3W, ob fie fo beutlich unb feft ftnb, baß fie 
3 ufammengefaßt werben Bonnen, Keffer gebraucht man bett Begriff 
„natürliche Religion" für bas EnbprobuBt einer Religion, welches 
entftanben ift, nachbetp bie „natürlichen" Kräfte ber (Befchichte ihr 
Spiel an ihr beenbigt hfiben, Diefe ftnb überall im Ießten (Brunbe 
bief eiben, wenn auch ,in ben Kuf3Ügen oerfchieben, unb fie bilbeit 
[ich frie Religion, bis fie ihnen bequem liegt: ^eiliges, (Ehrfnrd7t^ 
gebietenbes unb bcrgleichen ftoßeit fie nicht aus, aber fie weifen 
ihnen ben plaß unb ben Spielraum an, ben fie für ben richtigen 
halten, unb fie tauchen alles in ein einheitliches RTebium, jenes 
RTebium, welches wie bie Cuft bie erfte Bebingung ihrer „natür¬ 
lichen" Epiften3 ift, 3 a biefent Sinne nun ift bie griechifche Kirche 
natürliche Religion: Bein prophet, Bein Reformator, Bein (Benins 
hat in ihrer (Befdachte feit bem 3 , 3 ahrhmtbert ben natürlichen 
Kblauf ber (Einbürgerung ber Religion in bie gemeine (Befchichte 
geftört, Diefer Kblauf war im 6,3 a h^h un ^ ßr B beenbigt unb behauptete 
ftch im 8, unb 9 * 3 ahrfjuitbert gegen ftarBe Angriffe fiegreich* Seit* 
bem ift Ruhe eingetreten, unb ber bamals erreichte < 5 >uftanb ift nicht 
wefentlich, ja nicht einmal unwefentlich mehr geänbert worben* 








139 


Kugenfcbeinlich haben bie Pölker, tvelche btcfcr Kirche angehören, 
fcttbcrrt nichts erlebt, tvas fie ihnen unerträglich unb reform* 
bebürftig erfcheinen liege* Sie verharren baher noch immer bei 
biefer „natürlichen 7 ' Beligion bes 6* 3ahrh u nöctds* 

Kber mit Bebacht habe ich son ber Kirche in ihrer äußeren 
(Erfcheinung gefprochen, (Es gehört mit 3U ihrem kompilierten 
Charakter, baß man aus bem Süßeren nicht einfach auf bas 3 nnere 
[fließen kann* (Es genügt baher nicht, bic richtige Beobachtung 
aus3ufpredjen, biefc Kirche gehöre in bie griechifche Beligionsge* 
[deichte* Sie übt hoch XDirfungen aus, bie nicht leidet von hier 
aus verftanben tverben können* £Pir muffen, um fie richtig 3U 
tvürbigen, naher auf bie (Elemente eingehen, bie ftc charakterifieren* 
guerft begegnen uns hier bie Crabition unb ber (Sehorfam 
gegen fie* Das ^eilige, bas ( 5 öttlid]e ift nicht in freien XDir* 
fungen vorhanben — tvelche (Einfchränkungen biefer Saß erleibet, 
tverben mir fpäier fehen—, fonbern es ift aufgefpeichert in 5orm 
eines ungeheuren Kapitals* Kus biefem Kapital ift alles 3U ent** 
nehmen, unb es tvill genau fo ausgemün3t fein, tvie bie Pater es 
ausgemün3t haben* (Einen getviffen Krtfaßpunft für biefen (Eebanfen 
bietet -allerbings fdjon bie ältefte Seit* IPir lefen in ber Kpoftel* 
gefd]id)te: „Sie blieben in ber Kpoftel Cehre*" XDas aber ift aus 
biefer Übung unb Perpflichtung getvorben? (Erftlid], es ift alles 
als „apoftolifch" be3eid?net tvorben, tvas fich im Caufe ber nächften 
3 ahrhunberte fyiev angefeßt hat; ober vielmehr: tvas bie Kirche 
nötig 3U haben glaubte, um fich ber gefchichtlichen Cage an3upaffen, 
bas nannte fie apoftolifch, rveil fie ohne basfelbe nicht e^iftieren 3U 
können meinte, ^ unb — tvas für bie (££iftcn3 ber Kirche nottvenbig 
ift, muß eben apoftolifch fein* «gtveitens, es ift als unverbrüchliche 
(Erkenntnis feftgeftellt tvorben, baß bas „Bleiben“ im Kpoftolifchen 
fich in erfter Cinie auf bie pünktliche Befolgung aller rituellen 
Kntveifungen be3ieht; bas fjeilige haftet an bem tPortlaut unb 
ber 5 orm* Beibes ift nun burchaus antik gebacht* Daß bas 
(Göttliche fo3ixfagen binglich aufgefpeichert ift, unb baß bie (Gottheit 
vor allem bie pünktliche (Einhaltung eines Bituals verlangt, roar in 
ber Kntike ber geläuftgfte unb fid?erfte (Eebanke. Die Crabition unb 
bie Zeremonie finb bie Bebingungen, unter benen bas bjeilige allein 
e^iftierte unb 3ugänglich rvar* (ßehorfam, Befpekt, pietät tvaren 
bie rvid]tigften Beligionsempfinbungen; gerviß finb fie ber Beligion 
unveräußerlich, aber nur als Begleiterfcheinungen einer lebenbigen 










140 


©mpfinbung gan3 andrer 2lrt haben ftc einen religiöfen IDert, 
unb habet ift noch norausgefeßt, baß bas (Dbjeft ein miirbiges ift. 
Der ©rabitionalismus unb ber mit ihr eng nerbunberte Hitualismus 
charafterifieren bie griechifche Kirche in h^imorragenbem ZlTaße, aber 
eben baraus geht fyvvov, mie fehr fie fich r>on bent ©mngeljum 
entfernt hat* 

Das 3 tr» e i t e Stüct, melches bie ©genart biefer Kirche be* 
ftimmt, ift ber XDert, ben fie auf *bie ©rtbobo^ie legt, auf bie 
richtige Cehre* Sie h<*t &iefe Cehre aufs genaueftc ausgebilbet unb 
umfebrieben, unb fie b<*t fie oft genug 3um Schreden anbersgläu* 
'biger ZHenfchen gemacht* Hur mer bie richtige Cebre h a */ ? ann 
felig merben, mer fie nicht bat, ift aus3uftoßen unb foll aller Hechte 
uerluftig geben; ift er ein Dolfsgenoffe, fo foH er mie ein Kusfäßigcr 
bebanbelt merben unb jeben «gufammenhang mit feiner Hation 
verlieren* Diefer 5 auatismus, ber auch fyv,te noch fykv unb bort 
in ber griechif dien Kirche emporlobert unb prin3ipielt nicht auf ge* 
geben ift, ift nicht griechifch — obgleich eine gemiffe Heigung nach 
biefer Seite ben alten ©riechen nicht gefehlt h a * —> er ift noch 
meniger römifd)*recbtlid^en Urfprungs; er ift vielmehr bas probutt 
mehrerer 5aftoren, bie in unglücklicher Bereinigung auftraten* Zlls 
bas römifd^e Heich cbriftlicb mürbe, mar ber fernere ©jriftenjtampf 
ber Kirche mit ben ©noftifern noch nicht uergeffen; noch meniger 
rnaren bie festen blutigen Derfolgungett ber Kirche uergeffen, bie 
ber Staat in einer Krt non Ber3meiflung verhängt h^tte* Hereits 
biefe beiben ZHomente erflären es, mie bie Stimmung, ein Hecht 
auf Hepreffaliert $u l\db$n unb 3ugleich bie Häretiker unterbriideit 
3U miiffen, in ber Kirche auffam* Hun aber trat noch an 
Stelle bie orientalifdfe abfolutiftifche Zluffaffung uoit bem unbe* 
fchräntten Hecht unb ber unbefchränkten Pflicht bes ^errfchers 
feinen „Untertanen“ gegenüber feit Diotletian unb Konftantin 
hinju* Das mar ja bas Berhängnisuolle bei bem großen Umfchmung 
ber Dinge, baß ber römifche Kaifer bamals gleichseitig unb faft in 
einem ZUoment chriftlicher Kaifer unb orientalifcher Defpot 
gemorben ift* 3e gemiffenhafter er nun mar, befto intoleranter 
mußte er fein; bettn ihm hat bie ©ottheit nicht nur bie Ceiber, 
fonbern auch bie Seelen übergeben* So entftanb bie aggreffme unb 
abforptine ©rthobo^ie bes Staats unb ber Kirdje ober vielmehr 
ber Staats!irche; altteftamentliche Heifpiele, bie immer 3ur £janb 
ftnb, uoHenbeten ben projeß unb gaben ihm bie ZDeihe* 





141 


Die 3 tttoIerart 5 tft etwas Heues auf bem Hoben ber (ßriecfyen 
uitb fann ifynen nicfyt einfach 3ur Caft gelegt werben; aber wie 
bie Cefyre ausgebilbet würbe, näntltcfy als große (Sott * tDelt * Pfyilo* 
foppte, bas ift- unter ifyrem (Einfluß gefcfyefyen, unb baß bie Beligton 
iiberEjaupt mit ber Cefyre gerabejü ibentifijiert worben ift, ift eben* 
falls ein XDerf ifyres (Seiftes. Alle J^inweife auf bie <Hebeutung, 
welche bie £efyre fcfyon im apoftoIifd)en Zeitalter befeffen Ejat, unb 
auf bie Anfäfce, fie in fpefulatine 5 orm 3U bringen, genügen fyer 
nid>i Sie finb nielmeEjr, wie id? in ben früheren Dorlefungen ge* 
3eigt 3U Ejaben Ejoffe, anbers 3U nerfteEjen. Der 3tttelleftualismus 
fyebt erft im 2. 3afyrfyunb.ert bei ben Apologeten an unb, unterftüfet 
burd? ben Kampf gegen bie (Snoftifer unb burdj bie alejranbrinifcfyen 
BeligionspEjilofopfyen ber Kirche, fefet er fiefy burdj* 

(£s genügt aber nidjt, bie Cefyre ber griecfyifcfyen Kirdje nur 
nadj ifyrer formalen Seite 3U würbigen unb 3U fonftatieren, in 
welcher Art unb in welchem Umfang fie ftdj barftellt unb wie Ejodj 
fie gewertet wirb* XDir müffen and] fad}Iidj auf fie eingefyen; ,benn 
fie f befifet 3wei (Elemente, bie iEjr gan3 eigentümlich finb unb fie 
non ber griechifdjen BeligionspE>ilofophie unterfcheiben — ben 
S d|öpfungsgebanfen unb bie CeEjre non ber (Sottmenfchheit 
bcs (Erlöfers. Von ihnen werben wir in ber nächften Dorlefung 
hanbeln, ferner non ben beiben anberen (Elementen, welche bie 
griechifd>e Kirche neben ber Crabition unb ber Cefyre charafterifteren 
nämlid] bem Kultus unb bem UTöndrtum* 













iüir E^aBcit bisher feftgefteEt, baß ber gried?ifd}e Katt^lijismus 
als Seligion burd; zwei Elemente djaraftcrifiert ift, burcf) ben ©rabi* 
tionalismus unb ben 3ntelleftualismus. 2^tact? bem Drabi» 
ttonalismus ift bie pietcitsooEe unb jebe Heuerung abwclirenbc 
Sewaljrung bes überlieferten (Erbes niefjt nur etwas XDidjtiges, 
fonbern bereits bie Betätigung ber Seligion felbft. Das ift ganj 
antif gebadet unb ift bem (Epangeliunt fremb; benn biefes weiß 
fd)Iedjterbings nidjts bauern, baß an bie pietät gegen eine Übcr= 
lieferung an fldj ber Berfefr mit ber (Soweit gebunben ift. Kber 
audj bas zweite (Element, ber 3 nteHeftuaIismus, ift griedjifdjer fjer* 
funfi Die Kusfpinnung bes (Euangeliums 3U einer großen (Sott* 
EDelbpEjilofopEjie, in weiter alle benfbaren KTaterien beljanbclt 
werben, bie Überzeugung, baß, weil bie djrijHidje Seligion bie ab. 
folute ift, fie aucfi auf alle fragen ber ÜTetapEjvftf, Kosmologie unb 
(Sefdßdjte Kusfunft geben muffe, bie Setraddung ber (Offenbarung 
als einer unüberfefybaren ülenge pon Cebrevt unb Kuffdjlüffen, aEc 
gleidj . heilig unb widrig — bas ift gried)ifd;er 3 nteEeftualismus. 
SacE; iE;m ift ja bie «Erkenntnis bas bjödjfte, unb ber (Seift ift 
nur (Seift als erlennenber: alles Üfttietifdje, <£tl)ifd)e unb Seligiöfe 
muß umgefeßt werben in ein JDiffen, bem bann ber JDille unb bas 
Ceben mit 3 id?erE>eit folgen werben. Die «Entwidlung bes djrift- 
lid,en (Slaubens 3U einer aEes umfpannenben Dbeofopbie unb bie 
3bevttifi3ierung pon (Slaube unb (Slaubenswiffen ift ein Beweis, 
baß bie djriftlidje Seligion auf gried}ifd)em Boben in ben Sann* 
Ireis ber bort Ejeimifd^en Sefigionspl|ilofop^ie cingetreten unb in 
tm perblieben ift. 





143 


Uber innerhalb biefer großen (BotbXPelbphilofophie, bie als 
„ 3 n^alt ber Pffettbarung" unb als „ortfyobo^e Cehre? einen abfo* 
luten XPert befißt, finb es 3tvei Cleinertte, bie fie non ber fonft fo 
vermattbtett griechifchen Ueligiortsphilofophie burchgreif enb unter* 
fcheibett unb ihr einen gatt3 eigentümlichen (E^arafter verleihen, 
3ch meine nicht bie Berufung auf Pffenbarung— benn auf (Dffett* 
barung beriefen ftch auch bie XXeuplatonifer—, fonbern ben Schöp* 
fungsgebanfert unb bie Cehre non ber (Bottmenfchh^it bes 
Crlöfers, 5 ie burchbrechen bas Schema ber gried]ifd]en Heligiotts* 
pfyilofopfyie an 3tvei entfcheibenben punftert unb finb baher and] 
ftets t>on ben echten Pertretern berfelben als fremb unb unerträglidj 
empfunben morben. 

Über ben 5 d|öpfungsgebanfen fönnen mir uns Iur3 f affen, 
Cr ift un3tx>eifelfyaft ein ebenfo mistiges mie beut Cvangelium ent* 
fpred]enbes Clement, Purd] ihn ift bie Perffechtung von (Sott unb 
XPelt aufgehoben unb bie XDirflidjfeit unb Kraft - bes lebenbigen 
(Bottes 311m Uusbrud gebracht, &voa r haben auch bei d^rifllid^cit 
Pertfern auf griechifehern 23 oben — eben meil fie (ßriechen maren — 
bie Perfuche nicht gefehlt, bie (BottEjeit lebiglich als bie einheitliche 
Kraft bes XPeltgefüges, als bie Cinheit in ber Pielheit unb als bas 
Siel ber Pielheit 3U faffen. Sogar bie Kirchenlehre trägt fyutc 
noch einige Spuren biefer Spefulation; aber ber Schöpfungsgebanfe 
hat hoch triumphiert, unb bamit hat bie (Ehriftlichfeit einen mirflichett 
Sieg erfochten. 

Piel’fchmieriger ift es, über bie Cehre von ber (ßottmenfdjheit 
bes Crlöfers ein richtiges Urteil 3U gemimten. Sie ift utt3meifelhaft 
bas b}er3ftüd ber gan3en griechifchen Pogntatif, Port ihr aus ift 
bie Crinitätslehre gemortnen, unb beibe 3ufammen bilben nach $rie* 
djifcher Uuffaffung bie chriftliche Cehre in nuce, XPenn ein grie* 
djifcher Kirchenvater einmal gefagt hat: r/Pie (Bottmenfchh^ü (bic 
UTertfchmerburtg) ift bas Heue unter beut Ueuen, ja bas ein3ig Heue 
unter ber Sonne-", fo hat er bamit nicht nur bas Urteil aller feiner 
Konfeffionsgenoffen richtig miebergegebett, fonbern 3ugleich in tref* 
fenber XPeife ihre XTüeinung ausgebrüdt, baß alle übrigen Stüde 
ber Cehre ftch bei gefunben Sinnen unb ernftent Hadjbenfen von 
felbft ergeben, biefes aber barüber hinaus liegt, Pie Cheologett 
ber griechifchen Kirche finb bavon über3eugt, baß d?rift s 
liehe (Slaubenslehre unb natürliche philofophie fich cigent* 
J(id| nur baburch unterfcheiben, baß jene bie Cehre von 









144 


ber Sotimenfcfyfyett (unb ber ^Trinität) umfaßt Ejöchftens ber 
Schöpfungsgebanfe fann baneben nod? in Betracht fommen* 

3 ft bem fo, bann ift es non burchfdjlagenber Bebeutmtg, ben 
Etrfprung, ben Sinn unb ben Wett jener Cetjre richtig ju f affen* 
3 n ihrer Ausführung muß fie jebem, ber non ben (Evangelien B^er 
an fie herantritt, gan3 frernb anmuten* Diefer (Einbrud dann auch 
burch feine gefchidjtliche Beflepion übermunben merbeit — ber gan3e 
Bau ber firchlicken (E^riftologie fte^t außerhalb ber fonfreten 
perfönlichleit 34 u grifft —; aber gefchichtliche (Ermägungen 
vermögen hoch nicht nur ihren Etrfprung 3U erflären, fonbern and] bis 
311 einem getniffen (ßrabe bie Formulierung felbft 3U rechtfertigen* 
Derfuchen mir es, uns bie l^auptpunfte flar 3U machen* 

XPir haben in einer früheren Dorlefung gefehen, mie es ba3u 
gefommen ift, baß ftd] bie firchlichen Cefyrer ben Begriff bes Cogos 
enoählten, um bas XDefen unb bie tDürbe (Ehrifti fidler 3U ftelten* 
Da ber Begriff „ZTCefjtas" für fie gan3 unverftänblich, alfo nichts* 
fagenb mar, unb ba man Begriffe nicht 3U improvifieren nermag, 
fo hatten fie nur bie XDahh entmeber ftch (Ehriftus als vergotteten 
Alenfchen (alfo als Qeros) vor3uftelIen ober fein XDefen nach bem 
Schema eines ber griechifchen (8ötter 3U benfen ober es mit bem 
Cogos 3U ibentifoieren* Die beiben erften AlÖglichfeiten mußten 
abgelehnt werben, bentt fie maren „heibnifch" ober erfchienen fo* 
<Es blieb alfo ber Cogos* XDie 3wedmäßig biefe Formel nach vielen, 
Seiten mar, haben mir bereits hervorgehoben — ließ fich hoch auch 
ber Begriff ber (Sottesfohnfchaft unge3mungen mit ihr vereinigen, 
ohne auf bie anstößigen Cheogonien 3U führen, unb ber BTono* 
theismus fchien nicht gef ähr bet 3U fein —, aber bie Formel hatte 
and? ihre eigene Cogif, unb biefe führte nicht 3U (Ergebniffen, bie 
in jeber Ejinficht unbebenflich maren* Der Begriff bes Cogos mar 
fehr verfchiebener Ausprägung fähig; trot$ feinem erhabenen 3^halt 
lonnte er auch fo gefaßt merben, baß fein Cräger feinesmegs tvahr* 
haft göttlichen XDefens fei, fonbern eine halbgöttliche Batur habe* 
Die Frage nach bet näheren Beftimmung ber Batur bes Cogos* 
(Ehriftus hätte nun in ber Kirche nicht bie ungeheure Bebeutung 
erlangen fönnen, bie fie befommen hat, unb man hätte ftch bei 
mannigfaltigen Spefulationen beruhigt, menn nicht gleid^eitig eine 
fehr präsife Dorfteilung von ber (Erlöfung ben Sieg gemonnen unb 
eine peremptorifche Forberung geftellt hätte* Unter allen ben mög* 
liehen (Erlöfungsvorfteltungen — Dergebung ber Sdbulb, <Erlöfnng 






145 


aus ber Xfiadit ber Päntonen u» f» m» — trat nämlich im 5. 3(*h r * 
hunbert biejenige fouoerän in ber Kirche tu beit. Porbergrunb, 
u>elcf]e bie chriftliche (Erlöfuttg als (Erlöfuitg uont Cobe unb 
kantit als (Erhebung 3U göttlichem Ceben, alfo als Per* 
gottung, faßte» Piefe Porftellmtg fy** int (Euangeliunt 3mar einen 
fieberen Knhaltspunft unb in ber paulinifchen Geologie eine Stüße; 
in ber (Seftalt aber, in ber fie nun ausgebilbet mürbe, ift fie ihnen 
fremb unb ift grieeffifeh gebacht: bie Sterblichfeit an fich gilt 
als bas größte Übel unb als bie Urfache aller Übel, ber 
( 5 iiter höchftes aber ift, emig 3U leben» XPie ftreng griechifch 
bas gemeint ift, geht baraus heruor, baß \» bie (Erlöfung uom Cobe 
gan3 realiftifd] als pharntafologifcher pro3eß oorgeftellt mürbe — 
bie göttliche Statur muß einftrömen unb muß bie fterbliche Hatur 
untbilben — unb baß 2» emiges Ceben unb Pergottung ibentifaiert 
mürben» X^anbelt es fich aber um einen realen (Eingriff in bie 
Konftitution ber mettfchlichen Statur unb um ihre Pergottung, fo 
muß ber (Erlöfer felbft (Sott fein unb XHenfch merben» ££ur 
unter biefer 23 ebingung ift bie ^h a: tfäci?ltchfeit bes munberbaren Por- 
gangs uorftellbar» XPort, Cehre, ein3elne Chaten vermögen h* er 
nichts — ober fann man burch Knprebigen einem Steine Ceben 
geben, einen Sterblichen unfterblich machen? —; nur menn bas 
(Söttliche felbft leibhaftig in bie Sterblichfeit eingeht, fann biefe trans- 
formiert merben» Pas (Sörtliche aber, b. h* emiges Ceben, unb 5mar 
fo, baß er es 3U übertragen oermag, h<*t nicht ber Ejeros, fonbern 
nur (Sott felbft» Klfo muß ber Cogos (Sott felbft fein, unb er muß 
mahrhaft IHenfch gemorben fein» 3f* liefen beiben Sebingungen 
genügt, bann ift bie reale, naturhafte (Erlöfung, b» h* bk Pergottung 
ber ZHenfchheit, mirflich gegeben» Pon h^r aus erflären fich bk 
ungeheuren Streitigfeiten um bie Statur bes Cogos^cEhnßns, melche 
mehrere 3 ahrhunberte angefüllt h a ^ ßn » Pon h^ r aus erflärt es 
fich, marunt Kthanafius für bie Formel, ber Cogos-Chriftus fet 
eines XPefens mit bem Pater, fo geftritten h<*f/ nls h a nble es fich 
um Sein ober Hichtfein ber chriftlichen Heligion» Pon h^ cr aus 
mirb es beutlich, marum anbere griechifche Kirchenlehrer febe (Se* 
fährbung ber oollen (Einheit von (Söttlichem unb XTlenfetlichem in 
bem (Erlöfer, jebe Porftellung einer bloß moralifchen Perbinbung 
mie eine Kuflöfung bes (Ehriftentums betrachtet hüben» Sie h^bett 
ihre Formeln burchgefeßt, bie für fie nichts meniger als fcholaftifche 
begriffe maren, fonbern 23 efchreibung unb Sicherftellung eines Chat- 

f?a'rna cf, lOefcn b. (Ehriftentums. 10 


- 146 


beftanbes, ohne melchen bie chriftliche Heligion fo ungenügenb märe, 
rote alle anbeten. Die lehren r>on ber mefensgleidjen Crinität — 
mie es 3ur CeEire t>om fjeiltgett (Seift gefommen i[t, mag fiter auf 
fief; berufen — unb non ber (Sottmenfcfjfjeit bes <£rlöfers entfpredjen 
genau ber eigentümlichen Dorfteilung r>on ber «Srldfung als einer 
mefenfjaften Dergottung burdt Hnfterblichleit. ©fjne biefe Dorftellung 
märe es niemals 3U jenen Formeln gefommen; aber fie ftefjcn unb 
fallen auch mit ihr. Sie haben fich aber nicht burchgefeßt um ihrer 
Derroanbtfchaft mit ber griechifchen pfnilofopbiic mitten, fonbertt int 
(Segenfaß 3U ihr. Die griediifdie ptjilofophie hat nie gemagt unb 
nie baratt gebacht, bem iDunfcße nach Unfterblidjfeit, ben fie fo 
lebhaft empfanb, itt irgettbmie ähnlicher IDeife bureß „(Sefcßichtc" 
unb Spelulation entgegen3ufommen. ( 5 anj mYtßologifcß unb aber» 
gläubifch mußte fte es anmuten, einer gefcßichtlichen perfönlicßleit 
unb ihrem <£rfd;eineu einen foteßen Eingriff in beit Kosmos bei» 
3ulegen unb ihr eine Umtranblung bes ein für allemal (gegebenen 
unb emig ^ließenben 3U5ufcßreiben. Das „allein Heue unter ber 
Sonne" mußte ihr als bie fchlimmfte 5abel erfcheinett unb ift ihr 
fo erfeßienett. 

Die griechifche Kirche ift heute noch baoon überzeugt, in biefen 
Ceßren bas tüefen bes (Eßriftentums als (Seßeimnis unb als ent» 
ßütttes (Seßeimnis 3ugleich 3U befißen. DieKritif biefer Behauptung 
ift nicht feßmer. Knerfannt fott merben, baß jene Sehren mächtig 
ba3U beigetragen haben, bie chriftlicße Heligion nor bem gcrfließett 
in bie griechifche Heligionspßilofopßie 3U feßüßen, ferner, baß 
ber abfolute (Eßaratter biefer Heligion an ihnen einbrucfsoolt beut» 
ließ mirb, meiter, baß fie ber griechifchen «SrlöfmtgsDorftettung mir!» 
lid} entfprechen, enblicß, baß biefe Dorftellung felbft eine ihrer 
JDurjeln im <£r>angelium hat. Kber barüber hinaus läßt ftch nkßts 
anerf ernten; es ift vielmehr 3U fagen: bie Dorftellung oon ber 

tfrrlöfung als Dergottung ber fterblicßen Hatur ift untercßriftlicß, 
meil ihr fittliche ZTiomente im beften 5all nur angefügt 
merben fönnen, 2. bie gaii3e Sehre ift unannehmbar, meil fie 
mit bem 3efus (Eßriftus bes €uangeliums faum 3ufammenhängt, 
unb ihre Formeln auf ihn nicht paffen; fie entfpricht alfo nicht 
bem ZDirflicßen, 3 . fte führt, meil fie nur bureß unfießere 5 äben 
mit bem mirflicßen (Lßriftus 3ufamtnenhängt, r>on ihm ab: fte erhält 
nicht fein 23 ilb Icbenbig, fonbern fie verlangt, baß man biefes Dilb 
lebiglich in angeblichen Dorausfeßungen erlernte, bie in 






147 


tfyeoretifdjen Säuert 3um Kusbrucf gebracht ftuDaß bte 
XDirfurigen biefer Subftitution nicfyt fo fd?limnte urtb gruttbftür3enbe 
finb, ift roefentlief? bte So Ige bat>ort, baß bie Kirdje bte <£t>angeltert 
bo d\ nid}t unterbrächt B?at, urtb biefe fid] mit eingeborener Kraft 
geltenb machen. KTan mag and? jugefte^ert, baß bie Dorfteßung non 
bent menfdigemorbenert (Sott nid]t überaß nur mie ein beraufdjettbes 
KTvfterium mirft, fonbern 3U ber beftimmten unb reirten Über3eu* 
guttg: (Sott mar in (EBjrifins, überleiten fantt. Klart mag eitblid? 
eirträumett, baß ber egoiftifcfye XDurtfd? ttad? unfterblidjer Dauer 
innerhalb ber cfyriftlicfyen Sphäre eine fittlicfye Reinigung erfahren 
mirb bnrd? bie SeBjnfucfyt, mit unb in (Sott 311 leben urtb 
untrennbar mit feiner Ciebe nerbunben 3U bleiben. Kber aße biefe 
gugeftänbniffe fönnett bie (Sinfidjt rticfyt megfdjaffett, baß in ber 
gried]ifd]en Dogmatif bie nerB?ängnisnoßfte Derbirtbuttg gefcfyloffett 
ift 3tr>ifd]en bent arttifen XDurtfcfye nad? unfterbliefern Ceben unb ber 
d)riftlid]en Derfürtbigurtg. Kud? fanrt niernartb leugnen, baß biefe 
Derbinbung, eingefteßt in bie griedfifdfe HeligiottspfyilofopBjie urtb 
ib>ren 3 nteßeftualismus, 3U Formeln geführt B?at, bie unrichtig firtb, 
einen erbacfyten (Efyriftus an Stefle bes mirflicfyen feßen unb außer* 
bem ber Selbfttäufcfyung Haunt geben, baß man bie Sacfye fyabe, 
mentt man nur bie richtige Formel b eftfee. Selbft menn bie cfyrifto* 
logifcfye Formel bie tfyeologifd} 3utreffenbe märe — mie meit B>at 
ftd? bie Kircfye nom (Snangelium entfernt, bie ba behauptet, mart 
fönne 3U 34 ns (Efyriftus fein Derfyältnis gemittnen, ja mart ner* 
fünbige ftdj an iB?m urtb merbe Bjittausgeftoßen, menn mart nicfyt 
. aßent 3uoor arterfertne, baß fv eine perfort mit 3mei Naturen urtb 
3tr>ei XDißertsertergieert, je einer göttlichen urtb einer menfcfylicfyen, ge* 
mefen fei? 3 is 3U folcfyer 5 orberurtg B?at fid? ber 3 nteßeftualismus 
ausgebilbet! Darf ba noch bas (Snangelium nont fananäifcfyen 
EDeibe ober notn Ejauptntann 3U Kapernaum gelefen merben? 

2Tcit bem Crabitiortalismus unb 3ttteßeftualismus ift aber noch 
ein meiteres (Element uerbunben; bas ift ber Hitualismus. 5 teßt 
jtdj bie Heligiort als eine überlieferte, meitfehichtige CeB^re bar, bie 
nur menigen mirflich 3ugättglich ift, fo nerntag fie nur als EDeiBje bei 
ber 2TüeB^r3aB^X ber (Släubigen praftifch 3U merben. Die CeBjre mirb 
appli3iert in ftereotypen Formeln, bie non f^mbolifchett 
Efanblungert begleitet finb. So lägt fie ftd? 3tnar nicht innerlich 
nerftehett, aber es läßt fidj etmas (SeB^eimnisnoßes babei empftnbett. 

10 * 





148 


y 


(Eben bte Vergottung, toelche man non ber gufunft ermattet unb 
bie an ftdr? etwas Hnbefd]reiblid]cs unb Uitfajjliches ift, mirb fd]on 
jet^t mie ein Kugelt burd] iVeihehaublungen appl^iert* Die (Erre* 
gung ber phantafie unb Stimmung ift bie Dispofition für ihren 
(Empfang unb bie Steigerung jener (Erregung bas Siegel besfelben* 

So empfinben es bie griechifd]*fatholifchen Cfyriften. Der Verfemt 
mit (Sott poHsicfyt fid] burd] einen Büyfterienhxltus, burd] Ejunberte Port 
Heineren unb größeren roirffamen^ormeln, Reichen, Bilbern unbXVeihe* 
hanblungen, bie, trenn fic pünHIid] unb gehorfam beobad^tet merben, 
göttliche (Snabe mittcilen unb auf bas etoige Ccben rorbereiten* Kud] 
bie £ebre als folcbe bleibt rrefentlid] unbekannt: in liturgifdjen Sprühen 
tritt fie allein in bie (Erfcheinutxg* 5 ür neununbneun5ig pro3ent biefer 
(Ehriften ift bie Beligion nur als geremonienritual porhanben unb 
in ibm peräußerlid]t* Kber auch für bie geiftig geförberten Cbriften 
finb alle biefc XVeihehanblungen fd]led]thin notroenbig; beim bie 
£ebre erhält nur in ihnen bie rechte Kmrenbung unb ben rechten 
(Erfolg* 

Bid]ts ift trauriger 3U fehen als biefe Umtranblung ber chrift* 
liehen Beligion aus einem (Sottesbienft im (Seift unb in ber tVahr* 
beit 3U einem (Sottesbienft ber Reichen, Formeln unb 3 bole! Blau 
braucht gar nicht bis 3U beh religiös unb intellektuell pöllig per* 
trahrloften (Sliebern biefer (Ehriftenheit, 3U Kopten unb Kbeffyniern 
bcruntcr3ufteigen, um biefe EnttricHung fchaubernb 3U er fernen — 
auch bei Syrern, (Sriechen unb Buffen fteht es im gan3en nur um 
meniges beffer* £Vo aber ift in ber Verfünbigung 34 h aud] nur 
eine Spur bapon 3U finben, baß man religiöfe XVeihen als 
gebcimnispolle Kpplifationen über fid] ergeben laffen foll, ba§ man 
ein Bitual pünftlid] befolgen, Silber aufftellen unb Sprüche unb 
Formeln in porgefebriebener tVeife murmeln foll? Hm biefe Krt 
pon Beligion auf5ulöfen, h a * fid] 3 efus (Ehriftus ans 
Kreu3 fd]lagen laffen; nun ift fie unter feinem Barnen unb 
feiner Autorität mieber auf gerichtet! Die „Hlyftagogie" ift nicht nur 
neben bie „HTathefis" (bie Cebre) getreten, burd] treld]e fie ja 
berporgerufen ift, fonbern in IVahrheit ift bie „CcBjre" — wie 
fie aud] befd]affen fein mag, fie ift bod] ein geiftiges (Element — 
in ben Boben gefunden, unb bie Zeremonie beberrfd]t alles* Damit 
ift ber BüdPfaü in bie antife $orm ber Beligion nieberfter ©rbnung 
be3eiebnet; ber Bitualismus b^t auf bem treiten Boben ber gried]ifd] s 
orientalifeben (Ehriftenheit bie geiftige Beligion nahe3u erftieft* Sie 








149 


hat nicht nur etwas XDefentliches eingebüßt, nein fie ift auf ein 
gan3 anberes Hmeau geratenste ift auf jene Stufe ^erabgebrücft, 
auf ber ber Saß gilt: Heligion ift Kultus, nichts anböres» 

Das griechifch*orientalifche (£B|riftentutn Birgt jeboch ein Gtement 
in fich, bas 3 afyrl}unberte hinburch fähig gemefen ift, bent t>er* 
bünbeten Crabitionalismus, 3ntetteftualismus unb Hitualismus einen 
gemiffen XDiberftanb 3U leiften, ja ihn Bleute noch B^ie unb ba 
leiftet — bas ift bas Hlönchtum. Der griechifche cEB>rift ant* 
mortet auf bie 5 ^ge, mer Cfyrift im höchften Sinn bes tPortes 
fei: ber HTönch* XDer fich int Sd]meigen übt unb im Heinfein, 
mer nicht nur bie XDelt fließt, fonbern auch bie IDelttirdje, mer 
nicht nur bie falfche CeBjre uermeibet, fonbern auch bas Heben 
über bie richtige, u>er ba faftet, fontempliert unb unnerrücft märtet, 
Bis feinem 2 Buge ber £idjtglan3 Gottes auf geht, mer nichts für 
mertooll B^ält als bie Stille unb bas Had]benBen über bas Gmige, 
mer 'nichts t>om Ceben oerlangt als beu Cob, mer aus folcher 
oollfommenen SelbftBofigBeit unb Heinheit' HarmhersigBeit Terror* 
quellen läßt — ber ift ber dfyrifL 5 ür ihn ift auch bie Kirche 
nicht fd}Ied}tfyin notmenbig unb bie IDeiB^e, bie fie fpenbet. Die 
gatt3e geheiligte IDeltlichBeit ift einem folchen entfchmunben. 3 n 
biefen KsBetcn hat bie Kirche fort unb fort Grfcheinungen erlebt 
non folcher Kraft unb Zartheit ber religiöfen Gntpfinbung, fo er* 
füllt non bem Göttlichen, fo innerlich thätig, fich nach gemiffen 
<§ügen bes Bilbes (Ehrifti 3U bilbett, baß man mohl fageit barf: 
hier lebt bie Heligiort, unb fie ift bes Hamens (Eh*#* nicht Ults 
mürbig. XDir proteftanten bürfen uns nicht fofort an ber 5ornt 
bes Htönd)tums ftoßen* Die Hebingurtgen, unter benen urtfere 
Kirche entftartben ift, h a ^ ßn uns ein h cr & e5 unb eirtfeitiges 
Urteil über basfelbe auferlegt. Unb ob mir auch berechtigt fein 
mögen, es für bie Gegenmart unb unfern Aufgaben gegenüber 
feft3uhalten auf anbere Derbältniffe bürfen mir es nid>t ohne 
meiteres anmenben. Gin Ferment unb ein Gegengemicht innerhalb 
jener trabitionaliftifchen unb ritualiftifchen EDeltBird^e, mie es bie 
griechifche Kirche gemefen ift unb noch ift, Bonnte nur bas Hüönch* 
tum fein. Ejier mar ^rcih^tt, SelbftänbigBeit unb lebenbige (Erfahrung 
möglich; behielt bie GrBenntnis ihr Hecht, baß in ber Heligion 
nur bas Grlebte unb bas 3 nnerliche IDert t\at 

2 lber — bie mertoolle Spannung, bie innerhalb biefes Geils 





150 


ber 3wifchen ber XBeltfirche unb bem HTönchtum beftanben 

hat, ift Ieiber faft gatt3 uerfchwunben, unb bcr Segen, ben es 
geftiftet ^at, ift faunt mehr 3U fpürem Bidjt nur bie IDeltfirche 
hat fich bas Hlönchtum unterworfen unb es überall unter ihr goch 
gebeugt, fonbern auch bie lüeltlichfeit ift in befotiberent ZHaße in 
bie KBöfter einge3ogem 3 n ber Hegel finb bie gried}ifd)cn unb 
orieittalifchen ZTEöncfye Bleute bie (Drgane für bie nieberften unb 
fchlimmften jmnftionen ber Kirche, für ben Bilber* unb Beliquien* 
bienft, ben fraffeften Aberglauben unb bie blöbefte gauberei* 
Ausnahmen festen nicht, unb noch immer muß ftch bie Hoffnung 
auf eine beffere gufunft an bie 2Tcöitche flamntern; aber ab3ufehen 
ift nicht, wie einer Kirche Befferung werben foBI, bie, mag fte Beßren 
was fte wiBB, ftch babei beruhigt, baß ihre HTitglieber gewiffe gere* 
mottien richtig beobachten — bas ift ber chriftliche <31 aube — 
unb bie haften richtig enthalten — bas ift bie chriftliche SittBichfeit 

IDir fragen fchließBich: XDie ift bas (Eoangeliunt in biefer Kirche 
mobiffoiert worben, uitb wie hd: es ftch behauptet? Butt 3unächft 
habe ich feinen IBiberfpruch 3U erwarten, wenn idh antworte: 
biefes offtgeBBe Kircherttum mit feinen priefterrt unb feinem KuBtus, 
mit alten ben (Befaßen, Kleibern, ^eiligen, Bitbern unb Amuletten, 
mit feiner ^aftenorbnung unb feinen heften B>at mit ber Heligiott 
Chrifti gar nichts 3U thun. Vas aBBes ift aittife Heligiott, am 
gefnüpft an einige Begriffe bes (Evangeliums, ober beffer, bas ift 
bie antife Beligion, welche bas (Evangelium aufgefogeit h a B» Die 
religiöfeit Stimmungen, bie fyev er3eugt werben, ober bie biefer 
Art von Heligion entgegenfommen, finb unter chriftliche, fofern fte 
überhaupt noch religiös genannt werben föttnen. Aber auch ber 
Crabitionalismus unb bie „(Drthobo^ie" haben mit bem (Evangelium 
wenig gemein; auch fte finb nicht von ihm her gewonnen ober von 
ihm ab3uleitem Korrefte Cebre, pietät, (Sehorfant, Schauer ber 
(Ehrfurcht fönnen wertvoBBe unb erhebenbe (Büter fein; fte vermögen 
ben einzelnen 311 binben unb 3U 3ÜgeBn, 3umal wenn fte ihn in 
bie eßemeinfehaft eines feften Kreifes hütein3iehen; aber mit bem 
(Evangelium h a ^en fte fo Bange nichts 3U thun, aBs ber ein3elne 
nicht bort gefaßt wirb, wo feine Freiheit Biegt unb bie innere (Ent* 
fcheibung für ober wiber (Sott Dem gegenüber ift in bem VTiö.nd}* 
tum, in bent (Entfdjluffe, (Bott burd] Asfefe unb Kontemplation 311 
bienen, immerhin ein ungleich XDertvoBBeres enthalten, weil Sprüche 





151 


(Ojrtfti, fei es auch in einfeitiger unb befchränfter Kmnenbung, 
bod] als Bid]tfchnur bienen unb bie 2TcögIid}feit, baß ftd] fclbfläu« 
biges, inneres Ce Ben cntsünbct, fyer näher liegt 

^icr näher liegt — fie fehlt, (Sott fei ®anf, auch in bem 
oben (5el]äufe biefes Kirchentumes bod] nicht gan 3 , unb auch bie 
SprücheyC^rifti [drallen an bas 0B)r ber Kird]enbefud]er, Über bie 
Kirche als foldje trat ihrem gan 3 en Apparate läßt fid] nichts 
(Sünftigeres fagen, als roas gefagt roorben ift: aber bas XDertnollfte 
ift, baß fie, roenn auch in befcheibenem Klaße, bie 

Kenntnis bes (Evangeliums aufrecht erhält Pas IDort 
3 efu, wenn and] nur gemurmelt von ben prieftern, ftel]t and] in 
biefer Kirche an oberfter 5telle, unb bie fülle Kliffion, bie es übt, 
tuirb nicht unterbrüdt Ziehen bem gan 3 en gauberapparate unb 
ber Überfd]tr>änglid]feit, bereu corpus mortuum bie geremonie ift, 
fielen bie Sprüche 3efu; fic tverben gelefen unb vorgelefen, unb 
bie Superfütion vermag it]re Kraft nicht aus 3 utilgen* T)ic 
5 rud]t fann nicmanb verkennen, ber fyier etwas genauer 
hineingefchaut l^at Kud] unter biefen Cl^riften, prieftern unb 
Caien, finbet man folche, bie (5ott als ben Pater ber Barmhe^ig* 
feit unb als bett Ceiter ihres Cebens fennen gelernt fyaben unb 
bie 3 efum Cfyriftum lieb fyahen — nicht tveil fie ih(n als bie 
geheimnisvolle perfon von 3 *vei Baturen fennen, fonbern tveil ein 
Strahl feines IPefens aus bem (Evangelium in ifyr £]er 3 gebrungetx 
unb biefer Strahl ihnen £id]t unb IPärme getvorben ift für bas 
eigene Cebem Unb mag auch ber (ßebanfe ber väterlichen Por* 
febung ( 5 ottes im (Drient leichter eine faft fataliftifche 5 orm an* 
nehmen unb aÜ 3 U quictiftifd] tvirfen — baß er aud] fyier Kraft unb 
Qtatlraft, ^elbftlofigfeit unb Ciebe verleiht, ift getviß. 3 d] brauche 
nur tvieberum auf bie fd]on einmal citierten „Porfgefchichten" 
Colftoi’s 3 U vertveifen, bie nicht erfünftelt ftnb; id] lann aber 
aud] aus mancher eigenen Knfchauung unb Erfahrung beftätigen, 
wie fid] felbft beim ruffifchen Bauern ober nieberen priefter troß 
Bilber* unb l]eiligen*Pienft boeb aud] eine Kraft bes fd]lid|teu 
(ßottvertrauens, eine gartheit ber fittlicben. Empfinbung unb eine 
thatfräftige Bruberliebe ftnbet, bie ihren Urfprung aus bem Evangeliutxx 
nicht verleugnet* IPo fie aber vorhatxbetx finb, ba fatxn felbft ber 
gan 3 e geremotxieixbienft ber Beligiotx eine Pergeiftigung erfahren, 
nicht burd] „Umbenfen ins Svmbolifche" — bas ift etxvas viel 3 U 
Künftiges —, fonbern tveil fid] felbft am 3bol ber Sinn 3 .U bem 


152 


lebenbigcn (Sott ergeben fantt, wenn bie Seele überhaupt nur einmal 
von ibm berührt ift. 

<£s ift aber wahrlich nicht 3ufällig, baß, fofern fiel) überhaupt 
felbftänbiges religiöfes Cebett auch bei beit (Slicbe'rn biefer Kirche 
finbet, es fid? alsbalb in (Sottvertrauen, Demut, Selbftlofigfeit unb 
23 arntt;er 3 igfeit äußert, unb 3ugleid) 3efus Cfjriftus mit (Ehrfurcht 
erfaßt wirb; benn bas finb eben bie §üge, bie es offenbaren, baß 
bas Evangelium noch nicht erftidt ift, unb baß es an jenen reib 
gidfeit Cugenben feinen eigentlichen 3 nhalt bat. 

Das Softem ber orientalifchen Kirchen ift als (Sanjes unb 
in feiner Struftur etwas bem Evangelium frembes; es bebeutet 
fotuohl eine wirflidic Cransformation ber chriftlidjen Religion als 
auch bie fjerabbrücfuug ber 5römmigfeit auf ein uiel tieferes ZTiveau, 
nämlich auf bgs antife. Kber in feinem KTöndjtum, fofern es nicht 
ga »3 ber lüeltfirche unterworfen unb felbft verweltlicht ift, ift ein 
(Element gegeben, welches ben galten Kirchenapparat auf eine 
3weite Stufe herabfegt, unb in welchem bie KTöglichfeit, 3U chriftlidjer 
Selbftänbigfeit 3U gelangen, offen fteht. Dor allem aber hat bie 
Kirche, inbem fie bas Evangelium ntdit unterbrüdt hat, fonbern, 
wenn auch in fümmertichem KTaße, 3ugänglid) erhält, bas Korreftiv 
no $ immer in ihrer KTitte. Diefes Evangelium übt feine eigene 
iüirfung in unb neben ber Kirche bei ei^eliten aus. Die K)ifc« 
fung aber ftellt fid; in einem Cypus von ^römmigfeit bar, welcher 
eben bie ( 5 )üge trägt, bie wir in ber Dcrfünbigung 3®fu als bie ent* 
fdjeibenbften nachgewiefen haben. Somit ift bas «Evangelium auf 
bicfem 23 oben nicht völlig untergegangen. KTenfchenfeelcn gewinnen 
audj hier (Scbunbenheit unb Freiheit in (Sott, unb wenn fte fie 
gefunben haben, fpredjen fie! bie Sprache, bie ein jeher Chrift ver* 
fteht unb bie einem jeben (Ehriften 3U bjc^en geht. 


i 









I 


Bfarpfjitfe ©orlB|ung. 


Mt rijrtßlirfjE HEltgttm int röntifrfjBn Jtaifjßltjtsmu» 

foD uns in ber heutigen Borlefuttg befdtäftigen* 

T>ie röntifche Kirche ift bas umfaffenbfte unb gemaltigfte, bas 
fomplijiertefte unb bod? am meiften einheitliche (ßebtlbe, meines bie 
<5efchid?te, fomeit mir fte fernten, h^°^k ra d}t hat Klle Kräfte 
bes tnenfdjlichen (Seiftes unb ber Seele unb alle elementaren Kräfte, 
über melche bie Ktenfchheit nerfügt, haben an biefent Bau gebaut 
Dev röntifche Kathol^ismus ift burch feine Pielfeitigfeit unb feinen 
ftrengen <§ufammenfchlu§ bent griechifchen meit überlegen* XX>ir 
fragen mifcberum: 

Was hat bie röntifch-datholifche Kird|e geleiftet? 

IDoburch ift fte charafterifiert? 

IDelche ZHobififationen hat bas (Soangelium in ihr erlebt, unb 
mas ift non ihm geblieben? 

Was hat bie römifch’fatholifcbe Kirche geleiftet? Xlnn 3m 
nächft — fte hat bie rontanifd^germanifchen Golfer erjogen unb 
3tnar in einem anberen Sinn als bie öftliche Kirche bie (Sriechen, 
Slanen unb ©rientalen* 2 Kag aud| bie urfprüngliche Knlage, mögen 
elementare unb gefchichtlichc Berhältniffe jene Bölfer begünftigt unb 
ihren Kufftieg mitbemirft habeit, bas Perbienft ber Kirche mirb 
barutn nicht geringer* Sie hat ben jugenblichen Stationen bie chrift* 
liehe Kultur gebracht, unb nid]t nur einmal gebracht, um fte bann 
auf ber erften Stufe feft3uhalten — nein, fte hat ihnen etmas 5ort 
bilbuttgsfähiges gefchenft, unb fte hat felbft biefett 5ortfchritt in 
einem faft tauf enb jährigen geitraum geleitet Bis 3um \^* 3ahr= 
huttbert ift fte 5ührerin unb ZHutter gemefen; fte hat bie 3^een 



154 


gebracht, bie Siele gefegt unb bie Kräfte entbunben* öis 3Utn 
14 * 3 af]r^unbert — von ba ab fieht man, mic bie felbftänbig 
merbett, bie fie erlogen h a h unb nun IDege einfchlagett, btc fie 
nicht gemiefen h a * unb auf benen fie nicht folgen mill unb fann* 
2 lber and] bann noch, in bent Seitraum ber lebten fed^shunbert 
3 <*h**/ ift fie nicht fo 3urücfgeblieben mie bie gried]ifd|e Kirche. 
Der ganseit politifd]en Belegung h^t fie fich, mit verhältnismäßig 
furzen Unterbrechungen, voHfomnten gemachfert gc3eigt — mir in 
Deutfchlanb [puren bas hmreichenb! — unb auch cm ber geiftigen 
Nemegung nimmt fie noch immer einen bebeutenben Knteil* Sie 
ift freilich längft nicht mehr bie ^ührerirt, im (Segenteil, fie hemmt; 
aber gegenüber ben Fehlern unb Überführungen in ben 5 ortfdritten 
ber KToberncit ift ihr £jemmen nicht immer ein ltnfegen* 

Smeitens aber, biefe Kirche h a t in XDefteuropa ben (Sebanfen 
ber Selbftänbigfeit ber Heligion unb ber Kirche aufrecht erhalten 
gegenüber ben auch h^ nicht fehlenbett Kitfä^en 3ur Staatsomni* 
poteiio auf geiftigent (Sebiet* 3 n ^er grie,chifchett Kirche h a t fich 
bie Neligion, mic mir gefehlt buben, fo [ehr mit bem Dolfstum 
unb bem Staat verfebmiftert, baß fie außer in bent Kultus unb ber 
IPeltflucht feinen felbftänbigen Spielraum mehr befißt. 2 luf bent 
Boben bes Kbenblanbes ift bas anbers; bas Heligiöfe unb bas mit 
ibm verbunbene Sittliche h<*t fein fetbftänbiges (Sebiet unb läßt cs 
[ich nid>t rauben* Das verbanfen mir vornehmlich ber römifchen 
Kirdte* 

3 n biefeit beibeit tEhatfadjen liegt bas michtigfte Stücf Krbeit 
befdüoffen, mclchcs biefe Kirche geleiftet h a t unb 3unt Ceil noch 
leiftet* Die Schranfe in 3 e 3 ug auf bie erfte hüben mir angegeben; 
and] bie 3meitc bat eine empfinbliche Schranfe; mir merben fie im 
Cauf unferer DarfteHung fennen lernen* 

XDoburd] charafterifiert fich bie röntifche Kirche? Das mar 
bie smeite 5 rage* Sehe ich recht, fo läßt fie ftdj, fo fontpl^iert fie 
ift, hoch auf brei Ejauptelementc surüefführen* Das <§r ft e teilt fie 
mit ber gricdfifchen Kirche; es ift ber Kathol^isntus* Das 
3meite ift ber lateinifche (Seift unb bas in ber römifchen Kird]c 
fich fortfefcenbe röntifchc IDeltretd]* Das britte ift ber (Seift 
unb bie 5 römntigfeit Kugiiftin’s* Kuguftin hut bas innere Cebett 
biefer Kirche, fofern es religiöfes Ceben unb religiöfes Denfert ift, 
in ntaßgebenber XDeife bestimmt* Nicht nur in vielen Nachfolgern 




155 


v 

ift er immer wieber aufs neue auf getreten, fonbern, non ihm er* 
tvedt unb entjünbet, finb 3ahlreiche HTänner erfebenen, fetbftänbig 
in ihrer 5*ömmigfcit unb Geologie unb hoch (Seift von feinem 
(Seift. 

X)iefe brei (Elemente, bas fatholifdje, bas latcinifche im Sinne 
bes röntifchen XDeltreichs unb bas auguftinifche, fonftituieren bie 
(Eigenart biefer Kirche. 

Was bas erfte betrifft, fo mögen Sic feine Hebeutung baran 
erfennen, baß bie römifche Kirche ^eute noch jebett griediifcheit 
(E^riftcn ohne weiteres aufnimmt, ja fich, mit jeber gried]ifd]en 
Kirchengemcinbe fdfort „uniert", fobalb fte nur ben papft aner* 
fennt unb fich feiner apoftolifchen ©berfyofyeit unterwirft Was 
man fonft noch non ben (Sriedjen verlangt, ift gan3 unbebeutenb; man 
läßt ihnen fogar ben (Sottesbienft in ber Hlutterfprache unb bie 
verheirateten priefter. Bebenft man, weiter „Heinigung" fich bie 
Proteftanten unterwerfen muffen, bevor fie in ben Schoß ber röntifchen 
Kirche aufgenommen werben fönnen, fo fpringt ber Unterfchieb in 
bie Uugcn. Hun fann fich aber hoch eine Kirche nicht fo fehr 
über fich felbft täufchen, baß fie bei ber Aufnahme neuer ZHit- 
glieber, 3umal aus einer anbern Konfeffion, wefcntliche Hebingungen 
außer acht ließe. Es muß atfo bas Element, welches bie römifchc 
Kirche mit ber griechifchen teilt, ein fo bebeutenbes unb entfeb.ci* 
benbes fein, baß es unter ber Porausfeßung ber Uncrfennung ber' 
päpftlichen ©berhoheit ausreicht, um bie Union 3U ermöglichen. 
3 n ber Chat finb bie Stüde, bie ben griechifchen Kathot^ismus bc* 
ftmtmen, fämtlich auch in bem römifd]en 3U finben unb werben 
von ihm unter Umftänben ebenfo energifch geltenb gemacht wie von 
jenem, ©er ©rabitionalismus, bie ©rthobo^ie unb ber Hitualismus 
fpielen h^r <$an3 biefelbe Holle wie bort, fofern nicht „höh^e Er* 
wägungen yy eingreifen, unb von bem HTönchtum gilt bas nämliche. 

Sofern nicht „höhere Erwägungen" eingreifen — bamit finb 
wir bereits 3ur ^Betrachtung bes 3weiten Elements übergegangen, 
nämlich bes lateinifchen (Seiftes im Sinne ber röntifchen K)cltherr* 
fchaft. Sehr frühe fchon hat in ber abenblänbifchen Hälfte ber 
Ehtiftenheit ber lateinifche (Seift, ber (Seift Hom’s, eigentümliche 
Htobiftfationen bes allgemein Katholifchen bewirft. Schon feit bem 
Unfang bes britten 3 ah^h un ^ cr i 5 fehert wir, baß bei ben latei* 
nifchen Pätern ber (Sebanfe auffommt, bas f}eil — mag es wie 
immer bewirft unb befdjaffen fein — werbe in 5atm eines'Per- 


156 


träges unter beftimmten Bebingungen unb nur nach Maßgabe 
iB^rcr Beobachtung uerliehen, es fei „salus legitima“; in ber 5eft* 
ftellung biefer^ Bebingungen habe bie (Sottheit ihre Barmher3igfeit 
unb Bachficht belunbet, aber um fo eiferfüdjttger wache fie über 
ihre Befolgung* ferner, ber ganje 0ffenbarungsinhalt ift „lex“, 
bie Bibel fomohl als bie Erabition. IDeiter, biefe Crabition hängt 
an einem Beamtenftanb unb an ber richtigen Succeffton biefer 
Beamten. Die „Ulyfterien" aber ftnb „Saframente", b. h* einer* 
feits ftnb fie oerpffichtenbe ^anblungen, anbererfeits enthalten fie 
beftimntte (Snabenftüde in genau umfehrieberter 5 orm unb in. prä3i* 
fierter Knmenbung. XDeiter, bie Bußbis3iplin ift ein rechtlich ge* 
orbnetes Verfahren, welches ftch an bie pro3effe im «gitnlrecht unb 
bei ber Beleibigungsflage anlehnt. Enblid], bie Kirche ift Hechts* 
an ft alt; fie ift bas nid?t nur neben ihrer 5unftion, bas bjeil 3U 
bewahren unb aus3ufpenben, fonbern um biefer'^unftion willen 
ift fie Hechtsanftalt. 

Hechtsanftalt aber ift fie als Der faßte Kirche. W'vc .muffen 
uns über biefe Derfaffuitg fur3 orientieren; ihre (Srunblagen ftnb 
ber öftltchen unb weftlichert Kirche genteinfemt. Hachbent ftch ber 
mottarchifd^e Epiffopat entwickelt h a *te, begann bie Kirche ihre 
Derfaffung an bie ftaatliche Kbntinift ratton ait3ulehnen. Der HTetro* 
politanoerbanb, an beffen Spiße in ber Hegel ber Bifchof ber pro* 
uin3ialhauptftabt ftanb, entfpradj ber pror>in3iaIeit (Einteilung bes 
Beides. Darüber hinaus entwickelte ftch im 0 rient bie kirchliche 
Derfaffung noch um eine weitere Stufe, htbem fie ftch' an bie biofle* 
tianifdjc Beides einteilung, bie große (Sruppen von prot>in3en 3ufamnten* 
faßte, anfehloß. So entftanb bie patriard^atsuerfaffung, bie feboch 
nicht gatt3 ftreng burchgeführt unb burd] artbere Bückftchten teil* 
weife burchfreu3t worben ift. 

3 m Kbenblanb kam es nicht 3U einer Einteilung in patri* 
ard^ate; bagegen trat etwas gan3 anberes ein: bas weftröntifche 
Heid] ging im fünften 3 a h r h un kert an innerer Schroäche unb burd? 
bie Einfälle ber Barbaren 3U (Srunbe. Was r>om Bömtfchert nach* 
blieb, bas rettete ftd] in bie römifche Kirche — ber orthobo^e (Staube 
gegenüber bem arianifchen, bie Kultur, bas Hecht* Sich 3um 
römifd]en Kaifer auf 3U werfen unb in bas leer geworbene (Sehäufe 
bes 3 mperiums eirt3U3iehert, bas wagten aber bie Barbarenhäupt* 
linge nicht; fie grünbeten ihre eigenen Heiche in bert promten. Unter 
biefen Umftänben erfdjien ber römifche Bifchof als ber X}üter ber 








/ 


— 157 — 

Bergangenheit uttb als ber Pjort ber gufuttft* Überall in beit r>on 
beit Barbarett occupiertett promn^en — and? in folcheit, bie früher 
ihre Selbftänbigfeit troßig gegenüber Hont behauptet ^atfen — 
bltcfteit nun Bifchöfe uttb £aien auf ihn* Was Barbarett unb Krtaiter 
itt ben promten att Hömifdiettt beftehett ließen — uttb es war nicht 
weniges —, würbe uerfirchlicht uttb sugleich unter bett Schuß. bcs 
römifchett Bifchofs geftellt, bes oornehntftett Homers, feit es einen 
Kaifer nicht mehr gab* 3 n ^ om aber faßen im fünften 3aEp> 
hunbert HTänner auf bent bifd]öf liehen Stuhl, bie bie Seichen ber 
Seit uerftanben uttb ausnußtett* Unter ber l^anb fchob fich fo 
bie röntifche Kirche att bie Stelle bes rötitifchen Welt* 
reichs; itt ihr lebte biefes Heich thatfächlich fort; es ift nicht 
untergegangen, fottbent hat ftch nur nerwattbelt* XBenn wir behaupten 
— unb 3war noch für bie (Segettwart gültig —, bie röntifche Kirche fei 
bas burch bas (Evangelium geweifte alte röntifche Heid), fo ift bas 
feine „geiftreiche" Bemerkung, fonbent bie Knerfettnung eines gefchicht* 
liehen Chatbeftanbes unb bie 3utreffenbfte unb. frud*tbarfte (Zfyaxat 
teriftif biefer Kird]e* Sie regiert noch immer bie Pölfer; ihre päpfte 
herrfchen wie (Erajatt uttb Ularf Kurei; an bie Stelle non Hontulus 
unb Hemus jtnb petrus unb paulus getreten^ an bie Stelle ber 
profonfuln bie £r3bifchöfe uttb Bifchöfe; ben Legionen entfprechen bie 
Scharen von prieftern uttb HTönchen, ber faiferlichen Ceibwadje 
bie 3 efuiten* Bis in bie Details hinein, bis 5U eiit3elnen Hechts* 
orbnuttgen, ja bis 3U bett (Sewänbern läßt ftch bas ^ortwirfen bes 
alten Heichs unb feiner^ 3 n f^ u ^ onen »erfolgen* 0 as ift feine Kirche 
wie bie evangelifchen (Semeinfchaften ober wie bie Dolfsfirchen bes 
0 rients, bas ift eine politifdje Schöpfung, fo großartig wie ein 
IPeltreich, weil bie ^ortfeßung bes römifdjen Heid]s* 0 er papft, 
ber ftch //König" nennt unb „Pontifex maximus“, ift ber Hachfolger 
(£äfar r s* 0 ie Kirche, fchon im 3 * unb % 3 ahrh un ^ert 9 an 5 »ott 
römifehern (Seift erfüllt, hat bas römifche Heich in ftch wieberher* 
geftellt* 3 n allen Sah^hnnberten feit bent 7 * uttb 8* haben es 
patriotifche Katholifen in Hom unb 3 talien nicht anbers verftanben* 
Kls (Sregor VII. in ben Kampf mit bent Kaifertunt trat, feuerte ihn 
ein italienifcher prälat alfo att: 

Bintm bes erften Kpoftels Schmert, 

petri glühenbes Schwert, 3ur f}anb! 

Brich bie HTacht unb ben Hngeftüm 


158 


Per Barbaren: bas alte 3 od? 

Cag fie tragen für immerdar! 

Siel?’, tüte groß bie (Bemalt bes Banns: 

IPas mit Strömen t>on Kriegerblut 
(Eiitfttnals HTarius’ E?elbenmut 
Unb bes 3 ultus Kraft erreicht, 

IPirfft bu jet$t burd? ein letfes ffloxt 

2Xom, von neuem burd? bid? erf?öf?t, 

Bringt bir fd?ulbigen Panf; es bot 
Bid?t ben Siegen bes Scipio, 

Keiner £l?at ber Quiriten je 
IPof?lt>erbienteren Krait3 als bir! 

XPcr mtrb l?ier aitgerebet, ein Bifd?of ober ein Cäfar? 3 d? 
benfe ein Cäfar ober r>ielntef?r ein priefterlid?er (Eäfar; fo mürbe es 
etnpfunben, unb fo mirb es nod? f?eute empfunbem (Er bel?errfd?t 
ein Heid? — alfo ift es and? ein Perfud? mit untauglichen XPaffen, 
biefes Heid? blo§ mit bem Hüfoeug bogmatifd?er polemif an3ugreifen> 
Pie urtgef?euren Konfequen^eri ber £f?atfad?e: bie fat£?olifd?e 
Kird?e ift bas rön.nfd?e IPeltreid?, vermag id? f?ier nid?t bar3ulegen. 
Hur ein paar Folgerungen, meld?e bie Kird?e felbft 3ief?t, feien an* 
gefül?rt Piefer Kird?e ift es ebenfo mefentlid?, Hegierungs* 
gemalt aus3uüben, mie bas (Evangelium 3U verfünbigetu 
Pas „Christus vincit, Christus regnat, Christus triumphat“ ift 
politifd? 3U verfielen: er I?errfd?t auf (Erben, inbern feine von Hont 
geleitete. Kird?e f?errfd?t, unb 3mar burd? Hed?t unb (Bemalt, b, l?. 
burd? alle bie 2 Tcittel, beren ftd? bie 5 taaton bebienen* (Es foll bal?er 
and? feine F^ömmigfeit geben, bie ftd? nid?t allem 3ut>or biefer papft* 
fird?e untermirft, von il?r approbiert mirb unb in ftetiger Kbf?ängig* 
feit von il?r bleibt Piefe Kird?e lel?rt il?re „IXntevtfyanen" alfo 
fpred?enf„XPenn id? alle (Bel?eimniffe mügte unb f?ätte allen (Blauben, 
unb mentt id? alle meine ^abe ben Krmen gäbe unb liege meinen 
Ceib brennen unb I?ätte bie (Einheit in ber Ciebe nid?t, bie allein 
aus bem unbebingteit (ßel?orfam gegen bie Kird?e fliegt, fo f?ättc; 
id? nid?ts/ 7 Klier (Slaube/ alle Ciebe, alle Cugenben, felbft bie 
Hlartyriert ftnb augerf?alb ber Kird?e mertlos* Hatürlid? — aud? 
ein irbifd?er Staat fd?ägt nur bie Perbienfte, bie man ftd? um il?n 








159 


felbft erroorben h<*t Diefer 5 taat aber ibentifoiert fid? mit bem 
Jqimmelreid?; im übrigen oerfäB?rt er rote anbere Staaten auch» 
Don B^ter aus mögen Sie felbft alle Hnfprüd?e ber Kird?e ableiten; 
fte ergeben fid? oB?rte Sd?roierigfeit Kud? bas E^orbttantefte er» 
fd?eint als bas Selbftoerftänblid?e, fobalb nur bie beiben 0 berfäße 
richtig finb: „Die römtfd?e Kirche ift bas Heid? < 5 ottes", unb „bie 
Kirche muß roie ein irbifd?er Staat regieren/ Daß auch d?riftlid?e 
Hlotioe in biefe g'anje EntroidEIung mit hinein gefpielt haben — 
ber XDille, bie d?riftlid?e Heligion toirflid? mit bem Ceben in Derbin» 
bring 3U feßen unb alle DerB?ältniffe oon ihr burd?bringctt 3U taffen, 
foroie bie Sorge um bas Jqeil ber ein^elnen unb ber Dölfer —, foIB 
nicht geleugnet toerben* XDie oiele ernfte fatB?oltfd?e (Ehriften hüben 
toirflid? nichts anberes getooEt, als bie b?errfd?aft Chrifti auf (Erben 
auf^urichten unb fein Heid? 3U bauen! KEein fo geroiß fte burd? 
biefe Hbftd?t unb bie (Energie ihrer Krbeit ben (5ried?en überlegen 
geroefen finb, fo geroiß ift es ein fd?roeres Hcißoerftänbnis ber Kn» 
roeifung £B?rifti unb 2lpofteI, bas Heid? (Sottes burd? politifd?e 
HTittel h^beiführen unb bauen 3U rooEen* Diefes Heid? fennt feine 
anberen Kräfte als religiöfe unb fittliche unb fteht auf bem Hoben 
ber Freiheit* Die Kirche aber, bie roie ein irbifd?er Staat auftritt, 
muß alle HTittel besfelben, alfo aud? oerfd?Iagene Diplomatie unb 
(Eeroalt, braud?ett; benn ber irbifd?e Staat, felbft ber Hedjtsftaat, 
muß unter Untfiänben 3um Hnred?tsftaat toerbert Die (Entroidtung, 
bie bie Kirche als irbifd?er' Staat genommen B?ut, mußte fte bann 
fotgered?t bis 3ur abfoluten HTonarchie bes papftes unb bis. 3ur 
Unfehlbarfeit besfelben führen; benn bie HnfeB?lbarfeit bebeutet in 
einer ir£>ifd?en CB?eofratie im (ßrunbe nid?ts anberes als bas, roas 
bie ooEe Souoeränetät in bem IDeltftaate bebeutet Daß aber bie 
Kirche oor biefer lebten Konfequett3 nid?t 3urücfgefd?redt ift, ift ein 
Heroeis, in roetd?em Hlaße bas ^eilige'in ihr oerroeltlid?t ift 

Daß nun biefes 3roeite (Element bie d?arafteriftifd?en <§üge bes 
KathoIi3ismus im Kbenblanb — - ben tErabitionalismus, bie 0 rtB?o» 
bo^ie, ben Hitualismus unb bas H 1 önd?tum — burchgreifenb ner» 
änbern mußte, ift offenbar* Der Crabitionatismus gilt rtad? toie 
vox ; roenn aber ein (Element in ihm unbequem geroorben ift, fo 
fäEt es, unb ber XDiEe bes papftes tritt an bie SteEe: „la tradition 
c’est moi“, foE pius IX. gefagt B?<*ben*. ferner bie „rechte £eB?re" 
ift nod? immer ein Iqauptftücf; aber bie Kird?enpolitif bes papftes 
permäg fie faftifd? 3U änbern; burd? fluge Diftinftionen h a * f° 


160 


manches Dogma einen anbern Sinn erhalten; and? neue Dogmen 
tnerben aufgeftellt; bie Cehre ift in nieler ffinftcht arbiträr ge* 
tnorben, unb eine ungefüge 5 ormeI in ber (Slaubenslehre fann burch 
eine fonträre Knweifung in ber (Ethif unb im Beichtftuhl aufgehoben 
werben» Überall fönnen bie feften Cirtien ber Dergangenheit 3U 
fünften gegenwärtiger Bebürfniffe aufgelöft werben» Dasfelbe gilt 
wie vom Hitualismus fo auch rom HTönchtum» 3<h fann h^ 
nictjt nacbweifen, in welchem HTaße, feineswegs immer nur 3U feinem 
Bachteil, bas alte UTönchtünt fich kiev neränbert, ja fich in großen 
(Erlernungen gerabesu in fein (Segenteil nerwanbelt h<*t» Diefe 
Kirche befißt in ihrer ©rganifation eine 5 ähigfeit, fich bem ge* 
fchi'd}tlid]en (Sang ber Dinge an3upaffen, wie feine anbere: fie bleibt 
immer bie alte — ober erfcheint hoch fo — unb wirb immer neu» 

Das britte (Element, welches ben (Seift biefer Kirche charaf* 
teriftifd) beftimmt h<*h ift bent eben befprodjenen entgegengefeßt unb 
hat fich bodj neben ihm behauptet: es ift burch bie Hamen 
Kuguftin unb Kuguftinismus be3eignet» 3™ 5 » 3 öh* : h un ^ er ^ 
in berfeiben geit, in welker biefe Kirche fich anfchidte, bas röntifche 
Heich 3U beerben, fyat fie einen religiöfen (Senius von außerorbent* 
lieber Ciefe unb Kraft erlebt, ift auf feine (Empfinbungen unb 3 been 
eingegangen unb nermag fie bis auf ben heutigen Cag nid^t ab* 
3uftoßen» (Es ift bie wichtigfte unb wunberbarfte Chatfache in ihrer 
(Sefchichte, baß fie gleichseitig cäfarifch unb auguftinifch geworben 
ift, XPas ift bas aber für ein (Seift unb eine Hichtung gewefert, 
bie fie burch Kuguftin empfangen h<*l? 

Bun 3unäd]ft, Uuguftin’s 5 römmigfeit unb Cheologie 
bebeuteten eine eigentümliche XDiebererwedung ber pau* 
linifchen (Erfahrung unb Cehre von Sünbe unb (Snabe, 
non Schulb unb Hed^tfertigung, non göttlicher präbefti* 
nation unb menfd]lid)er Unfreiheit» XDährenb biefe (Erfah* 
rung unb Cehre in ben nergangenen 3uh^h un ^^en nerloren ge* 
gangen waren, erlebte Uuguftin in feinem 3 uneren bie (Erlebniffe 
bes Upoftels paulus, brachte fie auf ähnliche H)eife wie biefer 3ur 
Kusfprache unb faßte fie in beftimmte Begriffe» Don bloßer Bgch s 
ahmung ift hter nicht bie Hebe — bie Unterfchiebe finb im ein3elnen 
höd]ft bebeutenb, sumal in ber Uuffaffung ber Hechtfertigung, bie 
fich für Kuguftin als ein ftetiger pro3eß barftellte, bis bie Ciebe 
unb alle Cugenben bas ^er3 gan3 ausfüllen; aber wie bei 


161 


Paulus ift alles inbiuibuell erlebt unb alles innerlich gebad)t. JPeitn 
Sie feine Konfefftonen lefen, fo »erben 5 ie troß aller Hhetorif, bie 
nicht fehlt, erfennen, baff hier ein (Benins fpricbt, ber (Sott, ben 
geiftigen (Sott, empfunben bat als ben fets unb als bas giet feines 
Cebens, ber nach ilun bürftet unb außer tbtrt nichts begehrt. Unb 
»eiter, all bas, roas er Cräbes unb furchtbares an ftch erlebt hat, 
alle gerfpaltung mit ftch felbft unb ben ganzen Dienft bes r>er= 
gänglidjen U)efens, bas „ftücfmeife Verfallen an bie IPelt" unb 
bie mit bem Perluft ber Freiheit unb Kraft bejablte fiigenfucfjt — 
bas führte er auf eine JPur3el-3urücf: Sünbe, b. h- UTangel an 
(Sottesgemeinfchaft, (Sottlofigfeit. IPieberum aber bas, roas ihn 
losgeriffen hat aus ber PerfTcchtung mit ber IPelt, aus ber <£igen« 
fucht unb bem inneren Perfall, »as ihm Kraft,»Freiheit unb ein 
<£u>igfeitsbetxmßtfein gegeben hat, bas nennt er mit paulus (Snabe. 
UTit ihm empfinbet er auch, öaß fie gan3 unb gar (Sottes IPerf 
ift, baß er fte aber burch unb an Chrifius gewonnen hat unb als 
Sünbennergebung unb (Seift ber Ciebe befißt. Piel unfreier unb 
ffrupulöfer jeboch als ber. große Kpoftel achtet er auf bie 5ünbe — 
bas giebt feiner religiöfen Sprache unb allem, roas non ihm 
ausgegangen ift, eine gans befonbere färbung. „3ch laffe, was 
bahinten ift, unb ftrecfe mich nach bem, was uor mir liegt" — 
biefc apoftolifche IHarimc ift nicht bie Kuguftin’s. (Setröftetes 
Sünbenelenb — biefe färbe behält fein gan3es Chriftentum. 
e>unt (Befühl ber herrlichen freiheit ber Kinber (Sottes hat er ftch 
nur feiten aufsufchwingen uermocht, unb t»o er es oermochte, t>on 
ihr nicht fo 3eugen fönnen wie paulus. Kber bie €mpfinbung bes 
getröfteten Sünbenelenbs hat er mit folcher Kräftigfeit bes (Sefühls 
unb in fo hinreißenben IPorten ausbrücfen fönnen tr>ie feiner uor 
ihm; noch mehr — er hat mit biefer Kusfage bie Seelen r>ott 
Millionen fo ficher 5U treffen, ihre innere Perfaffung fo genau 3U 
befchreiben unb ben Croft fo einbrucfsuoll, ja übernxiltigenb ror= 
3uftellen vermocht, baß feit nun 1500 3 af)ren bas immer »ieber 
erlebt wirb, was er erlebt hat. 23 is auf ben heutigen Cag ift 
im KathoÜ3ismus bie innere, lebenbige frömmigfeit 
unb ihre Kusfprache gan3 »efentlich auguftinifdj. Pon 
feinen <£mpftnbungen entsünbet, empfinben fie wie er unb benfen 
mit feinen (Bebanfen. Sei uielen proteftanten, unb nicht ben 
fchlechteften, ift es nicht anbers. -Piefes (Sefüge non Sünbe unb 
(Bnabe, biefes 3 ueinanber non (Befühl unb Cehre fcheint eine 

£?arnacf, JPefen b. Ctjriflentums. * 



162 


unoermüftlid)c Kraft 311 befißen, ber bic <§eit ’ nichts ansuhaben ocr* 
mag; biefes fd)mer3lid) s felige (Empfinben bleibt benen unoergeffen, 
bic cs einmal erlebt fyaben, unb, menn fie fid) aud) felbft nad)träg* 
lid) non ber Heligion eman3ipiert blähen, ift es ihnen eine ^eilige 
(Erinnerung* 

Dicfen ,/2tuguftin" h a * bie abcnblänbifche Kirche, eben als 
fie fid) 3um Eintritt ber £)errfd)aft anfd)icfte, in fid) aufgenommen, 
auf nehmen müffen* Sie mar if)m gegenüber gan3 mehr!os;fie 
hatte ihm aus ihrer lebten Dergangenhcit fo menig innerlich Wett* 
nolles entgegen3ufe^en, baß fie millenlos fapitulierte* • So ift bie 
erftaunlicfye „complexio oppositorum“ im abenblänbifd)en Katfyoli* 
3ismus entftanben: bie Kirche bes Kitus, bes Ked)ts, ber politif, 
ber U)eltherrfd)aft, unb bie Kirche, in meld)er eine l>öd]ft inbi= 
oibuelle, sarte, fublimierte Sünben* unb (Snabenempftnbung unb' 
’£e£)re in Xüirffamfeit gefeßt mirb* Das Üußerlichfte unb bas 
3nnerlid]fte follen fid) oerbinben! (5att3 aufrichtig fonnte bies non 
21 nfang an nicht gefd)et)en; bie innere Spannung unb ber U)ibcr= 
ftreit mußten fofort beginnen; bie (Scfd)id)te bes abenblänbifchen 
Katt)0Ü3ismus ift non ihm erfüllt* 2 lber bis 3U einem gemiffen 
(Grabe finb bie (Gegenfäße oereinbar, menigfiens in benfelben 
UTenfchen oereinbar* Das be3eugt fein (Geringerer als 21 uguftin 
felbft, ber aud) ein entfd)loffener Kirchenmann gemefen ift, ja bas 
Knfefyen unb bie UTad)t ber äußeren Kirche famt ihrer gan3cn 
2 lusftattung aufs fräftigfte geförbert 1 )at* Wie ihm bas möglich 
gemefen ift, bas oermag id) l)ier nicht aus3ufül)ren; baß innere 
XDiberfprüd)e babei nicht fehlen fonnten, liegt auf ber f}anb* Wiv 
fonftatieren nur nod) bas Doppelte: erftlid), baß bie äußere Kirche 
ben innerlichen 21uguftinismus immer mehr 3urücfgebrängt, umge* 
-manbelt unb mobif^iert hdt, ohne ihn bod) gan3 austilgen 3'u 
formen; jmeifens, baß alle bie großen per fäniid)f eiten, bie in ber 
abeitblänbifchen Kirche immer mieber neues £eben ent3Ünbet unb 
bie 5römmigfeit gereinigt unb oertieft herben, bireft ober inbireft 
oon 21uguftin ausgegangen finb unb fid) an ihm gebilbet haben* 
Die lange. Kette fatl)olifd)er Reformer oon 21 gobarb unb (Elaubius 
oon {Turin im 9 * 3 af)rhanbert bis 5U ben 3 anfeniften bes \ 7 . unb 
\8. 3 ahrh u nberts unb über fie fprtau^Tt auguftinifd)* Unb wenn 
bas tribentinifd)e Kon3iI mit Hcd)t in oieler £jinfid)t ein Heform,, 
fon3il genannt merben barf, menn bort bie £el)re oon Sünbe, 









163 


Buße uttb ( 5 ttabe viel , tiefer unb innerlicher formuliert rvorben ift, 
als man nad? bem Staube ber fatl?olifchen O?eologie tut ^ uttb 
15 * 3ct^^nbert ertvartett burfte, fo verbanft matt bas lebiglid? 
bem ^orfrvirfen Kuguftin’s. Die Kirche B?al freilich ihrer tvefent* 
lief? nad? Kuguftin entworfenen (Eitabcttlehre feine präzis bes Beid?t* 
ftufjls 3ugeorbnet, bie jette Ce^re völlig umvirffant 3U machen broht 
2(bcr fo roeit fie if?re (Bremen and? 3ief?t, um alle bie bei fid? 
bemalten 31t fönnen, bie fid? nid?t tviber fie auflef?tten, fo bulbet fic bod? 
nid?t nur fold?e, tvelchc Sünbe unb ( 5 nabe beurteilen tvie Kuguftin, 
fottbertt fie rvünfd?t, baß tvomöglid? jeber ben (Ernft ber Sünbe uttb 
bie Seligfeit, (Sott att3ugefyören, fo ftarf etttpfinben möge tvie er* 

Dies finb bie tvefentlid?en Hlomente bes römifd?en Katholi* 
5ismus. Sehr nie! anberes märe nod? 3U nennen, aber bie Ejaupt* 
ftücfc finb bamit beseidtnet 

iDir gefeit sur lebten 5?age über: XDeld?e Hlobififatioiten B?at 
bas (Evangelium B^ier erlebt, uttb tvas ift non ihm geblieben? 
Xlnn — baritber braucht es nicht vieler XDorte — in allem, was 
fid? f>ier als äußeres Kird?entunt mit bem Knfprud? auf gött¬ 
liche Dignität barftellh fehlt jeber gufammenhang mit bem 
(Evangelium* (Es B?anbelt fid? nid?t um (Entfettungen, fonbern um 
eine totale Derfef?rung* Die Heligion ift B?*^ i n eine frembe Hid?* 
tung abgeirrt XDie ber morgen!änbifd?e KatB?oli3ismus in mehr 
als einer B?infid?t 3utreffenber in bie gried?ifd?c Heligionsgefd?ichte ein« 
geftellt tvirb als in bie (8efd?id?te bes (Evangeliums, fo muß ber 
römifd?e in bie <5efd?id?te bes römifd?en XDeltreid?s eingeftellt 
tverben* Seine Behauptung, Chriftus fyahz ein Heid? geftiftet, bas 
fei bie rötttifd?e Kirche, uttb er habe biefe Kird?e mit bem Sd?u>ert r 
ja mit 3tx>ei Sd?tvertern ausgeftattet, / bem geiftlid?en unb bem tvett> 
liehen, fäfularifiert bas (Evangelium unb vermag fid? nid?t burd? 
ben Eftttveis 3U beden, in ber H1enfd?heit fotte bod? ®eift 
CB?rifti h err f^ en » Das (Evangelium fagt: „Cf?rifti Heid? ift nid?t 
von biefer XDelt," biefe Kird?e aber bat ein irbifd?es Heid? aufgerid?tet; 
Chriftus verlangt, baß feine Diener nid?t h^f^^t fonbern bienen, 
biefe priefter aber regieren bie £DeI% Chriftus führt feine 3 iinger 
aus ber politifd?en unb ber ceretnoniöfen Heligion heraus unb 
ftettt jeben vor bas 21 ngeftd?t (ßottes — ( 5 ott unb bie Seele, bie 
Seele unb ihr ( 5 ott —, fykx bagegen rvirb ber HTettfd? mit un3er* 

11 * 


f 


164 


reizbaren Ketten an ein irbifches 3 ttftitut gebmtben unb foll ge* 
horchen; bann erft mag er ftch (Sott nahen. cEirtfi haben bie 
römifchen CB^riften ihr Blut uergoffen, weil fte bem (Edfar bie 2 lm 
betung oerweigerten unb bie politifche Beligion r>er[cbmäB^ten; Bleute 
beten fte 3war einen irbifcfyen fjerrfcher nicht gerabeju an, aber fte 
haben ihre Seelen bem BTachtgebot bes römifchert papftfönigs 
unterworfen. 





f 









SiinfjBljttfB ©nrlßfung. 


4 


3 )er römifche Kathol^ismus als äußere Kirche, als ein Staat 
bes Hechts unb ber (Seroalt, fyat mit bem <£pangelium nichts 311 
tB^un, ja roiberfpricht ihm grunbfäglich: barauf B^aben roir am 
5 chlug ber Besten DorBefung hwgeroiefen* 'Dag biefer Staat ftcB? 
aom (£pangelium B^er einen göttlichen Stimmer borgt, unb bag 
biefer Schimmer ihm augerorbentlich nüglid? ift, Bann bas Urteil 
nicht umftogen* Die Dermifchung bes (SöttBichen mit bem XDelt* 
" liehen, bes Önnerlichften mit bem politifchen ift ber tieffte Schabe, 
röeil bie (Seroiffen geBnechtet roerben unb bie Ueligion um ihren 
€rnfts gebracht roirb — mug fte ihn nicht perlieren, roenn alle 
möglichen KTagregeBn, bie ba3u bienen, bas irbifche Heich ber 
Kirche 3U erhalten, als ber göttBiche U)iHe proBBamiert roerben, 
3* 3 * bie Souperänetät bes papftes? Uber man roeift barauf hin, 
bag eben burch bie feBbftänbige Haltung biefer Kirche bie Heligion 
im Ubenblanbe bapor gefdjügt roorben fei, gan3 bem DoIBstum ober 
bem Staate unb ber poB^ei 3U perfaBBem Diefe Kirche h<*h fo 
fagt man, ben hoBferc (SebanBen ber PoBBen SeBbftänbigBeit ber HeBi* 
gion unb ihrer UnabhängigBeit pom Staat aufrecht erhalten* ZHan 
Bann bas 3ugeben; aber ber preis, ben bas Ubenblanb für biefen 
Dienft h a * 3 a h^ n muffen unb noch immer 3ahlt, ift pieB 3U hoch ♦ 
ben DöIBern broht ber innerliche 3 anBerott, fo grog ift ber Cribut, 
unb ber Kirche — für fte ift bas Kapital, bas fie geroonnen h<*h 
in XDahrheit ein freffenbes KapitaB* Cangfam poBl3ieht fich ein 
pro3eg ber Derarmung ber Kirche bei aBBem fcheinbaren <§uroachs 
an Ulacht, Bangfam aber ftcher* (SefBatten Sie mir h* er einen 
Bur3en (Sjdurs* 




166 


3Dcr bie politifchc £age ins Huge faßt, wie fie eben jefct befteftt, 
.Jjat gewiß feinen (grunb, bie abnehmenbe HTacht ber römifcheu 
Mircbe 311 fonftatieren. IDelchen guwachs bat fie im 19 - 3 ah» 
bunbert erlebt! ' Unb boeb — ein fcharfes Huge gewahrt, baß fte 
längft nicht mehr -über [olcb eine Sülle non Kräften gebietet, wie 
im, \ 2 . unb 3 3. 3aheh un bert. Damals ftanben alle materiellen 
unb geiftigen Kräfte 3U ihrer Verfügung. 3 ntenfir> bat feitbem, 
aufgebalten bureb einige. fur3e (Epochen bes Huffchwungs wie 
3wifchen unb f '620 unb im 19 - gah^hunbert, ein ungc» 

beurer Hücfgang ftattgefunben. Beforgte unb ernfte Katho* 
lifen <uerf)eblen ficb bas nicht; fte wiffen unb erflären, baß' ein 
wichtiger Seil bes geiftigen Befißes, ber sur Ejerrfchaft ber Kircbe 
notwenbig ift, ihr abhanben gefommen fei. Unb weiter — wie 
fteht es mit ben romanifchen Hationen, bie hoch bas eigentliche 
(gebiet ber fferrfchaft biefer römifeben Kirche bilben? dne wirb 
liebe (großmacht ift nur noch eine-emsige non ihnen 3U nennen, 
unb wie wirb es nach einem Hlenfchenalter ausfeben? Diefe 
Kirche lebt'als Staat heute 3U einem nicht geringen Ceil oon ihrer 
(gefehlte, ihrer- altrömifchen unb ihrer mittelalterlichen, unb fte lebt 
als bas römifche Heid) ber Homanen; Heicbe aber leben nicht ewig. 
H)irb bie Kirche fähig fein, ftch in bem 3ufünftigen Umfehwung 
ber Dinge 3U behaupten, wirb fte bie fortfehreitenbe Spannung mit 
bem geiftigen £eben ber Dölfcr ertragen, wirb fte ben Hücfgang 
ber romanifchen Staaten überbauern? 

Doch taffen wir biefe Stagen auf ficb beruhen. Erinnern wir 
uns uielmehr, baß biefe Kirche in ihrem Hlönchtum unb ihren 
religiöfen Dereinen, r>or allem aber Danf bem Huguftinismus 
ein tiefes unb lebenbiges dement in ihrer Hütte hat. gu allen 
geiten hat fie Ejeilige erseugt, foweit HIenfchen fo genannt werben 
fönnen, unb ruft fte noch jeßt beroor. (gottuertrauen, ungefärbte 
Demut, (gewißfjeit ber dlöfung, Eingabe bes £ebens im Dienfte 
ber Brüber ift in ihr 3U finben; bas Kreu3 Chrifti nehmen 3 ahl-- 
reiche Brüber auf ficb unb üben 5ugleicf) ienc Selbftbeurteilung unb 
jene Sreube in (gott, wie fie paulus unb Kuguftin gewonnen haben. 
Selbftänbiges religiöfes £eben* en^ünbet ficb in ber Imitatio Christi 
unb ein Setter, bas mit eigener Sfantme brennt. Das Kirchentum 
hat bie Kraft bes dtangeliums nicht 3U unterbrüefen uermodjt; 
troß ben furchtbarften £aften, bie auf basfelbe geworfen ftnb, bringt 
es immer wicber burch. Hoi; immer wirft es wie ein Sauerteig. 


t 



167 


llrtb mie farm man ocrfennen, baß biefe Kirche bicfyt neben einer 
la^en XTToral, beren fie fid] oft genug fchulbig gemacht hat, burch 
ihre großen mittelalterlichen Geologen bas ©uangeliunt fruchtbar 
auf oiele Perhältniffe bes Cebens angemenbet unb eine chrift 
liehe ©thif gefchaffen hat? unb anbersmo 'hat fie bemäh*d, 

baß fte eoangelifche ©ebanfen nicht nur fo mit fich führt, mie ein 
51uß ©olbförner, fonbern baß fte mit ihr oerbunben ftttb unb fich 
in ihr meiter entmidelt haben, Per unfehlbare papft, bet: „gpo* 
ftolifch’röntifche polvthcismus" ber fjeiligenuerehrung, blinber ©e* 
borfant unb ftumpfe Peootion — fie fcheinen alle 3 nnerlichfeit 
erftidt 3U h oben, unb hoch finb auch in biefer Kirche Chriften 31t 
finben, mie fie bas ©uangelium ermedt, ernft unb liebeuoll, erfüllt 
üon 5^ube unb Rieben in ©ott ©üblich, nicht bas ift ber Schabe, 
baß fich bas ©uangelium überhaupt mit politifchen formen r>er* 
bunben hat — XHelanchthon mar fein Perräther, als er ben papft 
anerfennen mollte, mentt biefer bie reine Perfünbigung bes ©oan* 
geliums suließe —, fonbern er liegt in ber Sanftififation bes 
politifchen *mb in ber Unfäbigfeit biefer Kirche, bas ab3uftreifen, 
mas einft unter befonberen gefd]i etlichen Perhältniffen jmedmäßig 
mar, nun aber 3um Hemmnis gemorben ift 

IPir fommen 3unt lebten Kbfchnitt unferer ParfteHung: 

Wxt djrtflltrffß Religion tm Jhofeßanffemust 

IPer auf bie äußere £age bes proteftantismus, natnentlid] in 
Peutfcblanb fieht, ber mag beim erften Knblid mohl ausrufen: Kd? 
mie fümmerlich! IPer aber bie ©efchidge ©uropas überfchaut uom 
2, 3ah r h un bcrt bis 3ur ©egenmart, ber mirb urteilen ntüffen, baß 
in biefer gan3en ©efchkbfe bie Heformation bes \ 6 . 3ahrh un berts 
bie größte unb fegensreichfte Bemegung gemefen ift; felbft ber lim* 
fchmung beim Übergang 3unt 3ah^h un bert tritt hinter fie 3U* 
rüd, XPas mollen alle unfre ©ntbedungen unb ©rfinbungeit unb 
unfre 5 ortf dritte in ber äußeren Kultur gegenüber ber ©hatfache 
befagen, baß heute breißig Millionen Peutfche unb noch t>icl mehr 
Millionen r>on ©hriften außerhalb Peutfchlanbs eine Heligion haben 
ohne priefter, ohne 0pfer, ohne ©nabenftüde unb Zeremonien — 
eine geiftige Heligiott! 

Per proteftantismus muß in erfter Cinie aus feinem ©egen* 



fa^e 51.1m Katholi3ismus verftanben werben, unb 3war ift er ißer 
in boppelter Dichtung 3U würbigen, crftlich als Deformation unb 
3weitens als Devolution» Deformation ift er gewefen in Be3ug 
auf bie Ejeilslehre, Devolution in 3e3ug auf bie Kirche, ihre Kutori* 
tat unb ihren Apparat Dev proteftantismus ift fomit teine fpow 
tane, gleichfant bureb eine generatio aequivoca er3eugte (Erfdjeinung, 
fonbern er ift, wie fchon fein Dame befagt, burch bie unerträglich 
geworbenen DTißftänbe ber fatholifchen Kirche fyewovgevnfen worben 
unb ift ber Kbfchluß einer langen Deifye ihm verwanbter, aber 
unfräftiger Deformier juche bes BTittelalters» Beweift er bereits 
burch biefe gefchichtliche Stellung feine Kontinuität mit ber Der* 
gangenheit, fo tritt biefe noch ftärfer in feiner eigenen, nicht un3u* 
treffenben Behauptung 3U Eage, er fei in Be3ug auf bie Deligion 
fein Deuerer, fonbern h<*be erneuert Kber auf bie Kirche unb 
ihre Autorität gefehen, ift er un3weifelhaft revolutionär aufgetreten» 
Klfo ift er in beiben Be3ief}ungen 5U würbigen» 

\* Deformation, b» h* Erneuerung ift ber proteftantismus 
geweferi in Be3ug auf ben Kern ber Sache felbft, in Besug auf 
bie Deligion unb barum auf bie ^eilslehre» (Es lägt fich bas 
vornehmlich an brei Punften 3eigen» 

(Erftlich: Die Deligion ift hier wieber auf fich felbft 3urüd* 
geführt worben, fofern bas (Evangelium unb bas ihm entfprechenbe 
religiöfe (Erlebnis in ben DTittelpunft gerüeft unb von frember §u* 
that befreit worben finb. Kus bem ungeheuren, weitfdßchtigen (Be* 
füge, bas man bisher „Deligion" genannt hätte, aus jenem (Befüge, 
welches bas (Evangelium unb bas IPeihwaffer, bas allgemeine 
Prieftertum unb ben thronenben Pap ft, ben (Erlöfer (Eh^^ftus unb 
bic ^eilige Kn na umfaßte, ift bie Deligion heremsgeführt unb auf 
ihre wefentlichen ^aftoren rebu3iert worben, auf bas XPort (Bottes 
unb ben (Blauben» Kritifch würbe, biefe (Erfenntnis gettenb ge* 
macht gegenüber allem, was auch „Deligion" fein unb ftch gleich¬ 
wertig mit jenen (Brößen verbinben wollte» 3 etliche wirtlich be* 
beutenbe Deformation in ber (Befchichte ber Deligionen ift in erfter 
£inie ftets fritifche Debuftion; benn im Caufe ihrer gefdßcht* 
liehen (Entwicklung 3ieht bie Deligion, inbem fte ftch ben Perhält* 
niffen anpaßt, fehr viel 5rembes an ftd?, probu3iert mit ihm 3ufammcn 
eine 5 ülle von Zwitterhaftem unb Kpofryphem unb ftellt es not* 
gebrungen unter ben Schuß bes ^eiligen» Soll fie nicht üppig 
verwilbern ober in ihrem eigenen bürren Caube erfttefen, fo muß 








169 


fcer Reformator tommen, ber fte reinigt unb fte auf fid) felbft 
3urücffüfjrt. Dicfe fritifcfje Rebuftion t)at im \ 6 . 3 abrl)unbert 
£utt;er nolljogen, inbem er ftegreid) erflärte: bie d)riftlid)e Religion 
ift einjig gegeben in bem JDorte (Bottes unb in bem innern Er- 
lebnis, melches biefem IDorte' entfprid)t. 

Der 5 m eite punft lag in ber beftimmten 5affung bes „tPortes- 
(Bottes" unb bes „Erlebniffes". 3 cnes „töort" mar ibm nicht 
bie Kirdjenlehrc, aud) nicht bie -Bibel, fonbern bie üerfünbigung 
»on ber freien (ßnabe (Bottes in Ctjriftus, bie ben fdjulbigen unb 
uer3meife[nben RTenfdjen fröhlich unb fclig macht, unb bas „(Er¬ 
lebnis" mar eben bie (ßemißheit biefer (Bnabe. 3 m Sinne Cutters 
faßt fid; beibes in einem Saß 3ufammen: Der 3uperfid)tlid)e 
(ßlaube, einen gnäbigen (Bott 3U haben. Damit — fo hat 
er es erfahren unb fo hat er es geprcbigt — ift ber -innere grnie- 
fpalt im RTenfchen gehoben, ber Drucf jeglichen Übels übermun- 
ben, bas Schulbgefül)l ausgetilgt unb troß ber Unuollfommenheit 
ber eigenen £eiftungen bie (Berni^Ejeit, mit bem heiligen (Bott 
untrennbar uerbunben 3U fein, gemonnen: 

Run meiß unb glaub’ ich’s .fefte, 

3 <h riihm’s aud) ohne Sdjcu, 

Daß (Bott, ber fjödjft’ unb Re fte, 

RTein 5reunb unb Dater fei, 
llnb baß in allen fällen 
Er mir jur Rechten fteh’ 
llnb bämpfe Sturm unb IPcllen 
llnb mas mir bringet lt\'h 

Ridtts anberes foll geprebigt merben als ber gnäbige (Bott, 
mit bem mir burdj-Ehrifius t>erföf)nt finb, unb mieberum nicht 
Efftafen unb Difionen gilt es, fein Überfchmang uon (Befühlen ift 
nötig, fonbern (ßlaube. foll ermecft merben; er foll Rnfang, RTitte 
unb Enbe ber ganzen 5 römmigfeit fein. 3 « ber Korrefponbenj 
uon IDort unb (ßlaube mirb bie „Rechtfertigung" erlebt; fte ift 
barum bas Jjauptftüd ber reformatorifchen Derfünbigung; fte be- 
bcutet nid)ts (Beringeres, als burd) Ehriftus ^rieben unb Freiheit in 
(Bott erlangt 3U haben, £)errfd)aft über bie Hielt unb innere 
Emigfcit. 

Das Dritte enblid) in biefer Erneuerung mar bie mächtige 


170 


llmbilbung, bie nun ber (gottesbienft erleben mugte, ber bes 
Eir^elnen unb ber (gottesbienft ber (gemeinfdjaft. 3 ener — bas 
mar offenbar — fann unb barf nichts anberes fein als Bethätigung 
bes ( 5 laubens. „(gott mill non uns nichts anberes als ben 
(glauben unb mill auch nur burch ben (glauben mit uns fyanbeln": 
biefen Sag hat Cutter un3äh%e Riale mieberholt. Pag ber 
Rlenfd] (gott (gott fein lägt unb ihm bie EE]re giebt, ihn als ben 
Pater an3uerfennen unb an^urufen — nur fo vermag er xfyn 3U 
bienen: KHe übrigen XPege, bie er auffucht, um 3U iE>m 3U fom= 
men unb ihn 3U ehren, finb 3 rrmege, unb alle anberen Be3iehuitgen, 
bie er fnüpfen mül, finb Vergeblich. XPelch eine ungeheure 2TCaffe 
ängftlicher, B^offenber unb B^offnungslofer Perfudje mar nun abge* 
ti]an, unb meid] eine Ummä^ung im Kultus mar bamit gegeben! 
XPas aber von bem (gottesbienft bes Ein3elnen gilt, bas gilt genau 
fo von bem gemeinfchaftlichen. Kud? B]ier hat nur bas XPort 
(gottes unb bas (gebet einen plag. Klles anbere ift 3U oerbannen: 
bie gottesbienftlicge (gemeinbe foll in Pan! unb Cob (gott oerfiin* 
bigen, unb fie foll ihn anrufen. Parüber hinaus giebt es über* 
haupt feinen „(gottesbienft". 

3 n biefen brei Stücfen ift bas, mas in ber Reformation bie 
X}auptfache mar, enthalten.. Um (Erneuerung banbeite es ftdj; 
benn fie be3eid?nen nicht nur, menrt auch in eigentümlicher XPeife, 
eine Rücffehr 3um urfprünglichen C^riftentum, fonbern fie maren 
and] im abenblänbifdjen Katholizismus felbft oorhanben, menn auch 
oerfchüttet unb oerbeeft. 

Beoor mir aber meiter gehen, geftatten Sie mir 3mei fui^e 
Ejdurfe. XPir fagten ebert, -bie gottesbienftliche (gemeinbe bürfe 
ihren (gottesbienft nicht «anbers feiern als burch Perfünbigurtg bes 
XPortes unb burch (gebet. XPir müffen aber nach Rnmeifung ber 
Reformatoren noch hi n 3 u fü^en, bag fie auch als Kirche überhaupt 
fein, anberes Rlerfntal haben foll als bas, (gemeinfehaft bes (glau* 
bens 3U fein, in melcher bas XPort (gottes recht geprebigt mirb — 
über bie Saframente bürfen mir h^r fchmeigen, ba and] fie nach 
Cuther ihre Bebeutung Iebiglich am XPort haben. Sinb aber XPort 
unb (glaube bie einigen Rterfmale, fo fcheinen bie im Rechte 3U 
fein, meld]e fagen, bie Reformation habe bie fichtbare Kirche auf* 
gehoben unb eine unfichtbare an bie Stelle gefegt. Kliein biefe 
Behauptung ift nicht 3utreffenb. Pie Xlnterfcheibung einer ficht* 
baren unb einer unfichtbaren Kirche ftammt aus bem Rcittelalter 





171 


bc$w. fcfyort von Kuguftin. Die, toeld|e bie u>af|re Kirche als „bie 
<§ahl ber präbeftinierten" beftnierten, mußten iBjre oollfontrnenc 
Hnfid|tbarfeit Behaupten* Kber bie beutfchen Reformatoren haben 
fie nid|t fo beftimmt. Wenn fie erflärten, bie Kirche fei eine (5c* 
meinfchaft bes ( 5 Iaubens, in ber bas IDort ( 5 ottes red|t oerfmtbigt 
unrb, fo haben fte bamit alle grobftnnlichen RTerftnale abgelehnt 
unb fo bie ftnnenfällige Sid|tbarfeit allerbings ausgefd|Ioffen; aber 
— um einen Dergleid] 3U braud|en — roer roirb eine geiftigc 
< 5 emeinfd|aft 3. oon gleich ftrebenben 3 üngern ber tDiffenfdjaft 
ober oon Patrioten beshalb für „unfid|tbar" erflären, meil fie 
feine äußeren RTerfntalc befißt unb nid|t mit ben Ringern abge3äl|lt 
roerben fann? Ebettfotpenig ift bie eoangelifche Kirche eine „un* 
fichtbare" ( 5 emeinfd|aft. Sie ift eine ( 5 emeinfd|aft bes ( 5 eiftes, unb 
baher ftcllt fich ih re „Sid|tbarfeit" auf oerfchiebenen Stufen unb 
mit oerfcbiebener Stärfe bar. Es fann RTomcntc geben, in bencn 
fie,r>öllig unerfennbar ift, unb toieberum fo!d|e, in benen fie fo 
fräftig in bie Erfcheinung. tritt a>ie eine finnenfällige ( 5 röße. Klier* 
bings, fo fd|arf umriffen fann fie niemals auftreten toie ber Staat 
oon Denebig'ob^r bas Königreid] 5 ranfreid| — ein großer fatbo* 
lifcher Dogmatifer hat' biefe Dergleichung in Be3ug auf feine Kirche 
für 3utrcffenb erflärt —; aber gl^ Protestant foll man u>iffen, baß 
man nicht einer „unfid|tbaren" Kirche angehört, fonbern einer 
geiftigen ( 5 emeinfd|aft, bie über bie Kräfte oerfügt, toelche geiftigen 
( 5 emeinfd|aften 3uftehen, einer geiftigen ( 5 enteinfd|aft auf Erben, 
bie in bie Emigfeit reicht 

Unb nun bas anbere: £>er proteftantismus behauptet, bie 
d|riftlid|e (5emeinfd|aft ruhe obfeftio allein auf bem Eoangeliutn, 
bas Eoangelium aber fei in ber l\eilxgen Sd|rift enthalten. Don 
Knfang an ift ihm entgegnet roorben, roenn bem fo fei unb babei 
feine Kutorität anerfannt toerbe, bie über ben 3 nhalt bes Eoan* 
geliunts unb feine Ermittelung aus ber h* Schrift 311 entfd|eiben 
habe, fo fei eine allgemeine Dertoirrung bie 5olge, oon ber benn 
auch bie (5efd|id|te bes proteftantismus ein reichliches Zeugnis 
ablege; fyabo jeber bie Befugnis 3U entfcheiben, u>as „ber rechte 
Derftanb" bes Eoangeliutns fei, unb fei er in biefer f}inficht an 
feine Erabition, fein Kon3il unb feinen papft gebunben, fonbern 
übe bas Recht ber freien 5 orfd|ung, fo fönne eine Einheit, eine 
< 5 emeinfd]aft, fur3 eine Kirche überhaupt nicht 3uftanbe fomnten; 
ber Staat miiffc baher eingreifcn, ober, es muffe irgenb eine toill* 




172 


fiirliche Ubgrenjung getroffen merbcn. (ßemiß — eine Kirche mit 
bent Sanctum Officium ber Onquifttion fann fo nietet in bie (Er* 
fd^ciimng treten; ferner, es ift mirflid] unmöglich, B^ier aus ber 
Sad>c heraus eine (ßenteinfehaft äußerlid] abjugrenjen. U)as 
aber ber Staat ober gefd]id]tlid]e Nötigungen getrau traben, fommt 
überhaupt nicht in Netrad]t: bie Nilbungen, bie fo entftanben ftnb, 
heilen int er>angelifd)en Sinn nur uneigentlid] auch „Kirchen". 
3 )cr proteftantismus — bas ift bie löfung — rechnet 
barauf,. baß bas (Evangelium etmas fo (Einfaches, 
(Göttliches unb barum wahrhaft NTenf d] liehe s ift, baß 
cs am f ich er ft cn erfannt mirb, menn man ihm 5rei** 
heit läßt, unb baß es auch in-ben cin5elnen Seelen 
mcfcntlid] biefelben (Erfahrungen unb Überjeu* 
gungen fchaffen m i r b. Dabei mag er fid] oft genug täufchen, 
unb es mag auch nach 3 nbivibualität unb Nilbung recht Derfd]ie* 
benartiges entftehen — bisher ift er bod] in biefer feiner Gattung 
nicht 3U Schanben gemorben. (Eine mirfliche geiftige (ßemeinfehaft 
euangelifcher Chriften, eine gemcinfante Überjeugung in bem U)id]* 
tigften unb in ber Knmenbung besfelben auf bas vielgeftaltete 
leben ift entftanben unb ift in Kraft. Diefe (ßemeinfehaft umfaßt 
bcut|d]e unb außerbeutfehe Proteftanten, lutheraner, Calviniften unb 
anbere Denominationen. 3 n ih ncn allen lebt, fofern fie ernfte 
vEbriftcn ftnb, etmas (ßemeinfames, unb biefes (ßemeinfante ift 
unenblich viel mistiger unb mcrtvoller als alle Derfd]iebenheiten. 
(Es erhält uns evangelifd] unb es fd]üßt uns vor bem mobernen 
E^eibentum unb vor Hiicffaß in ben Katholisismus. VCiehic aber 
bebiirfen mir nicht, ja jebe anbere Reffet meifen mir 3urücf. 3enes 
aber ift feine 5 effel, fonbern bie Nebingung unferer Freiheit. Unb 
wenn man uns vorhält: „ 3 h r 'feib 3erfpalten; foviel Köpfe, foviel 
lehren"’ fo ermibern mir: „So ift’s, aber mir miinfehen nicht, 
baß es anbers märe; im (ßegenteil — mir miinfehen noch mehr 
Freiheit, noch mehr 3^hiuibualität in Kusfprache unb lehre; bie 
gefchid]tlichen Nötigungen ju lanbes* ober freifird]Iid]en Nilbungen 
haben uns nur 3uviel Schranfen unb (ßefeße auf erlegt, wenn fie 
auch nicht als göttliche 0rbnungen verfiinbigt morben finb; mir miin* 
fchen nod] mehr < 3 uverfid]t ju ber inneren Kraft unb 3U ber (Einheit 
fdjaffenben Nlacht bes (Evangeliums, bas fid] im freien Kampf ber 
(ßcifter fidlerer burchfeßt als unter Nevormunbung; mir mollen ein 
geiftiges Neid] fein unb h erben fein Der langen, 3U ben 5 leifd]töpfen 








173 


Ägyptens 3urücf3uf ehren; mohl miffen mir, baß um ber 0rbuung 
unb ber Ziehung millen äußere (ßemeinfchaften entftehen muffen; 
•mir mollen fie gerne pflegen, fomeit fie ihre <§mec?e erfüllen unb 
ber pflege mert finb; aber unfer I}er3 Rängen mir nicht an fte; 
benn fte hefteten Bleute noch, fönnen aber morgen unter anbereu 
politifeben ober Rialen Bebingungen neuen (Sebilben plaß machen; 
mer eine folche „Kirche" B^at, ber fyabe fie, als Blatte er fie nicht; 
unfere Kirche ift nicht bie partifularfirche, in ber mir ftefyen, fon* 
bern bie societas fidei, bie ihre (Slieber überall Bjat, auch unter 
ben (ßriechen unb Bömern* Das ift bie evangelifche Kntmort 
auf ben Dormurf ber „^erfplitterung", unb bas ift bie Sprache ber 
Freiheit, bie uns gefchenft ift* — Herren mir nach biefett £y? 
furfen ( 3ur Darftellung ber mefentlichen <§üge bes Proteftantismus 
3urüdf/ 

2*- Der proteftantismus ift nicht nur Beformation, fonbcrtt 
auch Bevolution gemefen* Becfytlid} betrautet, burfte bas gan3e 
Kirchenmefen, gegen bas Cutter ficb auf lernte, vollen (Sehorfant 
beanfpruchen* <£s mar fo gut gültige Becfytsorbnung im Kbenb* 
Ianb 'mie bie (Sefeße bes Staats* KIs Cutter bie päpftliche Bann¬ 
bulle oerbrannte, voll3og er un3meifelB)aft einen revolutionären 
Kft — revolutionär nicht in bem fcfylimmen Sinn, in meinem es 
ficb um bie Auflehnung gegen eine Becfytsorbnung B^anbelt, bie 
3ugleich fittliche 0 rbnung ift, mohl aber im Sinne eines gemalt* 
famen Bruchs mit einem gegebenen Bechts3uftanbe* (Segen einen 
folcfyen manbte fich bie neue Bemegung, unb 3mar erftrecfte [leb ihr 
proteft in XDort unb O^at auf folgenbe fjauptpunfte* 

<£rftlich, fie proteftierte gegen bas gan3e B|ierarcbifcbe unb 
priefterliche Kirchenfyftem, verlangte, baß bas abgefchafft merben 
folle, unb fchaffte es ab 3U (Sunften bes allgemeinen prieftertums 
unb einer aus ber (Semeinbe ficb herausbilbenben 0 rbnung* IDelcbet^ 
Cragmcite biefe 5orberung h a *te unb unb mie febr fie in alle bisher 
beftebenben Derbältniffe eingriff, bas läßt ficb nicht in menigen 
Säßen fagen* Btan brauchte Stunben ba3u, um bas aus3uführen* 
Wie ficb bie 0 rbnungen thatfächlich in ben evangelifeben Kirchen 
nun geftaltet b^en, bas läßt ficb ebenfalls b^ r nicht barftellen* 
£5 ift auch nicht von prin3ipieller Bebeutung; von prin3ipieller 
Bebeutung aber ift, baß bas „göttliche" Kirchenrecht abge* 
than mürbe* 







174 


# 


Greifens, jj c proteftierte gegen alle formalen, äußeren 21 uto* 
ritäten in ber Religion, atfo gegen bie Autorität ber Konsilien, 
ber priefter unb ber ganjen' firchlid)en Crabition; nur bas foll 
Autorität fein, mas fteff innerlich als foldje barttjut unb befreienb 
mirft, alfo bie Sache felbft, bas <£r>angclium. So tjat Cutljer auch 
"gegen bie Autorität bes 23 ibelbud)ftabcns proteftiert; aber mir merben 
, noch feljen, baß tjier ein punft liegt, an melchem er unb bie üb* 
rigen Reformatoren - fid) bod( niefjt gan3 flar gemorben fmb, an 
bem fie baljer auch nicht bie Konfequenjen gejogen haben, meld)e 
iltre prinjipieüe <ginfid)t uerlangte. 

Drittens, fie proteftierte gegen bie ganje überlieferte Kultus« 
orbnung, gegen allen Ritualismüs unb jegliches „tjeilige Cljun". 
Da fie, mie mir gehört haben, feinen fpcjififctjen Kultus fennt 
unb bulbct, feine binglidjen ®pfcr unb Ceiftungen an (Sott, feine 
ITTeffe unb feine Werfe, bie für (Sott unb um ber Seligfeit mitten 
getljan merben, fo mußte ber gan3e überlieferte (Sottesbienft mit 
feinem prunf, feinen gan3 unb Ejalb heiligen Stücfen, feinen (Se* 
bärben unb pro 3 effionen fallen. Wie viel man aus äftljeti* 
fd^eu unb päbagogifdjcn (Srünben an formen beibeffalteu 
fönne, mar bem gegenüber eine gan, fefunbäre 5 rage. 

Viertens, fie proteftierte gegen ben Saframentarismus. Hur 
bie Caufc unb bas Kbenbmabt ließ fie als (Einrichtungen ber Kr* 
fi.rd?e bejm. als Stiftungen bes Eferrn befteben, aber fie möttte fie 
geachtet miffen, fei es als Symbole unb christliche (Erfeiinuitgsjcichen, 
fei cs als ßanblungen, bie ihren Wert ausfchließlid) an bem Wort 
ber Sünbetmergebung haben, bas mit ihnen verbunben ift. 21 Ile 
übrigen Saframente fdjaffte fie ab unb mit ihnen bie gan5e Dor* 
ftettung, als fei (Sottes (Snabe unb Ejülfe in Stücfen sugänglidj unb fei 
in geheimnisvoller Weife t»erfd)mol3en mit beftimmten förperlichen 
Dingen. Dem Saframentarismus feßte fie bas Wort entgegen unb 
ber Dorftellung, baß bie (Snabe ftücfmeife gegeben merbe, bie 
Überzeugung, baß es nur eine (Snabe gebe, nämlich (Sott felbft 
haben als ben gnäbigen. Hießt meil er fo aufgeflärt mar, bat 
Cuther in feiner Schrift „Don ber babylonifdfen (Sefangenfchgft" 
ben gan3en Saframentarismus vermorfen, — er hatte noch genug 
21 berglauben in fid), um höd)ft abfchrccfenbc Behauptungen auf* 
ftetten 3u fönnen —, fonbern meil er innerlich erfahren hatte, baß 
alle „(Snabe" Cäufcherei ift, bie ber Seele nicht ben lebenbigen 


175 


(Sott fclbft gicbt, Darum bebeutetc ihm biefc gau3e Saframcnts- 
lehre ein Zlttentat an bcr ZHajeftät (Sattes unb eine Knechtfd^aft 
ber Seelen zugleich* 

fünftens, fie protcftierte gegen bie hoppelte Sittlichkeit unb 
barnit gegen bie „höhere", gegen bie Behauptung, baß es (Satt 
befonbers wohlgefällig fei, bie in bcr Schöpfung gefegten Kräfte 
unb (Saben nicht 3U gebrauchen. Die Bcformatoren ballen ein 
ftarfes (Sefi*hl bafür, baß bie ZDelt mit ihrer Cuft pergeht; man 
barf ftd) Suther wahrlich nicht als ben mobernen ZUcnfchen por- 
[teilen, ber mit freubigem (Befühl unb ficher auf ber (Erbe ftanb; er hatte 
pielmehr, u>ie bie mittelalterlichen ZHenfchen, eine lebhafte Sehm 
fucht barnach, biefe ZDelt los 3U werben unb aus bem „ 3 ammcr- 
thal" absufcheiben, Zlber u>eil er bapon iiber3eugt mar, baß man 
(Sott nichts bieten forme unb biirfe als Dertrauen, fo kam er in 
Be3ug auf bie XDeltftellung bes Chriften 31t gan3 anberen Chefen 
als bie ernften ZHönche ber pergangenen 3 ahrhunberte, Da haften 
unb Zlskefe (Sott gegenüber ohne XDert finb, ba fie auch ben ZHit- 
ntenfehen nichts nüßen, unb ba (Sott ber Schöpfer aller Dinge ift,. 
fo ift es am geratenden, an ber Stelle $u bleiben, ba (Sott einen 
hingeftellt hat* Don hier aus bat Cuther hoch eine 5 reubigkeit 
unb «guperficht 5U ben irbifchen (Drbnungen gewonnen, bie im 
Kontraft fteht 511 feiner meltflüchtigen Stimmung ' unb fie wirklich 
überwunben hat (Er [teilte ben entfeheibenben Saß auf, baß alle 
Stäube — 0 brigfeit, (Eheftanb ufw, bis herab 3U ben Knechten unb 
ZHägbcn — gottgewollte unb beshalb wahrhaft geiftliche Stänbe feien, 
in benen man (Sott bienen folle: eine treue ZHagb fteht h^>h er als 
ein fontentplierenber ZlTönch- ZTicht mit pielen Künften follen bie 
dhriflen eigene IDege fuchen, fonbern (Sebulb unb ZZächftenliebe 
beweifen innerhalb bes gegebenen Berufs, Don hier aus erwuchs 
ibm bie Dorfteilung pon bem felbftänbigen Blecht aller weltlichen 
©rbnungen unb (Sebiete: fie finb nicht blos 3U bulben unb em¬ 
pfangen erft bon ber Kirche eine Zlrt pon Hecht ber d^iften3 — 
nein, fie haben ihr eigenes Hecht unb finb bas große (Sebiet, auf 
benen ber dhnft feinen (Stauben unb feine Siebe 5U bewähren 
hat; ja fie finb felbft bort 3U reflektieren, wo (Sottes ©ffenbarung, 
im dpangeliunt noch <jan3 unbekannt geblieben ift. 

So h<*l berfelbe ZHann, ber feinem perfönlichen (Empfinben 
nach nichts pon ber ZDelt perlangte unb in beffen Seele nur bie 
Sorge um bas (Ewige lebte, bie ZHenfchheit pon bem Banne ber 





SSä ft-*>»• «« 

in Be 3 u g auf We Wdt u i J? f Unbefangenst jurucPgegeben 
'Arbeit ViefeZctoto . f? S <Bem K en Bci «Her irWfd,«, 

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fyat, 6 a§ fie W ar aflf>^ fr 4,s - ^ ° Crn ^ Un ^ f° ** c f genommen 

«*» bVdtZ f oml ^ nngCn ' abCr Wt *>" «“«" 


1 




Borfefimg. 


(£5 ift oftmals, bie 5 rage aufgeworfen worben, ob unb in 
weldjem 2 Ttaße bie Heformation ein XDerf bes beutfdjen (ßeiftes 
gewefen ifi 3 d? uermag fyer auf biefes fompli^ierte Problem nidjt 
einjuge^en; fotnel aber fdjeint mir gewiß, baß 3war £utfyer’s entfeßei* 
benbes religiöfes Erlebnis mit feiner Nationalität nidjt 3ufammen= 
3uftellen ift, baß aber bie folgen, bie er ifym gegeben Bjat, fomofyl 
bie pofitiuen als bie negativen, ben beutfcfyen Zfiann 3eigett — 
ben beutfdjen UTann unb bie beutfdje(Sefd}idite* Don bem 
Momente an, in welchem ftd? bie Deutfdjen in ber iBjnen über* 
lieferten Heligion wirflid? fyeimifdj 3U machen uerfudjten — erft 
t>ont 3<*fyrfyunbert an ift bas gefcfyefyen —, Bjaben fie audj bie 
Heformation uorbereitet, Unb wie man bas morgenlänbifdje 
(Efyriftentum mit Hedjt bas griedjifcfye, bas mittelplterlidj*abenb* 
länbifcfye bas römifcfye nennt, fo barf man aud? bas reformatorifdje 
als bas germanifc^e be3eid]nen, troß Catpin, benn er ift Cutfyer’s 
Scfyüler gewefen, unb er fyat nidjt unter ben Homanen, fonbern 
unter ben Cnglänbern, Schotten unb Nieberlänbern am nadjfyal* 
tigften gewirft Die Deutfcfyen be3eicfynen burefy bie Heformation 
eine Stufe in ber allgemeinen Kirdjengefcfyidjte; pon ben Slaoen 
läßt ftdj Üfyaticfyes ntcfyt behaupten. 

Die UbfeB^r pon ber UsBefe, bie ben Deutfdfen niemals ein 
fo burdjfcfylagenbes 3& ß ät gewefen ift wie ben anberen Dölfern, 
unb ber proteft gegen bie Heligion als äußere Autorität ftnb fo* 
woy aus bem paulinifcfyen Cpangelium als auefy aus bem beutfcfyen 
( 5 eifte 3u erflären* Uudj bie XDärme unb Eje^lidjfeit in ber 
prebigt unb ber Freimut in ber polemifdjen Uusfpradje Bjat bie 

£?arttaff, Wcfen b. (Etjrifientums. 22 







178 


beutfcfye Nation an 
Seele empfunbem 


Cutter tote eine (Erfcfyliejgung ifyrer eigenen 


a»tr haben m ber lc|ten Porlcfung bie pauptgebiete berührt 
u , Ö£nen CutJ ! er eincn «achbriicflichen unb fortmirfenben proteft 
erhoben £?at. Jd} tonnte nodj manches hin 3 ufiigen, fo ben ©Aber* 
fprudj, ben er, namentlich am Anfang feiner reformatorifdjen XPirf= 
f amfett, gegen bie gan 3 e bogmatifchc ©erminologie, ihre 5 ormeIn 
unb £ebrausbrücFe, gerichtet bat. Altes in allem - er bat protc* 
ftiert, metl er bie cf?rtftlicbe Religion in ihrer Heinbeit 3 urücffiihren 
mollte, ohne prtefter unb ©pfer, ohne äußere Autoritäten unb 
©efeße, ohne hedtge Zeremonien, ohne alle bie Ketten, mit benen 
bas Jenfetts an bas ©iesfeits gebunben fein follte. Bei biefer 
Hemfion ift bie Deformation 3 urücfgegangen, nicht nur hinter bas 
elfte Jabrbunbert, auch nicht nur hinter bas eierte ober jmeitc 
fonbern bis auf bie Anfänge ber Hetigion felbft. Ja jte bat, ohne 
es 3 u ahnen, fogar formen mobifeiert ober befeitigt, bie fdjon im 
apoftoltfdjen Zeitalter beftanben haben, fo in ber ©is 3 iplin bas 
Saften, in ber Perfaffung bie Pifchöfe unb ©iafonen, in ber £et?re 
ben dfyiliasmus in a. 


JPtc ftellt fleh nun aber bei biefer Kmbilbung burch Dcfor= 
mahon unb Heeolution bie neue Schöpfung als gan 3 e in ihrem 
Perhältms junt ©oangelium bar? Alan barf fagen, baß in ben 
mer fjauptpunften, bie mir in ber porigen Porlefung herporgehoben 
haben, bas ©pangelium mirflidi mieber erreicht ift — in ber 3 nner» 
hehfeit unb ©eiftigfeit, in bem ©runbgebanfen pon bem gnäbigen 
©ott, m bem ©ottesbienft im (Seift unb in ber Wahrheit, unb in 
ber Porftellung oon ber Kirche als ber ©emeinfehaft bes ©laubens. 
Braudje idj bas im einzelnen nach 3 utpcifen, ober follen mir uns 
m bic.fer ilber 3 eugung irre machen taffen, meil hoch ein ©hnft im 
fech 3 ehnten unb neun 3 ehnten Zaphunbert anbers ausfieht als im 
erften? ©aß bie Znnerlichfeit unb ber 3 nbioibuaIismus, mefche bie 
Deformation entbunben Bjat, ber (Eigenart * bes (Evangeliums ent-- 
fprechen, ift gemiß. 5 crner, £uther’s Perfünbigung ber Hechtfertü 
gung gtebt nicht nur ben ©ebanfen bes paulus, mögen immerhin 
Anterfdpebe btftchen, in ber bfauptfadje mieber, fonbefen trip aud} 
m bem Ziele genau mit ber prebigt 3 efu 3 ufammen. ©ott als 
ben Pater miffen, einen gnäbigen ©ott haben, jtdj feiner Por* 





179 


felptng unb ©nabe getroffen, bie Dergebung bcr Sünben glauben — 
bas ift bort unb liier bas ©ntfchcibcnbc. Unb noch in ber trüben 
Seit bcr lutiierifcben ©rtboborie bat ein paul ©erljarbt biefe 

euangelifche ©runbüber 3 eugung in feinen Ciebern _ „ 3 ft <ß 0 tt 

für mich, fo trete gleich alles miber mich", „Befiehl" bu beine 
iüege" u. a. — fo herrlich aus 3 ubriicfen r>ermod]t, baß man er» 
fennt, mie fidjer fte ben proteftantismus burdjbrungen hat. Weiter 
b a B öer rcc ^ tc ©ottesbienft nichts anberes fein barf, als bie Üncr» 
fennung ©ottes im Cob unb im ©ebet, baß aber aud? ber ©ienft 
am Uädjften ©ottesbienft ift, ift bireft bem ©oangelium unb ben 
ihm cntfpredjenben Knmeifungen bes Paulus entnommen, ©üblich 
baff bie mähre Kirche burdj ben heiligen ©eift unb ben ©tauben 
oufammengehalten roirb, baß fte eine geiftige ©emeinfehaft non 
orüberu unb Schmeftern ift — biefe Überzeugung liegt auf ber 
£tme bes ©uangeliums unb ift non paulus mit aller Klarheit aus» 
gebrochen morben. Sofern bie Deformation bies aUes mieberher» 
geftellt unb auch ©hdftus als ben einzigen ©rlöfer anerfannt hat 
barf fte im ftrengften 5 inn bes Worts euangelifch genannt merben' 
unb fofern biefe Überzeugungen troß aller Derfümmerungen unb 
Belaftungen in ben proteftantifchen Kirchen noch immer bie leitenben 
finb, bürfen fic fich mit allem 5 uge als euangelifdje bezeichnen. 

7 lber bas, mas hier erreicht morben ift, hat aud; feine Schatten. 
Wenn mir fragen, mas uns bie Deformation gefoftet unb in 
melchem Diaße fie ihre Prinzipien burdjgcfeßt hat, treten fte uns 
oeutlid) entgegen. 

Umfonft erhält man nichts iit ber ©efd)id)te, unb eine ge» 
maltfame Bewegung muß hoppelt bezahlt werben — was hat uns 
bie Deformation gefoftet? 3 d] will nicht bauon reben, baß bie 
©inheit bcr abenblänbifdjen Kultur, ba ftd? bie Deformation bod? 
nur in einem ©eile Wefteuropa’s burchgefeßt hat, zerftört worben 
tft; benn bie DTannigfaltigfeit unb Freiheit ber nun folgenben ©nt« 
tmcflung hat uns größeren ©ewinn gebracht. Uber bie Dotwenbig. 
fett, bte neuen Kirchen als Staatsfirchen 3 u etablieren, hat 
fchmere Nachteile 3 ur .folge gehabt, freilich, bas Kirchenftaatstum 
ift fd](immcr,. unb feine Anhänger haben wahrlich feinen ©runb, 

es gegenüber ben Staatsfirdjen 3 u rühmen. «Kllein biefe _ fte 

tinb nicht nur eine .folge bes Bruchs mit ber fird)lichen ©brigfeit, 
fonbern haben fid) bereits im f 5 . 3 ahrhunbert uorbereitet — haben 

12 * 








180 


t>od? Dcrfümnterungen beraufgefütirt Sic liabcn bas (Sefühl ber 
Derantwortlidjfeit unb bie Hftiuität ber ecangelifchen <5e= 
meinben gefchwädjt urtb baju ben nid't unbegrünbeten 2lrgwobn 
gewecft, baß bie Kirche eine Hnftalt bes Staates fei unb fich nach 

3 U richten habe. 3 n ben lebten 'U’d'dö'-'bnten ift wo bl manches 
gefdjehen, um burcfj größere Selbftänbigfeit ber Kirchen jenem 2lrg* 
u>oI;n 3U fteuern, aber weitere 5 ortfchritte in biefer Hidjtung ftnb 
notwenbig, namentlich in De3ug auf bie Freiheit ber einjelnen (Se* 
meinben. (Sewaltfam foll bas Danb mit bem Staate nietjt burch* 
fdjnitten werben; benn bie Kirchen nerbanfen Uftn auch manches 
<ßute; aber bie <£ntwicflung, in bie wir getreten ftnb, muß beför* 
bert werben. Dabei ift bie HTannigfaltigfeit ber .firchlichen 23 il= 
bungen fein Schabe; fie erinnert uielmehr in fräftiger Weife baran, 
haß alle biefe formen arbiträr ftnb. 

IDeiter, ber proteftantismus hat im (Segenfaß jum Katfjoli- 
3ismus bie 3 nnerlichfeit ber Heligion unb bas „sola fide“ aus* 
fchließlidf betonen muffen; aber eine £ehre in fdjarfem (Segenfaß 
3U einer anberen 3U formulieren, ift immer gefährlich. Der „ge* 
meine Wann" Ejörte es nicht ungern, baß „gute Werfe" unnötig, 
ja feelengefährlich feien. Cutter ift für bas bequeme Hlißuerftänb* 
nis, bas fich baran anfehloß, nicht uerantwortlich; aber uon Anfang 
an mußte in ben beutfeßen Heformationsfirchen über fittliche £ar* 
fyeit unb mangelnbett < 2 rnft in ber fjeiligung geflagt werben. Das 
Wort: „Ciebet ifjr titidj, fo haltet meine (Sebote" trat ungebüfirlidj 
Surücf. <2rft ber Pietismus f;at wieber feine jentralc Bebeutung 
erfannt. Dis bäfjin war im (Segenfaß 3U ber fatbolifeßen „Werf* 
geredjtigfeit" ber penbel ber £ebensfüf;rung bebenflidj auf bie ent* 
gegengefeßte Seite fjinübergefdjwenft. 2 tber bie Heligion ift nicht 
nur (Seftnnung, fonbern (Sefittnung unb Cf;at, (Slaube, ber in ber 
fjeiligung unb in ber £iebc tfyätig ift: bas müffen bie eoangelifdiett 
Cfjriften noch uiel fidjerer lernen, um nicht befdjämt 31t werben. 

Hodj etwas anberes bängt mit bem eben Husgefprodjenen eng 
3ufammen. Die Heformation Ijat bas HTönchtum abgethan unb 
abtfjun müffen. HTit Hecht fjat fie es für eine Dermeffenfjeit erflärt, 
fid) burd] ein für bas gan3e £eben abgelegtes (Selübbe 3ur Hsfefe 
3U uerpflid)ten; mit Hecht Etat fie jeben weltlichen Beruf, gewiffen* 
haft uor ben Hugen (Sottes geführt, bem Hlönchsftanbc gleich, ja 
überlegen erachtet. Hber es trat nun etwas ein, was £uther fo 
nicht oorqusgefeben unb gewollt hat — bas „HTönchtum", wie es 


181 


eoangelifd] bentbar unb notmenbig ift, t>erf d]wanb überhaupt (Eine 
jebe (genteinfehaft aber brauet perfönlid]teiten, btc ausfd]Iießlid] 
tf^rern «gweefe leben; fo brandet aud] bie Kirche freiwillige, bie 
jeben anberen Beruf fahren laffen, auf bte ^ 2 X>elt" ne^ichten unb 
fid] gan3 bent Dienft bes Bächften wibmen, nicht u>eil biefer Beruf 
ein „böserer" ift, fonbent weil er notwenbig ift, unb weil aus einer 
lebenbigen Kirche aud] biefer Antrieb h cn? orgel]en mu^ Er ift 
aber in' ben et>angelifd]en Kirchen gehemmt worben burd] bie beci* 
bierte Haltung, bie fie gegen ben Katholizismus einnehmen mußten» 
Das ift ein teurer preis, ben mir ge3at]lt haben; bie (Erwägung, 
mieuiel fd]Iid]te unb ungefärbte frömmigteit bagegen in ^aus unb 
Familie ent3Ünbet worben ift, fann ihm nichts ab3iehen! Kber wir 
biirfen uns freuen, baß in unfernt 3 a h r h uri öert ein Knfang ge* 
ntad]t worben ift, ben Perluft wieber ein3ubringen. 3 a Öen Dia* 
foniffen unb manchen uerwanbten- Erfcheinungen erhalten bie 
er>angelifd]en Kirchen bas 3urücf / was fie cinft von fid] geftoßen 
haben, weil fie es in feiner bamaligen (geftalt nicht an3uerfennen 
r>ertnod]ten» Kber es muß fid] noch aiel reicher unb mannigfaltiger 
ausgeftalten! 

2» Die Beformation hat nicht nur einen h°h^ u preis 3at)len 
tnüffen, fie hat aud] nid]t uermod]t, ihre neuen Ertenntniffe in allen 
Konfequen3en 3U überfd]auert unb rein burd]3ufü£]ren. Bidjt bauon 
ift bie Bebe, baß fie nicht überall fd]Ied]thin (gültiges unb Blei* 
benbes gefdjaffen hat — wie wäre bas möglich, unb wer tonnte 
bas münfehen! Bein, ihre Kusgeftaltung ift aud] bort rücfftänbig 
geblieben, wo man nad] bem erften, grunblegenben Knfang Roheres 
erwarten burfte» Perfd]iebene Urfachen haben hier 3ufammengewirtt» 
bjals über Kopf mußten feit bem 3 ahre {526 euangeüfche Canbes* 
firchen gegrünbet werben; fie mußten abgefchloffen unb „fertig" 
fein, als nod] fo uieles im fluffe war» Da3U tarn, baß bas mi߬ 
trauen nad] Iinfs, nad] Seite ber „Sd]warmgeifter", fie beftimmte, 
Bichtungen, mit benen fie nod] ein gutes Siücf IPegs hätte 3U* 
fammengehen tonnen, energifd] 3U betämpfen» Daß Cuther uon 
ihnen fd](ed]terbings nid]ts lernen wollte, ja baß er gegen feine 
eigenen Ertenntniffe, wenn fie mit benen ber „ Sd]warmgeifter" 
3ufammentrafen, argwöbnifd] würbe, hat fid] bitter gerächt unb 
würbe ben er>angelifd]en Kirchen in ber Kuftlärungsepod]e heint* 
ge3at]It- Blan muß nod] mehr fagen auf bie <gefaf]r l\in, 3U ben 
Pcrtleinerern Cuther's gerechnet 3U werben: biefer (genius hatte 






182 


eine Kräftigfeit bes (Slaubens tote paulus unb burd; fie- eine utt= 
geheure RTad)t über bie (Semüter, aber auf ber liebe ber <£rfettnt« 
niffe, tnte fie fchon in feiner Seit sugänglid} maren, bat er nicht 
geftanben. <£s mar fein nahes Seitalter mehr, fonbern eilt tief 
bemegtes unb fortgefchrittenes, in melcbent bie Religion barauf 
angemiefen mar, 5übtung mit allen geifligen RTächten 3U nehmen. 
3 n biefem Seitaltcr fiel es ifjm 3U, nicht nur Reformator,. fonbern 
auch geiftiger 5üf)rer unb £ef;rer fein 3U müffen: .bie R?elt = 
anfdjauung unb bas (ßefdjichtsbilb fjat er neu für (Setter a> 
tionen entmerfen miiffen; beim es mar feiner ba, ber ilim half, 
unb man mollte niemanben börett als ihn. <£r Aber [tat nid;t' 
mit allen 1jelten <2rfenntniffen im Runbe geftanben. (gnblidj, er 
sollte überall auf bas Rrfprünglidje, auf bas «uangefium felbft 
3urüdgel;en, unb fomeit bas burdj 3ntuition unb innere €rfal?rung 
möglich war, hat er es geleiftet; ba3u, er hat auch treffliche ae= 
fdjidjtliche Stubien gemacht unb ift fkgreich an nieten Stellen burch 
bie Schlachtlinie ber überlieferten Dogmen hinburchgebrungen. Kber 
eine gefieberte Kenntnis ihrer (Sefchichte mar bamals noch eine 
Hnmöglichfeit, unb nodi unerreichbarer mar eine gefchichtlidje <£r* 
fenntnis bes Reuen Ceftaments unb bes Rrchriftentums. Rernum 
berungsmürbig ift es, mie Cuther tro^bem fo nieles burd)fd)aut unb 
richtig gemertet hat. Klan lefe nur feine üorreben 5U ben neu= 
teftamentlidjen Rüdjern ober feine Schrift „Don Kirchen unb 
Conciliis". Kber 3ahllofe Probleme hat er gar nicht erfaitnt, 
gefdjmeige löfen fönnen, unb mar baher unnermögenb, Kent unb 
Schale, Urfprüngliches unb ^rernbes -3u unterfcheibcn. f K)ie fattn 
man fid) baher munbern, baff bie Reformation als £ehrc unb 
(Sefchichtsbetrachtung noch etmas gans Unfertiges gemefen ift, 
unb baff, mo fie feine Probleme fafj, Dermirrungcn in ihren eigenen 
(Sebanfen entftehen mußten? Rid)t mie patlas Kthene fonntc fie 
fertig aus bem fjaupte bes 3upiter entfpringen — als £ebre ner= 
mochte fie nur einen Kn fang 3U be3eichnen unb muffte auf 2Deitcr= 
führung redmen. Kber inbem fte fich rafch 3U feften £anbesfirchen 
formierte, mar fte nahe baran, fid? felbft ihre meitere fintmicflung 
für immer ab3ufd)neiben. 

' 3 n Rejug auf bie Dermimmgett unb bie Hemmungen, bie fte 
fich felbft auf erlegte, muff es genügen, auf einige ffauptpunfte 3U 
uermeifen. €r ft lieh, Cuther mollte nur bas <£t>angeliunt gelten 
laffen, nur bas, mas mirflich bie (Semiffen befreit unb biitbct, mas 




183 


cm jeber uerftef;en famt, au* ber Knecht unb bie Ulagb Uber 
tann na^tn er to* ni*t nur bie alten Dogmen non ber Crinität 
unb ben jmet Naturen in bas ©Dangelium hinein — er mar au* 
außer ftanbe, fie gef*i*tli* 3 u prüfen — unb bilbete fogar neue, 
fonbern er oermo*tc überhaupt ni*t ft*er 3 mif*en „Cctire" u'nb 

€ .T, 9 e r tmm 3U fd,eiöcn ' in öie f em Purifte coeit Ejinter paulu= m- 
rudbfe.benb. Die nptmenbige folge mar, baß ber Jntetleftuatismus 
tnd)t ubermunben mnrbe, baß ft* aufs neue eine fcfyolaftifcfyc CeBrc 
afs betlsnotmenbig bilbete, unb baß mieberum 3 mei Klaffen 
unter &<m <Cfjriften entftanben - fot*e, met*e bie Doftrin ocr* 

fielen, unb foldje, met*e an bas Derftänbnis jener gebunben unb 
oal^er nnmunbtg flnb. 

. .f tI>ci s te '_’ 5 ' £ u«)er mar übcr 3 eugt, baß „U)ort ©ottes" nur 
„ K>OÖUrd? öer innerli* neu gef*affen mirb — bie 

Derfunbtgung ber freien ©nabe ©ottes in ©fciftus. Kuf ben 
fjoijcpunttcn feines Gebens mar er frei von jegli*er Kne*tf*aft 
bes Budjftabens, unb mie uermo*te er 3 u unterf*eiben 3 mif*en 
efeß unb ©oangeltum, 3 mtf*cn KItem unb feuern Ceftament ja 

Derm °4? te er * m ^nCeftament felbft 3 u unterf*eiben! '(Er 
oüte m*ts anberes als bie £fauptfa*e gelten laffen, bie aus 
tiefen Sudlern beroorteu*tct unb *re Kraft an ben Seelen be* 
ma^rt Uber er Jat ni*t reinen Cif* gema*t. «Er forberte bo* 
faßen, mo tfjm ein Su*|tabc mi*tig gemorben mar, Unter. 
ÜTxJ? mder bas: „(Es fte^t gef*rieben"; er forberte fie peretm 
Ptortf*, otine ft* 3 u erinnern, baß er felbft anbereit Sprü*en ber 

erFtota t r em ^ 3Cfd?debcn " f ür unncrbinblid, 

^ ^ Cn S ' ® naöc 5 ünbenoergebung unb barum bie 

(Scmiß^eit bes gnäbigen ©ottes, £eben unb Seligfeit: mie oft f,at 

baf m « ? 0 t Unb ftets ^gefügt, baß bas W o r t babei 

öas U)trffamc tft — ber < 3 ufammenf*fuß ber Seele mit ©ott in 
Vertrauen unb ftnbli*er €£>rfur*t, am iüorte ©ottes gemonnen- 
um ein pcrfönli*es Uerf,ältnis B,anbelt es ft*. Uber berfelbe’ 
JUann B,at ft* bie peinti*ftcn Streitigfeiten uerftricFen laffen 
über bte ©naben m 1 11 e I, über bas Kbcnbmatjl unb bie Kinber= 

hoben » Ka « P C ' "1 eV in (5cfa£ ^ 1 ' fomobl fei„ cn 

DOn <5lWÖe • tt ” CÖCr 9Cgen ben fa*ofif*en cin 3 m 

tauf*en, als bte grunblegcnbc ©infi*t ein 3 ubüßen, baß es ft* um 
c mas rein ©eifttges fianbelt unb baß neben iüort unb ©taube 





184 


aHes andere gleichgültig ift. Die ffinterlaffenfchaft, die er hier 
feiner Kirche 3 urücFgelaffen hat, ift ein ocrbängnisPoEes <£rbc ge« 
roorbert! 

Diertens, die ©egenfirche, die fich rafch gegenüber der 
römifchett und unter ihrem Drucf bilden mufte, erfannte nicht ohne 
©rund ihre IDabrbeit und ihr Hecht in der XDiedcraufrichtung des 
©pangeliums. 2lber indem fie diefes unter der bfand mit dem 
gefamten 3 «halt ihrer Cehre identifaiertc, fchlich fich ebenfaEs unter 
der fjand der ©edanfe ein: IDir, d. b. die partifularfirchen, die 
nun entftanden mären, find die mafre Kirche. Cuther felbft 
hat freilich nie pergeffen fönnen, daß die roabre Kirche die heilige 
©emeinde der ©laubigen fei, aber in Unflarbeiten darüber, mic 
fich 3 a ihr die fichtbare neue Kirche perhalte, die nun entftanden 
mar, geriet er doch, und in der ^olgcjeit bürgerte fich bas fdjlimme 
HTigperftändnis immer mehr ein: JDir find die mahre Kirche, meil 
mir die rechte „Cehre" haben. Don hier aus ift, neben 
den böfen folgen der Selbftuerblendung und 3ntoleran3, auch jene 
fchlintnte llnterfcheidung pon Theologen und paftoren einerfeits und 
Caien andererfeits, über die mir bereits gefprodjen haben, noch 
meiter nerftärft morden. Hid]t in der Dbeorie, mohl aber in der 
präzis bildete ftcfj miedet, mie im Katholizismus, ein doppeltes 
Cbriftentum aus, und trog der Knftrengungen, die der pietismus 
dagegen gemacht hat, ift es bis heute nicht übermunden: der Cbeo= 
löge und paftor mu§ die ganje Cehre pertreten, muff o r f h 0 = 
doj: fein; für den Caien genügt es, dag er einige ffauptftücfe feft? 
hält und die ©rthodofie nicht angreift. Hoch jüngft ift mir erzählt 
morden, ein fehr bekannter lllann habe über einen unbequemen 
©heologen geäußert, er münfehe, derfelbe möge in die pbüofopbifche 
5afultät übergehen, „dann hätten mir ftatt eines ungläubigen ©beo= 
logen einen gläubigen philofophen". Das ift gan3 fonfequent ge« 
dacht »on dem 5 tandpunft aus, dag die Cehre auch in den eoan« 
gelifchen Kirchen etmas ein für aEemal 5 eftgelegtes und trog ihrer 
aEgemeinen Derbindlichfeit etmas fo Schmeres ift, dag ihre Der« 
tretung den Caien gar nicht 3ugemutet 3U merden braucht. Kber 
auf diefem IDege, und menn die andern Dermirrungen fid) auch 
noch fteigern oder perfeftigen, droht der proteftantismus 3U einer 
fümmerlichen Doublette des Katholi3ismus 5U merden. Kümmerlich 
nenne ich fie; denn 3meierlei mird er dod? nicht erreichen tonnen, 
nämlich den papft und den Hiöndispriefter. Die unbedingte Kuto« 



185 


ritcit, toeId)c ber Katboli! an bcnt Papfte befiel, oermag roeber ber 
Dibelbudtftabe nod? bas in Symbolen gefaßte Defenntnis 3U fcfyaffen, 
nnb bis 3um DTöncfyspriefter farm ber proteftantismus nicfyt meBjr 
5urücffd)reitem <£r behält fein Lanbesfircfyentum unb feine oerBjei* 
rateten (Seiftlicfyen; beibes nimmt fid? neben bem Katfyol^ismu's nidtf 
feB^r ftattlicb aus, roenn bie eoangelifcfyen Kirchen fyier mit ifym 
rioaliftefen rooBIem 

2 Tteine Herren! Der proteftantismus ift, (Sott fei Danf, nodj 
nid?t fo fdjlimm baran, baß bie ItnooBIfommenBjeiten unb Derroir= 
rurtgen, in benen er begonnen Bjat, bie 0 berfyanb geroonnen unb 
fein cigentlicB]es XDefen gän3lidi üerfümmert ober erftidt Bitten. 
2Bud) biejenigen unter uns, toeId}e baoon über3eugt ftnb, ba§ 
bie Deformation bes 3 äB>rfyunberts etroas Abgefcfyloffenes unb 
fertiges ift, tooBIen bod? bie entfdjeibenben (Srunbgebanfen ber 
Deformation feinestoegs preisgeben, unb es giebt ein großes 
5elb, auf roeBdjem alle ernften eoangelifcfyen Cfyriften einmütig 3m 
fammenfteBjen. Aber roenn 3 ^ne es nidrt ein3ufeB>en oermögen, bafj 
bie 5 ortfe^ung ber Deformation im Sinne bes reinen Derftanbes 
bes XDortes (Sottes eine Lebensfrage für ben proteftantismus ift — 
biefe 5 ort|e^ung B]at bereits in ber eoangelifcfyen Union reiche 
5 rüd?te getragen —, fo mögen fie roenigftens ber 5 reiB^eit Daum 
geben, bie Luther in feinen beften Cagen oertreten Bjat: „Dian Baffe 
bie (Seifter aufeinanber plaßen unb treffen; roerben etliche inbes 
ocrfiiBrret, moBjIan, fo gefyts nad] rechtem Kriegsbraud}; roo ein 
Streit unb Sdilad^t ift, ba müffen etliche fallen unb rounb roerben; 
10er aber. reblid) ftd?t, roirb gefrönet roerben/' 

Die Katfyolifierung ber eoangelifdjcn Kircfyen — id? meine 
nid|t, baß fie päpjilidj, fonbern baß fie (Sefe&es», Lebr* unb <§ere* 
monienfird)en roerben — ift besBjalb eine fo brennenbe (Sefafyr, 
roeil brei geroaltige DTäd]te mitarbeiten, biefen (SntroicfIungspro3e§ 
5U beförbern. Da ift erftens bie 3nbifferen3 ber 2 Haffcrt. » 
3nbifferen3 fcfyiebt bie ^Deligion auf bie Linie, auf roelcfyer bie 
Autorität unb bas bjerfommen, aber audj ber Priefter, bie £jierard)ie 
unb ber geremonienfultus jteBjen. Dorthin fdjiebt fie bie Deligion, 
um ficb bann über iBjre Äußertidtfeit, iB?re Dücfftänbigfeit unb 
über bie „Anmaßungen" ber (Seiftlidjen 311 beflagen; ja fie fann 
rooB^B in einem unb bemfelben DToment jene Klagen unter Scfymä* 
jungen ergeben unb 3ugleidj oerädjtlidj jebe lebenbige Äußerung 
ber Deligion befpötteln unb jeber Zeremonie Bjulbigen. Diefe 3 m 

x 







186 


ftifferertä fyat für coangclifchcs (Efyriftentum gar fein Derftänbnis, 
fudjt es inftinftio 3U unterbrüden unb rühmt ihm gegenüber tuohl 
ben Katf?oÜ3tsmus* S seitens fommt I^ier in Betracht, was ich 
fcie „natürliche Heligion" nennen möchte: bie, treibe non furcht 
nnb Hoffnung leben, bie, roelche nor allem nach Autorität in ber 
Religion fuchen, bie, toelche bie eigene Derantmortlichfeit los fein 
motten unb eine Hüdoerficherung begehren, bie, melchc eine „Bci= 
gäbe" 3um Ceben, fei cs in feinen 5eierftunben, fei es in feinen 
fchümmften Böten fuchen, eine äfthetifche Derflärung ober eine 
afute f}ülfe, bis bie Seit h^f* — fte alle fchieben ebenfalls, ohne 
baß fte es tniffen, bie Heligion auf bie fatholifchc Cinie; fte motten 
„ctmas Heftes", fte motten ba3U noch feh r i>id anberes, Anregungen 
unb hülfen aller Art; aber enangelifches (Ehriftentum motten fie 
nicht; biefes aber mirb, wenn es folgen XDünfchen nachgiebt, 
fatho!ifd]es Christum. Die britte ZHacht nenne ich ungern, 
unb hoch barf fie nicht uerfchmiegen merben — es ift ber Staat. 
<£s ift ihm nicht 3U uerbenfen, ba§ er an ber Religion unb ben 
Kirchen t>or allem bas Konfernatiue unb bie Bcbenmirfungcn 
fchäßt, bie fie in Qinficht auf pietät, (Sehorfam unb ©rbnung 
leiftem (Eben beshalb aber übt er einen ©rud in biefer Bichtung 
aus, fchüfet alles Stabile in ben Kirchen unb fucht fte non feber 
inneren Bemegung ab3uhalten, melche ihre (Einheit unb ihren 
„öffentlichen Bußen" in 5 ^ctge ftellen fonnte; ja er h a * oft genug 
barnach getrachtet, bie Kirche ber polrjei nahe 3U rüden unb fte 
als ATittel für bie Aufrechterhaltung ber Staatsordnung 3U be* 
nußen. Alan fann bas entfchulbigen — ber Staat mag ocrfuchen, 
ATachtmittcl 3U nehmen, wo er fte finbet; aber bie Kirche barf 
(ich nicht 3U einem gefügigen tüerbjeug hergeben; benn neben 
allen ben nermüftenben 5 olgen, bie bas für ihren Beruf unb ihr 
Anfehen \\ai, mirb fie auch auf biefent Xücge 3U einer äußeren 
Anftalt/ in ber bie ©rbnung nichtiger ift als ber (Seift, bie 5 orm 
nichtiger als bie Sache, ber (öehorfgm mertootter als bie XDahrheit. 

©iefen brei fo uerfchiebenen A 1 äd]ten gegenüber gilt es ben 
<£rnft unb bie 5^eiheit bes eoangelifd^en CCf7riftcntums aufrecht 311 
erhalten. Die Ökologie allein oermag bas nicht; 5 ^ftigPcit bes 
ehriftlichen Choratters ift geforbert. Die coangelifchcn Kirchen 
merben rüdmärts gefchobcn, menn fte nicht ftanbhalten. Aus fo 
freien Schöpfungen, u>ie bie paulinifchen (Semeinben es mgren, ift 


187 


einft bie fatB^olifd^e Kirche entftanbcn — mer bürgt bafür, baß nicht 
auch bie Kirchen „fatholifch" merben, meldje an bcr „ 5 reiheit eines 
(EBjriftenmenfcfyen" ihren Urfprung gehabt traben? 

Kber bas Eoangelium mürbe beshalb nicht untergeben: bas 
be3eugt bie ( 5 efchichte, Es mürbe als ein roter im 3 nr *ern 

bes (5emebes immer noch 3u finben fein, unb es mürbe an i’rgenb 
einer Stelle aufs neue heroortreten unb ficb aus ben oerftriefenben 
Perfnüpfungen befreien, Kuch in ben äußerlich gefchmücften, inner* 
lid? oerfallenen Cempeln ber griedjifchen unb römifchen Kirche ift 
es nicht oerlöfcht, „Wage bicb oormärts! unten tief in einem 
^oemölbe mirft bu noch ben Elitär unb feine bexlxge, emig brennenbe 
£ampe finben!" Diefes Eoangelium h^ ficb mit bex Spefulation 
unb ber Kultusmyftif ber (Sriechen oerbunben unb ift in ihnen 
boeb nicht untergegangen; es ift mit bem römifchen IPeltreich oer* 
einigt morben unb hed ficb fogar in biefer Perfchmeljung erhalten, 
ja noch kie Beformation b^norgeben Iaffen! Seine bogmätifchen 
Cebren,,. feine Kultusorbnungen flohen gemechfelt, noch nie! mehr 

— es ift oon ber reinften (Einfalt unb oon ben tiefften Denfern 
ergriffen morben; es ift einem 5ran3isfus unb einem Item ton 
teuer gemefen, Es fyat ben XPanbel ber IPeltanfchauungcn über* 
bauert; es fyat (ßebanfen unb formen, bie eirtft heilig maren, ab-- 
geftreift mie ein (8emanb; es h<*t an hem gef amten 5ortfcbritt ber 
Kultur teilgenommen; es hed fid) 'oergeiftigt unb im £aufe ber 
(Sefchichte feine fittlichen (Brünbfäße fidlerer anjumenben gelernt, 
3 n feinem urfprünglichen Ernft unb Croft ift es 3U allen Seiten 
Eaufenben aufgegangen unb fyat in ihnen alle Beladungen abge* 
morfen unb glle Per3äunungen burchbrochen. Wenn mir ein Hecht 
batten 3U fagen, bas Eoangelium fei bie Erfenntnis unb Kn* 
erfennung (Sottes als bes Paters, bie (Bemißheit her Erlöfung, 
bie Demut unb 5 reube in (Sott, bie Chatfraft unb bie Brubcrliebc, 
menn es biefer Heligion mefentlich ift, baß ber Stifter nicht über 
feiner Botfdjaft, bie Botfchaft nicht über bem Stifter oergeffen mirb 

— fo 3eigt bie ©efchichte, baß bas mirflich in Kraft geblieben ift 
unb ficb immer mieber burchringt. 

Sie merben vielleicht oermißt heiben, baß ich auf unfere 
gegenmärtige Cage, nämlich auf bas Perhältnis bes Eoangeliums 
3U unferem gegenmärtigen geiftigen ^uftanb, unferer ganjen IPelt* 
erfenntnis unb IPcltaufgabe, nidjt eingegangen bin, Kber um 






188 


bics mit Erfolg in De3ug auf bie !on!rete Situation 3U thun, baju 
bebürfte es mehr Seit, als ein paar flüchtige Stunben; in 23 e 3 ug 
auf ben Kern ber Sache aber ift bas nötige gejagt; benn in 
ber (Sefcfyicfyte ber djriftlichen Deligion fyahen mir feit 
ber Deformation feine neue Stufe erlebt Ungeheure IDanb* 
lungen fyat unfere IVelterfenntnis erfahren — jebes 3ah r hunbert 
feit ber Deformation bebeutet einen 5ortfd}ritt, ben michtigften bie 
beiben lebten —, aber bie Kräfte unb prinjipien ber Deformation 
finb, religiös unb ctfyifd? betrachtet, nicht überholt unb abgelöft 
morben. XDir braunen fie nur rein 3U erfaffen unb mutig an3u* 
menben, fo feßen ihnen bie mobernen (Srfenntniffe feine neuen 
Schmierigfeiten entgegen. Die mir fliehen Schmierigf eiten, 
melche ber Deligion bes<£r>angeliums entgegen ftehen, finb 
immer bie alten. 3h ncn gegenüber vermögen mir nichts 3U „be= 
meifen"; benn unfere Demeife finb h^r nur Variationen unfrer 
Hber3eugungen. tVohl aber h a t fid) burch ben ( 5 ang, ben bie 
(Sefchichte genommen hut, ?in meites (ßebiet aufgethan, auf melchem 
fich ber chriftliche Druberfinn noch gan3 anbers bemähren muß, 
als er es in ben früheren 3ohrh u nberten erfannt unb vermocht 
hat — bas fo3iale. bjier liegt eine gemaltige Aufgabe, unb in 
bem UTaße, als mir fie erfüllen, merben mir bie tieffte 5rage, bie 
5 rage nach bem Sinn bes Cebens, freubiger beantmorten fönnen. 

Kleine Herren! Die Deligion, nämlich bie (Sottes* unb 
Dächftenliebe, ift es, bie bem Ceben einen Sinn giebt; bie IViffen* 
fchaft oermag bas nicht Daß ich einmal non meiner eigenen 
Erfahrung fpreche, als einer, ber fich breißig 3ahre um biefe 
Dinge ernßhaft bemüht h a t* ift eine h crr ü c h e Sache um bie 
reine XViffenfchaft, unb mehe bem, ber fie gering fdjäßt ober ben 
Sinn für bie (Srfenntnis in fich abftumpft! Uber auf bie fragen 
nach bem VQotyx, XVohin unb XV03U giebt fie heute fo menig eine 
Untmort mie nor 3mei= ober breitaufenb 3<*hrem XVohl belehrt 
fie uns über lEhutfächliches, beeft IViberfprüche auf, oerfettet <£r* 
fcheinungen unb berichtigt bie Cäufchungen unferer Sinne unb 
Vorftellungen. Uber mo unb mie bie Kuroe ber IVelt unb bie 
Kuroe unferes eigenen Cebens beginnt — jene Kuroe, oon ber 
fie uns nur ein Stücf 3eigt — unb mohin biefe Kuroe führt, bar* 
über belehrt uns bie XViffenfchaft nicht XVenn mir aber mit 
feftem XVillen bie Kräfte unb XVerte bejahen, bie auf ben flöhen* 


189 


punften nuferes inneren Sicbens als unfer b öd] ft es (gut, ja als 
unfer eigentliches Selbft aufftrahlen, wenn mir ben €rnft unb ben 
JTiut Baben, fie als bas IPirflicbe gelten 5U laffen unb nach ihnen 
bas £eben einsurichtcn, unb menn mir bann auf ben (gang 
ber <5efd)id)te ber ZHenfdiheit blicfen, ihre aufmärts fid) bemegcnbe 
<£ntmicflung »erfolgen unb ftrebenb unb bienenb bic (gcmeirtfdjaft 
ber (geifter in ihr auffuchen — fo merben mir rticbt in Überbrujj 
unb Kleinmut »erfüllen, fonbern mir merben (gottes gemifj merben, 
bes (gottes, ben 3 efus (Etjriftus feinen Pater genannt bat, utxb 
ber auch unfer Pater ift. 








Beftimmung unb Segrengung öer Aufgabe ........ ( 

I. Das (Evangelium. 6 

Äinleitenbes unb ©cfcbicbtlicbec' . . 6 

<■ Perfünbigung Jefu naef) ihren ©runbgügen ... 32 

Pas Keid; (Boties unb fein Kommen.3^ 

(Sott ber Pater unb ber uneublidjeWert ber OTenfdjenfeele 10 

Pie beffere (SeredjtigFeit unb bas (Sebot ber Siebe . . 45 

2. Pie Ibauptbegiebungeu bes «Evangeliums im ßingelnen . 50 

Pas (Evangelium unb bie Wett, ober bte .frage ber KsFefe 50 
Pas (Evangelium unb bie Krmut, ober bie fogiale frage 56 

Pas «Evangelium unb bas Kedjt, ober bte frage naefy 

ben irbtfdjett (Drbnungett.. 

Pas (Evangelium unb bie Arbeit, ober bie frage ber Kultur rq. 
Pas «Evangelium unb ber <Sottesfot)n, ober bie frage 

ber (Etfrifitologie .. 70> 

Pas (Evangelium unb bie £e!]re, ober bie frage nad; 
bent SeFenntnis. 92 

II. Das ßvangelium in 6er ©efc^te. 96 

Pie #rifHi(f»e Religion im apoftotifcfien Seitalter ... 96 

2. Pie $riftli$e Keligion in iftrer «Entmitflung gum &atf>oli= 

3 ismns. U9 

3. Pie $rifllic|>e Keligion im griecbiicl’cn Katpoligismus . (35 

4 - Pie 4 >riftli<$e Keligion im römiicfien Katttoligismus . . (53 

5. Pie 4 >riftli 4 )e Religion im Protestantismus.(er 





















.8. MAf 1983 
2 2. APR. 1981 

18. DEL «89 


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